Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Wiederentdeckung des dänischen Autors Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk"
Es ist ein schlichter, von hart arbeitenden Menschen bevölkerter Landstrich, den Johannes Vilhelm Jensen 1898 in seinem Band "Himmerlandsvolk" so präzise beschreibt, als müsse sich die Gesellschaft zum Ende des Jahrhunderts der Industrialisierung noch einmal der Dunkelheit vergewissern, aus der sie einst aufbrach.
Einige Jahre später wird Jensen selbst außerhalb Dänemarks bekannt sein, als Schöpfer des Romanzyklus "Die Lange Reise" zum Beispiel. Er wird den Literaturnobelpreis des Jahres 1944 erhalten. Und noch 1999 werden Leser zweier Tageszeitungen den 1901 veröffentlichten Historienroman "Des Königs Fall" zum besten dänischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts wählen.
1898 aber, als "Himmerlandsvolk" erscheint, hat der Name des Tierarztsohnes Johannes Vilhelm Jensen, der aus Farsø in Himmerland stammt und eigentlich zum Medizinstudium nach Kopenhagen gekommen ist, trotz etlicher Feuilleton-Romane unter dem Pseudonym "Ivar Lykke" und zweier Bücher unter eigenem Namen noch kein Gewicht.
Das ändert sich mit diesen Erzählungen aus Nordjütland, den ersten von vielen, die Jensen später noch über das bäuerliche Leben im Himmerland seiner Kindheit vorlegte, und es ist ein Geschenk, dass der auf literarische Ausgrabungen spezialisierte Verlag Guggolz, der auch andere Meilensteine der nordischen Literatur im Programm hat wie den "Professor Hieronimus" der Norwegerin Amalie Skram oder "Jung entschlafen" des finnischen Nobelpreisträgers Frans Eemil Sillanpää, sich ihrer erinnert hat.
Selbst an ein Nachwort wurde gedacht. Es stammt von Carsten Jensen ("Wir Ertrunkenen"), der die Werke seines Namensvetters Johannes Vilhelm Jensen als Kind in Aalborg verschlang, Jensen als Schriftsteller des volkstümlichen Durchbruchs verortet und auch dessen rassistische Ansichten erwähnt, die ihn glücklicherweise nicht zu einem dänischen Hamsun werden ließen.
Hier wäre es ein Leichtes gewesen, ebenfalls einen Hinweis auf den Volksstamm der Kimbern einzustreuen, die einst in Himmerland unweit des Limfjordes gelebt haben sollen, bis sie römischen Truppen bei ihrem Zug durch Europa das Leben erschwerten. Die Gegend, von der "Himmerlandsvolk" erzählt, war aus der Warte Jensens nicht irgendein dänischer Fleck.
Aber die entscheidenden Themen des Bandes sind andere. Carsten Jensen bezeichnet sie ganz richtig als "universell: der Tod und die Jugend". Nicht von ungefähr beginnt das Buch mit einer Erzählung, in der die kranke Tochter eines Wirts hustend im Bett liegt und in die mondbeschienene Nacht starrt, während draußen ein junger Wirtshausbesucher nach einem Streit erstochen wird: "Als er so ruhig dalag, begann er, über die Dinge nachzudenken . . . hatte er seinen Bart gepflegt und jeden Tag gehofft, dass er länger würde? Warum hatte er Blut im Leib, wenn es nun aus ihm herausfloss?"
Entsprechend tragisch und trostlos geht es auf den 180 Seiten oft zu. Auch brutal: "Eines Morgens prügelte Jens Andersen seinen halbwüchsigen Knecht durch, er hatte schlechte Laune." Doch Jensen, damals Mitte zwanzig, notiert auch unbeschwerte Momente. Oder zumindest die Sehnsucht danach.
Seine Himmerländer mögen saufen und wüten, wenn ihnen danach ist. Sie mögen sich verloren vorkommen, im Leben verlieren und hilflos mitansehen, dass die Tochter im selben Alkoven stirbt, "dessen unterste Strohschicht noch den Abdruck" des an Tuberkulose verstorbenen Vaters aufwies. Jensen überschminkt nichts von dieser Tristesse. Er stellt sie vielmehr heraus und betont dabei auch, wie viel Unglück gerade von den Männern ausgeht. Einfältigen Kerlen voller Kraft, eingesperrt in den ewig gleichen, von Jahreszeiten und Wetter vorgegebenen Tagesablauf.
Aber die Bewohner, die er mit trockenen Strichen skizziert, markante Figuren, nehmen eben auch den Duft wahr, der in der Landschaft um den fiktiven Ort Graabølle hängt. Sie kommen wie verzaubert aus ihren Häusern, wenn nächtens Musik übers Land weht, schäkern am Johannisfeuer mit dem anderen Geschlecht. Gehen feiern, nachdem sie dem Pferdearzt bei der Kastration eines Fohlens geholfen haben: "Zeit fürs Wirtshaus, Bierflaschen wurden gebracht. Kling, kling, sie tranken direkt aus der Flasche." Auch das hat der Autor im Blick, ohne darüber in Nostalgie zu verfallen.
Er schreibt distanziert, aber nicht teilnahmslos. Und beneidenswert rund; eine Folge der Vielschreiberei in den Jahren zuvor, in denen er sein (nie abgeschlossenes) Studium mit unterhaltsamen Geschichten für das illustrierte Wochenblatt "Revuen" finanzierte. Auch einige Geschichten des Bandes "Himmerlandsvolk" waren zunächst in einem Wochenblatt zu lesen, der "Illustreret Tidende", bevor das Buch herauskam.
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung wird Jensen für die Zeitung "Social-Demokraten" dann technikbegeisterte Reportagen von der Pariser Weltausstellung schreiben. Ist das ein anderes Thema? Nein, ist es nicht. Es waren Zeiten großer Umbrüche, in denen "Himmerlandsvolk" in die Buchläden kam. Und es sind Zeiten enormer Umbrüche, in denen man den Band wiederentdecken und sich auch außerhalb Dänemarks fragen kann: Wie weit sind wir seit den vorindustriellen Zeiten technisch und als Gesellschaft gekommen? Und wie weit als Mensch?
MATTHIAS HANNEMANN.
Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 181 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main