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Neu aufgelegt: Adam Hasletts Erzählband "Hingabe"
Am besten sollte dieses Buch als verschreibungspflichtig deklariert und mit genauen Anweisungen zur Dosierung der Lektüre versehen werden: einmal täglich, nach dem Essen und nie zwei Geschichten nacheinander. Denn wer Adam Hasletts neun Erzählungen, die seinen erfolgreichen Debütband von 2002 ausmachen, in einem Zug durchliest, muss sich auf Schwindel, Ohrensausen und erhebliches Völlegefühl gefasst machen. So randvoll ist jede einzelne von ihnen mit psychischen Verletzungen, erotischen Verwicklungen und schwerem Schicksal ausgestattet, dass es wohl für einen viktorianischen Roman gereicht hätte. Hier allerdings drängt alles sich auf engem Raum von jeweils zwanzig oder dreißig Seiten und wirkt auf diese Weise ziemlich geballt. Zumal in der dichten Folge des kompletten Bandes erscheint uns seine Serie von Unfallopfern, Frühwaisen, Traumatisierten, Schizophrenen, Masochisten, heimlich Homosexuellen, lebenslang Verklemmten, unheilbar Erkrankten, angehenden Selbstmördern und deprimierten Landärzten, die er uns vorführt, wie ein bizarrer Reigen kurioser Freaks.
Ein manisch-depressiver Vater, der sich für ein Erfindergenie hält, sucht nach Jahren seinen Sohn auf und stellt fest, dass auch dieser seinen Alltag nur mit Psychopharmaka besteht. Ein Halbwüchsiger verliert die Eltern und verliebt sich in einen brutalen Mitschüler, dessen blutige Gewaltakte körperlicher Misshandlung er immer lustvoller ersehnt. Ein todkranker Mann organisiert das eigene Ableben und schreibt seinem längst verstorbenen Vater Briefe, während er sich seinen letzten Straßensex noch gönnt. Ein visionärer Internatsschüler hat Vorahnungen von bevorstehenden Todesfällen und verzweifelt daran, dass keiner ihm Glauben schenken will. Ein älteres Geschwisterpaar, das seit dem frühen Tod der Eltern notgedrungen eng zusammenhält, verliebt sich zeitgleich in denselben schönen Mann und opfert doch die Hoffnung dieser Liebe der Zukunft ihrer andauernden Notgemeinschaft. Ein Patient mit bipolarer Störung liest im Zug die eigene Krankenakte, während er zu einem Freund fährt, der auf dem Friedhof just ein Grab geschaufelt hat. Und das ist nur der Kurzdurchlauf von gerade mal der Hälfte der Geschichten.
Vor sieben Jahren ist die deutsche Fassung dieser Sammlung, die es zuvor in Amerika schon bis zur Endrunde der Pulitzer-Preisauswahl gebracht hatte, unter dem Titel "Das Gespenst der Liebe" bereits in einem anderen Verlag erschienen, damals, ohne sonderlich Aufmerksamkeit zu finden. Seit letzten Herbst jedoch Hasletts Roman "Union Atlantic" durch seine nahezu dokumentarische Aufarbeitung der aktuellen Bankenkrise für Furore sorgte, hat sich sein Name auch hierzulande eingeprägt. Das Wiedersehen mit seinen Debüterzählungen bestätigt zweifellos, dass dieser Autor, Jahrgang 1970, über erhebliches Erzähltalent verfügt; er schreibt szenisch, atmosphärisch dicht und kann mit wenigen, oft sehr markanten Strichen Charaktere zeichnen, die uns erstaunlich nahegehen. Doch eben weil uns die Figuren so lebendig werden und oftmals durch intime Selbstaussprache fast aufdringlich in ihr Vertrauen ziehen, braucht es zumindest zwischendurch Distanz, sonst dröhnt uns bald der Kopf vor lauter Schicksalhaftigkeit.
Traditionell lebt die Short Story ganz von der Ökonomie ihres begrenzten Raums. Von Anton Tschechow, ihrem größten Meister, ist die Anweisung überliefert, dass man nach der Niederschrift solcher Geschichten Anfang und Schluss abschneiden und nur, was übrig bleibt, veröffentlichen solle: Das Unvermittelte, Bruchstück- oder Ausschnitthafte steht für sich und bietet zumal der Moderne eine kongeniale Form. Bei amerikanischen Autoren wie Hemingway wurde die legendäre Lakonik zum Kult - und vielleicht sogar zum Tick. Deshalb ist es begrüßenswert, ja notwendig, dass jetzt ein Autor einmal andere Erzählweisen erprobt und den Figuren seiner Short Storys derart traumatische Lebensverwicklungen mitzugeben wagt, dass eine Vorabendserie davon mühelos ein halbes Jahr gezehrt hätte.
So ist es wohl kein Zufall, dass die einprägsamste Geschichte dieser Sammlung, "Der Freiwillige", zugleich ihre längste ist und gleich zwei Erzählstränge entwickeln kann, die kontrapunktisch angelegt sind und erst in einer charakteristischen Schlusswendung zusammengeführt werden. Ein pubertierender Schüler entdeckt die hormonellen Aufwallungen erster Liebe und darf am Silvesterabend auf den ersten echten Sex mit seiner Auserwählten hoffen. Doch der Abend endet anders als erwartet. Das Programm zum freiwilligen Sozialdienst in den kommunalen Krankenhäusern hat den Schüler in den Monaten zuvor mit einer langjährigen Psychiatriepatientin in Kontakt gebracht, deren Lebenslinie sich plötzlich unerwartet mit der eigenen kreuzt. Derlei Durchkreuzungen und unwahrscheinliche Begegnungen sind Hasletts Spezialität. Wie viele der Geschichten zeigen, gelingt es ihm oft virtuos, erzählerisches Kapital aus ihnen zu schlagen und derart überraschende Begegnungen für Perspektivwechsel zu nutzen, die uns die seltsamen Figuren unvermittelt noch einmal ganz anders zeigen. Solange wir uns selbst begnügen und die Lektüredosis sparsam halten, lässt sich daraus einiges gewinnen, und etwaige Nebenwirkungen bleiben dann gering.
TOBIAS DÖRING
Adam Haslett: "Hingabe". Erzählungen. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek 2010. 270 S., br., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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