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Die Anfänge des Internationalismus vor 1914
Madeleine Herren: Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865-1914. R. Oldenbourg Verlag, München 2000. 551 Seiten, 168,- Mark.
Ob Weltfrauenkonferenz, Umweltgipfel oder Weltaidstag: Wir haben uns längst an Mammutkongresse gewöhnt, in denen Delegierte fast aller Länder der Erde versuchen, Lösungen für globale Probleme zu finden. Vertraut ist uns auch, daß gerade die Entwicklungsländer auf diesen Zusammenkünften ein Forum finden, um ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Ob in der KSZE, den Vereinten Nationen (UN) oder der World-Trade-Organisation: Weltpolitik und Weltwirtschaft sind hochgradig vernetzt und keinesfalls auf wenige große Staaten beschränkt.
Den Anfang fand das System des Internationalismus nicht (wie man vermuten könnte) mit der Gründung des Völkerbundes oder der UN. Weit früher, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nahm die globale Verflechtung neue Dimensionen an. Das verwundert um so mehr, als das Zeitalter des Hochimperialismus als Epoche der Weltmächte gilt, in der kleine Staaten in den internationalen Beziehungen keine Rolle spielten. Für den Bereich der großen Politik trifft dies gewiß zu. Die Expansion des Weltmarktes und die Revolutionierung des Verkehrs erforderten allerdings ein dichtes Geflecht grenzüberschreitender Absprachen unterhalb der Ebene der Kabinettspolitik. Die immer schneller voranschreitende Globalisierung machte Absprachen über gemeinsame Maße und Gewichte genauso unabdingbar wie über Seuchenbekämpfung und Migrationsprobleme.
Madeleine Herren untersucht dieses Phänomen anhand der Beispiele Belgiens, der Schweiz und der Vereinigten Staaten, wobei sie eindrucksvolle Ergebnisse zutage fördert. In der Zeit vom Ende des amerikanischen Bürgerkrieges bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges waren die Großmächte in den zahlreichen Kongressen zum Handels-, See- und Wechselrecht, zur Kommunikation und zur Sozialpolitik gezwungen, auch die bislang nicht an den internationalen Beziehungen beteiligten Länder einzubeziehen. Die Vorteile, die die Mitglieder der Pentarchie mit der Verbesserung des globalen Wirtschafts- und Informationsflusses erzielten, bewirkten gleichzeitig "die Aufwertung der Kleinen, der Abhängigen und der Nichtsouveränen". Es etablierte sich allmählich, so argumentiert Herren überzeugend, ein System der grenzübergreifenden Kooperation, in dem sich Staaten wie Belgien und die Schweiz neue Möglichkeiten der Profilierung boten. So waren die meisten internationalen Organisationen in diesen beiden Ländern angesiedelt. Nicht nur deren Neutralität legte dies nahe. Brüssel und Bern sahen darin vor allem die Chance, internationale Reputation zu erwerben, die sie auf dem klassischen Feld der Großmachtdiplomatie nicht gewinnen konnten.
Es ist das große Verdienst von Herrens Arbeit, die bislang verborgenen Anfänge eines neuen Systems der internationalen Politik aufgezeigt zu haben, das die Gleichwertigkeit der Staaten manifestierte. Man mag es für unerheblich halten, ob ein nichtsouveränes Land wie Ägypten am Weltpostkongreß teilnahm, ob in Brüssel der Botanikkongreß oder in Genf der Kongreß für Kriminalanthropologie tagte. Gewiß, die Dominanz der Großmächte war ungebrochen, und die Kooperation vermochte sich als dominierendes Prinzip in den internationalen Beziehungen vor 1914 nicht durchzusetzen. Dennoch ist es wichtig zu betonen, daß in dieser Zeit der Ursprung des Völkerbundes und der UN liegt.
Nach der anstrengenden Lektüre bleibt auch Kritisches anzumerken. So bedeutend die Ergebnisse sind, so zweifelhaft erscheinen die Ausführungen zur konkreten Relevanz des Internationalismus für die untersuchten Länder. Herren glaubt, daß sich durch die bewußte Förderung der multilateralen Vernetzung für die kleinen Staaten "Hintertüren zur Macht" öffneten, ohne stichhaltig nachweisen zu können, daß sich das außenpolitische Gewicht von Brüssel und Bern wirklich nennenswert veränderte. Die Gegenstände der oft ergebnislosen internationalen Kongresse und Konferenzen waren hierfür viel zu unbedeutend. Der Internationalismus brachte den kleinen Staaten keine neue Macht. Es begann sich lediglich ein neues System zu etablieren, das viele Jahre später mit der Schwächung der europäischen Großmächte und der Dekolonisation zu einer neuen Weltordnung führte.
Diese Kritik läßt sich auch auf die Untersuchung der Vereinigten Staaten übertragen. Es ist erstaunlich, daß selbst eine solche Großmacht in hohem Maße an dem aufkommenden internationalen Kongreßwesen partizipierte. Wenngleich die Hervorhebung des eigenen Großmachtstatus dabei gewiß ein Nebeneffekt war, erscheint die Teilnahme an Währungs- und Sanitätskonferenzen für den amerikanischen Weltmachtstatus allenfalls marginal zu sein.
SÖNKE NEITZEL
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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