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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was passiert, wenn Asylbewerber in Europas Amtsstuben vorsprechen
2015 fiel den Mitteleuropäern nicht zum ersten Mal auf, dass Millionen Menschen vor Krieg und Klimawandel, Armut und Aussichtslosigkeit als Ultima Ratio die Flucht ergreifen. Ein Bruchteil von ihnen schaffte es, der Rest blieb in Elendslagern hängen, ertrank im Mittelmeer oder fiel Warlords in die Hände. Fünf Jahre sind seit dem Zustrom vor allem syrischer Flüchtlinge ins Land gegangen, doch fehlt eine Bilanz, die allfällige Probleme weder kleinredet noch dramatisiert. Sicher, die demografische Rechnung ist rasch aufgemacht: Seit 2015 hat Deutschland eine „Netto-Zuwanderung“ von 2,5 Millionen Menschen erlebt, nachdem vor der Jahrhundertwende eine Zeit lang mehr Menschen aus Deutschland weg- als zugezogen sind. Dabei verlagerte sich der Herkunftsschwerpunkt der Migranten aus Ländern der europäischen Peripherie auf Geflüchtete aus Asien und Afrika.
Zur genaueren Selbsterforschung einer im Wandel begriffenen Gesellschaft mangelt es weniger an Zahlenwerken als an ethnografischen Einblicken: Wer genau ist gekommen und geblieben, wer hat Arbeit bekommen, geheiratet (unter sich, binational)? Wer hat Deutsch gelernt und sich weitergebildet, wer blieb lieber unter seinesgleichen? Und wo es eine Wahl gab: Wer will bleiben oder gehen (und wohin)? Wie viele Personen sind mit welchen Delikten straffällig geworden? Wer hat die deutsche Staatsangehörigkeit erworben? Welche Faktoren lösen politische und religiöse Radikalisierung aus?
Alles noch weitgehend offene Fragen. Ist unser fehlendes Wissen Ausdruck von Desinteresse, Ergebnis von Parallelgesellschaften oder Beleg des Verlustes der (staatlichen und sozialen) Kontrolle über ein soziales Großexperiment? Viele kritisieren, dass das Gros der Asylbewerber immer noch hier weilt, obwohl die meisten keinen legalen Anspruch haben. Und die Situation in den Herkunftsländern wird meist danach taxiert, ob sie „sicher“ sei für Abschiebungen und Rückkehrprojekte. Die gern geforderte „Bekämpfung der Fluchtursachen“ wird so kaum gelingen.
Deutschland hat eine gut ausgestattete Migrationsforschung, die um die rechtliche Thematik des Aufenthaltsrechts und die kultursoziologische Dimension der Diversität kreist. An beiden Polen lassen sich Narrative der inneren Sicherheit und des Rassismus aufmachen. Es fehlen jedoch gründliche und unvoreingenommene Enquêten, wie sie in der US-amerikanischen Stadtsoziologie in der Tradition der „Chicago School“ angestellt worden sind. Hervorgehoben sei hier nur das unter der Anleitung von William I. Thomas und Florian Znaniecki (selbst aus Polen eingewandert) vor mehr als hundert Jahren abgeschlossene Werk „The Polish Peasant in Europe and America“. So heißt eine fünfbändige Studie der polnischen Emigration in die USA auf der Grundlage sogenannter Ego-Dokumente (Briefe, Tagebücher), gemischt mit offiziellen Dokumenten, Beobachtungen und Befragungen. Sie entwerfen ein vielschichtiges Bild von den Spannungen und Übergängen zwischen den sozialen Normen der Ankunftsgesellschaft, in der das rationale Dollar-Kalkül gepredigt wurde, und den individuellen und familiären, oft traditionell-religiösen Haltungen aus der Heimat, die sich unter diesem Kalkül allmählich zersetzen, aber auch rekonstruieren. Die Solidarität der Familie und deren soziale Kontrolle schwanden, vorgezeichnete Lebensläufe verließen die gewohnten Bahnen, in Chicago und anderen Städten mussten Bauern kreativ werden für einen verwickelten Prozess der Anpassung, der über transnationale Gemeinschaften auf die Heimat zurückwirkte.
Für einen rechtssoziologisch-ethnografischen Blick dieser Art steht exemplarisch die Studie von Tobias Eule, Lisa Borrelli, Annika Lindberg und Anna Wyss. Sie analysieren das Migrationsrecht, das angeblich ganz klare Vorgaben macht, welche Aspiranten Aufenthalt gewährt bekommen, nicht aus der Ferne; die vier haben vielmehr minutiös die in sich widersprüchlichen, oft im Wortsinne kafkaesken Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen Amtsträgern und Migranten von Nahem beobachtet und aufgezeichnet. So dekonstruieren sie (hier ist das Wort am Platze) den abstrakten Idealtyp des bürokratischen Staats und auch das Selbstbild seiner Funktionsträger. Die Kollektivgröße „Staat“ faltet sich auf in Dutzende von Türhütern, im „Migrationsregime der vielen Hände“ herrscht eine wahre Flickschusterei, die dieses Regime unlesbar machen wie Kafkas „Gesetz“, zu dem ein armer Hund keinen Einlass erhielt. Dabei ist Migrationskontrolle ein interaktives und relationales Phänomen, das heißt: Die Aufenthalt Begehrenden sind bei aller Machtasymmetrie keineswegs ohnmächtig. Was die einen als „Ermessensspielraum“ definieren, können die anderen über den Transfer informellen Wissens für sich nutzen, in dessen Ritzen sich hier die Übernahme von Verantwortung, dort eiskalte Berechnung bilden kann.
Vorbildliche Studien wie diese, die „multi-sited“ an vielen Orten Europas tief in den Alltag der Migration eindringen, sollten auch zur Lage auf den (informellen) Arbeitsmärkten, in den Religionsgemeinschaften und in der populären Kultur stattfinden, damit wir jenseits oberflächlicher Generalisierungen und Moralisierungen einer Welt ins Auge schauen, die gerade weitere Zumutungen bereithält, welche die von rechts ausgerufene Migrationskrise noch verschärfen könnten. Ob soziologische Aufklärung dort ankommt, ist fraglich. Doch sie weiß seit Georg Simmel, dem deutschen Ahnherrn der Chicago School (den die Autoren gar nicht zitieren), dass Grenzen relationale Erscheinungen sind, also auch vor der vermeintlich blinden Justitia ein Ergebnis zwischenmenschlicher Beziehungen. „Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk begrenzen einander; sondern die Einwohner oder Eigentümer üben die gegenseitige Wirkung aus.“
CLAUS LEGGEWIE
Aus der Nahsicht wird
das Bild vom bürokratischen
Staat dekonstruiert
Tobias G. Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg, Anna Wyss:
Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes. Hamburger Edition, Hamburg 2020. 344 Seiten, 32 Euro. E-Book: 25,99 Euro.
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