Johannes V. Jensen (1873–1950) erzählt in seinen Geschichten aus Himmerland von einer untergegangenen Welt. In zwölf Erzählungen, mit denen er 1898 erstmals als Schriftsteller in Erscheinung trat, nimmt er einzelne Protagonisten einer vorindustriellen bäuerlichen Dorfgesellschaft in den Blick. Jensen beschreibt die archaischen Verhältnisse und Lebensbedingungen seiner Figuren mit feiner Zartheit und berührender Einfühlsamkeit: Wir lernen Landsknechte, Mägde, Hoferben, den Tierarzt und den Schmied kennen, erfahren, was am Neujahrsmorgen im Dorf passiert und was es mit Thomas vom Brückenhof auf sich hat. Die Welt, die Jensen vor unseren Augen auferstehen lässt, ist die seiner eigenen Kindheit. Er porträtiert seine Heimatregion, ohne Groll, ohne Verklärung – einzig, um sie in der Literatur festzuhalten und unsterblich zu machen. Die dörflichen Geschichten und Lebensbilder sind mit scharf umreißenden Sätzen und präzisen Attributen beschrieben; als Erzähler ist Jensen ganz bei seinen Figuren, lauscht ihnen ihre Wahrheit ab. Sie sind tragische Gestalten, erdulden ihre täglichen Mühen, und nehmen es doch mit bissigem Humor, erkennen auch die Komik in ihrem Treiben. Ulrich Sonnenberg hat in der deutschen Übersetzung für die mehr als 100 Jahre alten Prosabilder eine Sprache gefunden, die uns heutige Leser direkt auf diese Himmerländer Menschen blicken lässt, als würden wir ihnen gegenüberstehen. Sie bilden einen Chor, eine Art menschliches Grundrauschen, in dem Johannes V. Jensen jeden einzelnen auf seine ganz eigene Weise zum Leuchten bringt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2017Arbeit auf
das Ende hin
Johannes V. Jensens Erzählungen
von Himmerland
Einer aus Vogelperspektive beobachtenden Kamera gleich fällt der Blick des Erzählers auf die weite, spärlich bewachsene Landschaft, saugt sich an einem Detail fest, betrachtet es näher und entwickelt daraus eine Erzählung. Eine der kürzesten Texte dieses in seiner Kühle der Betrachtung mitreißenden Buchs beginnt so: „Ein Stück südlich des Dorfes Graabølle ist auf dem Feld ein viereckiger, von verwachsenen Hecken eingezäunter Platz zu erkennen.“ Mauerbrocken verraten, dass sich hier einmal ein Haus befunden haben muss. Gerade einmal sieben Seiten benötigt Johannes V. Jensen nun, um die unheilvolle Historie des Ortes aufzuschreiben. Von einem jungen Paar ist die Rede, das sich hier eine Existenz aufbauen wollte. Von dem Mann, der den Besitz bei einem Kartenspiel verliert, von einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Von der schwangeren Frau, die sich auf dem Dachboden erhängt, nachdem ihr Mann sich aus dem Staub gemacht hat. Und von einer düsteren Nacht, in der ein paar Männer dem Gerücht entgegenwirken wollen, auf dem verlassenen Hof spuke es. Vergeblich. Der Hof wird abgerissen, übrig bleibt die viereckige, kahle Stelle.
Johannes Vilhelm Jensen wurde 1873 im dänischen Farsø geboren. Die Ortschaft gehört zur jütländischen Halbinsel Himmerland, einer kargen Moränenlandschaft, deren Bewohner sich, wie Jensen selbst es einmal ausdrückte, vor allem durch ihre Sturheit auszeichnen. Zwei Bände mit Geschichten aus dem Himmerland hat Jensen 1898 und 1904 vorgelegt. Den ersten davon hat Sebastian Guggolz nun in seinem auf Wiederentdeckungen spezialisierten Kleinverlag in einer ausgezeichnet zu lesenden Übersetzung von Ulrich Sonnenberg zugänglich gemacht. Es sind allesamt Erzählungen, die in einer vorindustriellen Zeitlosigkeit zu schweben scheinen. Die Menschen, die Jensen frei von jeder Psychologisierung porträtiert, sind Bauern, die gegen die Härte der Natur um ihr Auskommen, um ihr Überleben und um ihren Stand kämpfen. Es gibt keinen Ausweg.
Jensen, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1944, huldigt in seinem Stil nicht dem Pathos der Entsagung und der Leere. Er schreibt klare, oft erbarmungslos wirkende Sätze. Und wenn es einige wenige Generalthemen gibt, die sich leitmotivisch durch die Erzählungen ziehen, dann sind dies das Verschwinden der Jugend und der Tod. Jensen zeigt Menschen, die sich in völliger Selbstverständlichkeit dabei beobachten, wie sie auf das Ende hinarbeiten. Die Bösartigkeit, die dabei oft zutage tritt, erscheint als Reaktion auf die Erkenntnis, dass das Leben keinen Platz für Träume bietet. Daraus resultiert nicht selten Gewalt: Die physische Kraft der Figuren übersteigt ihr Reflexionsvermögen. Es sind Arbeiter, Trinker, Wüteriche, die in ihrem Selbstbehauptungswillen tun, was sie glauben tun zu müssen, um anschließend den Preis dafür zu bezahlen.
In der Erzählung „In der Dunkelheit“ erschlagen eine Frau, ihre Tochter und deren vom Vater abgelehnter Verehrer gemeinsam das Familienoberhaupt; jenen Mann, der ihnen über Jahre hinweg mit seiner Brutalität das Leben zur Hölle gemacht hat. Über die Frau heißt es anschließend: „Lange, ja, ewige Zeiten der Verkrüppelung ihres Gemüts lösten sich in nichts auf, sie fühlte sich so wohl und gleichzeitig so erschöpft.“ Da die drei kein Hehl aus ihrer Tat machen, werden sie verhaftet und verurteilt. Die guten, neuen Holzschuhe des jungen Mannes nimmt der Henker nach Urteilsvollstreckung an sich.
Bei aller Härte der Darstellung hatte Jensen ein feines Sensorium für die diversen Spielarten von Vergänglichkeit und Verfall. Wie er in der Auftakterzählung „Oktobernacht“ das Sterben eines jungen Mädchens und den Tod eines verwundeten Landsknechts in Beziehung setzt, ist meisterhaft. Johannes V. Jensen, schreibt der Literaturwissenschaftler und Autor Carsten Jensen im Nachwort, könne nur dann als Heimatschriftsteller begriffen werden, wenn man ihm nicht einen Funken von Nostalgie zuschreibe.
Die Welt dieses Buchs existiert nicht mehr. Es herrscht keine Trauer darüber und auch kein Triumph. Jensen stellt seine Figuren für einen Augenblick ins Licht – und überlässt sie dann wieder dem Lauf der Dinge.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Johannes V. Jensen: Himmerlandsvolk. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 184 Seiten, 20 Euro.
Die physische Kraft der Figuren
übersteigt ihr
Reflexionsvermögen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
das Ende hin
Johannes V. Jensens Erzählungen
von Himmerland
Einer aus Vogelperspektive beobachtenden Kamera gleich fällt der Blick des Erzählers auf die weite, spärlich bewachsene Landschaft, saugt sich an einem Detail fest, betrachtet es näher und entwickelt daraus eine Erzählung. Eine der kürzesten Texte dieses in seiner Kühle der Betrachtung mitreißenden Buchs beginnt so: „Ein Stück südlich des Dorfes Graabølle ist auf dem Feld ein viereckiger, von verwachsenen Hecken eingezäunter Platz zu erkennen.“ Mauerbrocken verraten, dass sich hier einmal ein Haus befunden haben muss. Gerade einmal sieben Seiten benötigt Johannes V. Jensen nun, um die unheilvolle Historie des Ortes aufzuschreiben. Von einem jungen Paar ist die Rede, das sich hier eine Existenz aufbauen wollte. Von dem Mann, der den Besitz bei einem Kartenspiel verliert, von einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Von der schwangeren Frau, die sich auf dem Dachboden erhängt, nachdem ihr Mann sich aus dem Staub gemacht hat. Und von einer düsteren Nacht, in der ein paar Männer dem Gerücht entgegenwirken wollen, auf dem verlassenen Hof spuke es. Vergeblich. Der Hof wird abgerissen, übrig bleibt die viereckige, kahle Stelle.
Johannes Vilhelm Jensen wurde 1873 im dänischen Farsø geboren. Die Ortschaft gehört zur jütländischen Halbinsel Himmerland, einer kargen Moränenlandschaft, deren Bewohner sich, wie Jensen selbst es einmal ausdrückte, vor allem durch ihre Sturheit auszeichnen. Zwei Bände mit Geschichten aus dem Himmerland hat Jensen 1898 und 1904 vorgelegt. Den ersten davon hat Sebastian Guggolz nun in seinem auf Wiederentdeckungen spezialisierten Kleinverlag in einer ausgezeichnet zu lesenden Übersetzung von Ulrich Sonnenberg zugänglich gemacht. Es sind allesamt Erzählungen, die in einer vorindustriellen Zeitlosigkeit zu schweben scheinen. Die Menschen, die Jensen frei von jeder Psychologisierung porträtiert, sind Bauern, die gegen die Härte der Natur um ihr Auskommen, um ihr Überleben und um ihren Stand kämpfen. Es gibt keinen Ausweg.
Jensen, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1944, huldigt in seinem Stil nicht dem Pathos der Entsagung und der Leere. Er schreibt klare, oft erbarmungslos wirkende Sätze. Und wenn es einige wenige Generalthemen gibt, die sich leitmotivisch durch die Erzählungen ziehen, dann sind dies das Verschwinden der Jugend und der Tod. Jensen zeigt Menschen, die sich in völliger Selbstverständlichkeit dabei beobachten, wie sie auf das Ende hinarbeiten. Die Bösartigkeit, die dabei oft zutage tritt, erscheint als Reaktion auf die Erkenntnis, dass das Leben keinen Platz für Träume bietet. Daraus resultiert nicht selten Gewalt: Die physische Kraft der Figuren übersteigt ihr Reflexionsvermögen. Es sind Arbeiter, Trinker, Wüteriche, die in ihrem Selbstbehauptungswillen tun, was sie glauben tun zu müssen, um anschließend den Preis dafür zu bezahlen.
In der Erzählung „In der Dunkelheit“ erschlagen eine Frau, ihre Tochter und deren vom Vater abgelehnter Verehrer gemeinsam das Familienoberhaupt; jenen Mann, der ihnen über Jahre hinweg mit seiner Brutalität das Leben zur Hölle gemacht hat. Über die Frau heißt es anschließend: „Lange, ja, ewige Zeiten der Verkrüppelung ihres Gemüts lösten sich in nichts auf, sie fühlte sich so wohl und gleichzeitig so erschöpft.“ Da die drei kein Hehl aus ihrer Tat machen, werden sie verhaftet und verurteilt. Die guten, neuen Holzschuhe des jungen Mannes nimmt der Henker nach Urteilsvollstreckung an sich.
Bei aller Härte der Darstellung hatte Jensen ein feines Sensorium für die diversen Spielarten von Vergänglichkeit und Verfall. Wie er in der Auftakterzählung „Oktobernacht“ das Sterben eines jungen Mädchens und den Tod eines verwundeten Landsknechts in Beziehung setzt, ist meisterhaft. Johannes V. Jensen, schreibt der Literaturwissenschaftler und Autor Carsten Jensen im Nachwort, könne nur dann als Heimatschriftsteller begriffen werden, wenn man ihm nicht einen Funken von Nostalgie zuschreibe.
Die Welt dieses Buchs existiert nicht mehr. Es herrscht keine Trauer darüber und auch kein Triumph. Jensen stellt seine Figuren für einen Augenblick ins Licht – und überlässt sie dann wieder dem Lauf der Dinge.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Johannes V. Jensen: Himmerlandsvolk. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 184 Seiten, 20 Euro.
Die physische Kraft der Figuren
übersteigt ihr
Reflexionsvermögen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2018Eines Morgens beim Prügeln des Knechts
Wiederentdeckung des dänischen Autors Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk"
Es ist ein schlichter, von hart arbeitenden Menschen bevölkerter Landstrich, den Johannes Vilhelm Jensen 1898 in seinem Band "Himmerlandsvolk" so präzise beschreibt, als müsse sich die Gesellschaft zum Ende des Jahrhunderts der Industrialisierung noch einmal der Dunkelheit vergewissern, aus der sie einst aufbrach.
Einige Jahre später wird Jensen selbst außerhalb Dänemarks bekannt sein, als Schöpfer des Romanzyklus "Die Lange Reise" zum Beispiel. Er wird den Literaturnobelpreis des Jahres 1944 erhalten. Und noch 1999 werden Leser zweier Tageszeitungen den 1901 veröffentlichten Historienroman "Des Königs Fall" zum besten dänischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts wählen.
1898 aber, als "Himmerlandsvolk" erscheint, hat der Name des Tierarztsohnes Johannes Vilhelm Jensen, der aus Farsø in Himmerland stammt und eigentlich zum Medizinstudium nach Kopenhagen gekommen ist, trotz etlicher Feuilleton-Romane unter dem Pseudonym "Ivar Lykke" und zweier Bücher unter eigenem Namen noch kein Gewicht.
Das ändert sich mit diesen Erzählungen aus Nordjütland, den ersten von vielen, die Jensen später noch über das bäuerliche Leben im Himmerland seiner Kindheit vorlegte, und es ist ein Geschenk, dass der auf literarische Ausgrabungen spezialisierte Verlag Guggolz, der auch andere Meilensteine der nordischen Literatur im Programm hat wie den "Professor Hieronimus" der Norwegerin Amalie Skram oder "Jung entschlafen" des finnischen Nobelpreisträgers Frans Eemil Sillanpää, sich ihrer erinnert hat.
Selbst an ein Nachwort wurde gedacht. Es stammt von Carsten Jensen ("Wir Ertrunkenen"), der die Werke seines Namensvetters Johannes Vilhelm Jensen als Kind in Aalborg verschlang, Jensen als Schriftsteller des volkstümlichen Durchbruchs verortet und auch dessen rassistische Ansichten erwähnt, die ihn glücklicherweise nicht zu einem dänischen Hamsun werden ließen.
Hier wäre es ein Leichtes gewesen, ebenfalls einen Hinweis auf den Volksstamm der Kimbern einzustreuen, die einst in Himmerland unweit des Limfjordes gelebt haben sollen, bis sie römischen Truppen bei ihrem Zug durch Europa das Leben erschwerten. Die Gegend, von der "Himmerlandsvolk" erzählt, war aus der Warte Jensens nicht irgendein dänischer Fleck.
Aber die entscheidenden Themen des Bandes sind andere. Carsten Jensen bezeichnet sie ganz richtig als "universell: der Tod und die Jugend". Nicht von ungefähr beginnt das Buch mit einer Erzählung, in der die kranke Tochter eines Wirts hustend im Bett liegt und in die mondbeschienene Nacht starrt, während draußen ein junger Wirtshausbesucher nach einem Streit erstochen wird: "Als er so ruhig dalag, begann er, über die Dinge nachzudenken . . . hatte er seinen Bart gepflegt und jeden Tag gehofft, dass er länger würde? Warum hatte er Blut im Leib, wenn es nun aus ihm herausfloss?"
Entsprechend tragisch und trostlos geht es auf den 180 Seiten oft zu. Auch brutal: "Eines Morgens prügelte Jens Andersen seinen halbwüchsigen Knecht durch, er hatte schlechte Laune." Doch Jensen, damals Mitte zwanzig, notiert auch unbeschwerte Momente. Oder zumindest die Sehnsucht danach.
Seine Himmerländer mögen saufen und wüten, wenn ihnen danach ist. Sie mögen sich verloren vorkommen, im Leben verlieren und hilflos mitansehen, dass die Tochter im selben Alkoven stirbt, "dessen unterste Strohschicht noch den Abdruck" des an Tuberkulose verstorbenen Vaters aufwies. Jensen überschminkt nichts von dieser Tristesse. Er stellt sie vielmehr heraus und betont dabei auch, wie viel Unglück gerade von den Männern ausgeht. Einfältigen Kerlen voller Kraft, eingesperrt in den ewig gleichen, von Jahreszeiten und Wetter vorgegebenen Tagesablauf.
Aber die Bewohner, die er mit trockenen Strichen skizziert, markante Figuren, nehmen eben auch den Duft wahr, der in der Landschaft um den fiktiven Ort Graabølle hängt. Sie kommen wie verzaubert aus ihren Häusern, wenn nächtens Musik übers Land weht, schäkern am Johannisfeuer mit dem anderen Geschlecht. Gehen feiern, nachdem sie dem Pferdearzt bei der Kastration eines Fohlens geholfen haben: "Zeit fürs Wirtshaus, Bierflaschen wurden gebracht. Kling, kling, sie tranken direkt aus der Flasche." Auch das hat der Autor im Blick, ohne darüber in Nostalgie zu verfallen.
Er schreibt distanziert, aber nicht teilnahmslos. Und beneidenswert rund; eine Folge der Vielschreiberei in den Jahren zuvor, in denen er sein (nie abgeschlossenes) Studium mit unterhaltsamen Geschichten für das illustrierte Wochenblatt "Revuen" finanzierte. Auch einige Geschichten des Bandes "Himmerlandsvolk" waren zunächst in einem Wochenblatt zu lesen, der "Illustreret Tidende", bevor das Buch herauskam.
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung wird Jensen für die Zeitung "Social-Demokraten" dann technikbegeisterte Reportagen von der Pariser Weltausstellung schreiben. Ist das ein anderes Thema? Nein, ist es nicht. Es waren Zeiten großer Umbrüche, in denen "Himmerlandsvolk" in die Buchläden kam. Und es sind Zeiten enormer Umbrüche, in denen man den Band wiederentdecken und sich auch außerhalb Dänemarks fragen kann: Wie weit sind wir seit den vorindustriellen Zeiten technisch und als Gesellschaft gekommen? Und wie weit als Mensch?
MATTHIAS HANNEMANN.
Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 181 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckung des dänischen Autors Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk"
Es ist ein schlichter, von hart arbeitenden Menschen bevölkerter Landstrich, den Johannes Vilhelm Jensen 1898 in seinem Band "Himmerlandsvolk" so präzise beschreibt, als müsse sich die Gesellschaft zum Ende des Jahrhunderts der Industrialisierung noch einmal der Dunkelheit vergewissern, aus der sie einst aufbrach.
Einige Jahre später wird Jensen selbst außerhalb Dänemarks bekannt sein, als Schöpfer des Romanzyklus "Die Lange Reise" zum Beispiel. Er wird den Literaturnobelpreis des Jahres 1944 erhalten. Und noch 1999 werden Leser zweier Tageszeitungen den 1901 veröffentlichten Historienroman "Des Königs Fall" zum besten dänischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts wählen.
1898 aber, als "Himmerlandsvolk" erscheint, hat der Name des Tierarztsohnes Johannes Vilhelm Jensen, der aus Farsø in Himmerland stammt und eigentlich zum Medizinstudium nach Kopenhagen gekommen ist, trotz etlicher Feuilleton-Romane unter dem Pseudonym "Ivar Lykke" und zweier Bücher unter eigenem Namen noch kein Gewicht.
Das ändert sich mit diesen Erzählungen aus Nordjütland, den ersten von vielen, die Jensen später noch über das bäuerliche Leben im Himmerland seiner Kindheit vorlegte, und es ist ein Geschenk, dass der auf literarische Ausgrabungen spezialisierte Verlag Guggolz, der auch andere Meilensteine der nordischen Literatur im Programm hat wie den "Professor Hieronimus" der Norwegerin Amalie Skram oder "Jung entschlafen" des finnischen Nobelpreisträgers Frans Eemil Sillanpää, sich ihrer erinnert hat.
Selbst an ein Nachwort wurde gedacht. Es stammt von Carsten Jensen ("Wir Ertrunkenen"), der die Werke seines Namensvetters Johannes Vilhelm Jensen als Kind in Aalborg verschlang, Jensen als Schriftsteller des volkstümlichen Durchbruchs verortet und auch dessen rassistische Ansichten erwähnt, die ihn glücklicherweise nicht zu einem dänischen Hamsun werden ließen.
Hier wäre es ein Leichtes gewesen, ebenfalls einen Hinweis auf den Volksstamm der Kimbern einzustreuen, die einst in Himmerland unweit des Limfjordes gelebt haben sollen, bis sie römischen Truppen bei ihrem Zug durch Europa das Leben erschwerten. Die Gegend, von der "Himmerlandsvolk" erzählt, war aus der Warte Jensens nicht irgendein dänischer Fleck.
Aber die entscheidenden Themen des Bandes sind andere. Carsten Jensen bezeichnet sie ganz richtig als "universell: der Tod und die Jugend". Nicht von ungefähr beginnt das Buch mit einer Erzählung, in der die kranke Tochter eines Wirts hustend im Bett liegt und in die mondbeschienene Nacht starrt, während draußen ein junger Wirtshausbesucher nach einem Streit erstochen wird: "Als er so ruhig dalag, begann er, über die Dinge nachzudenken . . . hatte er seinen Bart gepflegt und jeden Tag gehofft, dass er länger würde? Warum hatte er Blut im Leib, wenn es nun aus ihm herausfloss?"
Entsprechend tragisch und trostlos geht es auf den 180 Seiten oft zu. Auch brutal: "Eines Morgens prügelte Jens Andersen seinen halbwüchsigen Knecht durch, er hatte schlechte Laune." Doch Jensen, damals Mitte zwanzig, notiert auch unbeschwerte Momente. Oder zumindest die Sehnsucht danach.
Seine Himmerländer mögen saufen und wüten, wenn ihnen danach ist. Sie mögen sich verloren vorkommen, im Leben verlieren und hilflos mitansehen, dass die Tochter im selben Alkoven stirbt, "dessen unterste Strohschicht noch den Abdruck" des an Tuberkulose verstorbenen Vaters aufwies. Jensen überschminkt nichts von dieser Tristesse. Er stellt sie vielmehr heraus und betont dabei auch, wie viel Unglück gerade von den Männern ausgeht. Einfältigen Kerlen voller Kraft, eingesperrt in den ewig gleichen, von Jahreszeiten und Wetter vorgegebenen Tagesablauf.
Aber die Bewohner, die er mit trockenen Strichen skizziert, markante Figuren, nehmen eben auch den Duft wahr, der in der Landschaft um den fiktiven Ort Graabølle hängt. Sie kommen wie verzaubert aus ihren Häusern, wenn nächtens Musik übers Land weht, schäkern am Johannisfeuer mit dem anderen Geschlecht. Gehen feiern, nachdem sie dem Pferdearzt bei der Kastration eines Fohlens geholfen haben: "Zeit fürs Wirtshaus, Bierflaschen wurden gebracht. Kling, kling, sie tranken direkt aus der Flasche." Auch das hat der Autor im Blick, ohne darüber in Nostalgie zu verfallen.
Er schreibt distanziert, aber nicht teilnahmslos. Und beneidenswert rund; eine Folge der Vielschreiberei in den Jahren zuvor, in denen er sein (nie abgeschlossenes) Studium mit unterhaltsamen Geschichten für das illustrierte Wochenblatt "Revuen" finanzierte. Auch einige Geschichten des Bandes "Himmerlandsvolk" waren zunächst in einem Wochenblatt zu lesen, der "Illustreret Tidende", bevor das Buch herauskam.
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung wird Jensen für die Zeitung "Social-Demokraten" dann technikbegeisterte Reportagen von der Pariser Weltausstellung schreiben. Ist das ein anderes Thema? Nein, ist es nicht. Es waren Zeiten großer Umbrüche, in denen "Himmerlandsvolk" in die Buchläden kam. Und es sind Zeiten enormer Umbrüche, in denen man den Band wiederentdecken und sich auch außerhalb Dänemarks fragen kann: Wie weit sind wir seit den vorindustriellen Zeiten technisch und als Gesellschaft gekommen? Und wie weit als Mensch?
MATTHIAS HANNEMANN.
Johannes V. Jensen: "Himmerlandsvolk".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 181 S., geb., 20,- [Euro].
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