Helene Schulze, vergessene Autorin der feministischen Avantgarde, ist tot. Jetzt wird sie als Kandidatin für den Deutschen Buchpreis gehandelt. Ihre Freundin Elvira Katzenschlager soll den Nachlass sortieren und findet sich unversehens in einer Marketingmaschinerie voll Gier, Neid und Sensationsgeilheit wieder. Empört bricht sie ein großes Nachruf-Interview ab und begibt sich mit dem wesentlich jüngeren Kameramann Adrian auf einen Roadtrip durch Österreich, um die verzerrte Biografie ihrer Freundin richtigzustellen. Was als origineller Rachefeldzug beginnt, wird immer mehr zum Kreuzzug gegen Bigotterie und Sexismus. Sie verkleiden Heldenstatuen, demontieren Bildstöcke und stören Preisverleihungen. Immer atemloser, immer krimineller werden die Regelbrüche der beiden auf ihrem Weg nach Neapel, wo die letzte Aktion geplant ist. Gertraud Klemm legt den Finger dorthin, wo es wehtut. Am Beispiel der Literaturbranche zeigt sie, wie es um die gleichberechtigte Wahrnehmung von Frauen tatsächlich steht; und dass es mehr Rebellion und Mut braucht, um wirklich etwas zu verändern. "Symbole allein, das weiß sie schon, funktionieren nicht als Protest, denn Symbole tun niemandem weh; und wenn es nicht wehtut, berührt es nicht, und wenn es nicht berührt, kann man es gleich bleiben lassen."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2020Protesthäkeln für Jesus
Gertraud Klemm rächt in "Hippocampus" die späte feministische Avantgarde mit zwölf Heldentaten
Es ist nicht so, dass Gertraud Klemm als Autorin keinen Erfolg hätte. Ihr "Muttergehäuse" wurde viel gelobt; ihr "Aberland" bekam den Publikumspreis in Klagenfurt und wurde 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dass es dennoch nur für den Irseer Pegasus gereicht hat, wurmt Klemm aber doch. Jedenfalls hat sich in ihr einiges an Wut auf den männlich dominierten Literaturbetrieb aufgestaut, der den großen Werken großer alter Frauen im Zweifel doch lieber die provozierenden Geniestreiche männlicher Langweiler vorzieht. Darunter leiden dann Märtyrerinnen wie Ingeborg Bachmann oder eben Helene Schulze, die heute schon wieder vergessene Ikone der "späten feministischen Avantgarde", eine Erfindung Klemms für ihren Roman "Hippocamus" - die Autorin orientierte sich dabei wohl auch am Schicksal von Brigitte Schwaiger ("Wie kommt das Salz ins Meer"), die nach einer Reihe von Enttäuschungen 2010 Suizid beging.
In den Siebzigern wurde Helene selbst von den herrschenden Männchen in den Feuilletonredaktionen und Preisjurys gefeiert. Aber dann war sie plötzlich nur noch die "alternde Karwallemanze", so peinlich wie eine breithüftige Oldschool-Feministin in lila Latzhosen neben einer Influencerin der Generation MeToo. Überfordert und angewidert vom sexistischen Literaturbetrieb, von Figuren wie dem kleinen dicken Kritiker Arthur B. Liebig oder dem Aktionskünstler Köll, der Frauen als Material für seine Blut-und-Hoden-Kunst missbrauchte, floh Schulze in eine Ehe in der Provinz. Nach zwei Kindern, sinnloser "Aufopferung" und einigen literarischen Flops war sie reif für die Donau.
Die Schulze und ihre "Zombiethemen" waren mausetot, bis ihre alte Freundin Elvira Katzenschlager kam, in mancher Hinsicht eine Gesinnungs-, Leidens- und Generationsgenossin der Autorin. Gertraud Klemm war bei der Stadt Wien als Beamtin für die Trinkwasserkontrolle zuständig, bevor sie sich als Autorin selbständig machte. Elvira lebte in einer Frauen-WG mit Helene, ehe sie mit einem Haizirkus durch Osteuropa tingelte und neun Jahre auf Gomera überwinterte. Jetzt fasst sie den Entschluss, die Heilige Helene zu rehabilitieren, rekonstruieren, rächen, jedenfalls wieder "sichtbar zu machen". Elvira reaktiviert ihren alten Hippiebus und engagiert einen jungen Assistenten fürs Grobe. Adrian ist prekär beschäftigter Naturfilmer, internetaffiner Digital Native und gerade unglücklich in die schöne junge Katalyn verliebt. Genau der richtige Mann also für Elvira: Ihr Leibsklave kocht und chauffiert, fotografiert und dokumentiert und stellt nur selten dumme Fragen.
Zusammen mit ihrem Mädchen für alles tourt Elvira durch die finsterste österreichische Provinz und hinterlässt überall ihre Duftmarke als Männerkunstvandalin und feministische Denkmalschänderin. In Hintermoos drapiert sie den Hochsitz eines Obersenatsrats mit ihren Fäkalien, in Erpendorf einen gekreuzigten Jesus mit einem selbstgehäkelten Jäckchen und ein Kriegerdenkmal mit einer Pappmaché-Vulva. In Linz beschmiert sie das Museum des übergriffigen Aktionskünstlers Köll, in Salzburg blamiert sie bei einer Preisverleihung den kleinen dicken Kritiker, in Klagenfurt verwandelt sie den Bachmann-Salat auf den Speisekarten in ein Fanal weiblichen Protests. Am Ende ihres Rachefeldzugs kann Adrian Elvira nur mit Mühe daran hindern, einen wertvollen antiken Riesenphallus in einem neapolitanischen Phallusmuseum zu zertrümmern. Zweitausend Jahre Männerherrschaft sind genug.
Ihre kühnen Kunstinstallationen signiert Elvira mit einem Seepferdchen. Hippocampus ist nicht nur die Gehirnregion, die für Konsolidierung und Koordination des Gedächtnisses zuständig ist, sondern auch das einzige Tier, bei dem die Männchen die Kinder austragen. So bleibt die Spur der Verwüstung im Literaturbetrieb nicht lange unbemerkt. Helenes Roman "Der Drohnenkönig" wird posthum auf die Buchpreis-Shortlist gesetzt, ihre engagierte Nachlassverwalterin als Mutter Courage im Geschlechterkrieg gefeiert. Die Katzenschlager ist nicht immun gegen die Versuchungen von Ruhm und Preisen, aber für die Krokodilstränen und dummen Interviewfragen der Feuilletonmännchen und ahnungslosen Kulturmagazinweibchen hat sie nur Hohn und Häme übrig.
Dafür kommt sie auf ihrem Road-Trip Adrian näher. Anfangs nur der Depp im Frauentaxi, wird er am Ende fast so etwas wie ein Freund. Klemm ist, nicht einmal zu Unrecht, stolz auf die Sexszenen zwischen dem knackig-unbedarften Jüngling und der "vertrockneten alten Intellektuellen". Keine Missionarsstellung, keine Spur von Scham oder Demut, nur ein wenig Mitleid, Lässigkeit und Alt-68er-Schmuddelchic. Elvira nimmt sich, was sie braucht, und zerstört, was Männer und Medien lieben, auch wenn sie dabei nur verlieren kann. Sie geht dorthin, wo's wehtut, wo alle sozialen Netzwerke und feministischen Seilschaften reißen: "Gesetze brechen. Regeln missachten. Männer aufreißen".
Klemm ist vielleicht keine Jelinek, auch keine Streeruwitz, nicht einmal so ätzend wie Stefanie Sargnagel, aber sie hat auch Mut und Witz und Schmäh. Fast fünf Jahre arbeitete sie an ihrem vierten Roman. Anfangs lief es beim Schreiben zäh, aber dann, bei einem Arbeitsstipendium in Schottland, floss es offenbar wie von selbst. Das sieht man dem Roman dann manchmal auch an: Für eine Literatursatire ist er zu lang. Die Abrechnung mit dem Haizirkus Literaturbetrieb ist gallenbitter, die komplizierte Beziehung zwischen Elvira und Adrian fein beschrieben. Aber auf die Dauer werden die Endlosschleifen und Schleifchen weiblicher Aktionskunst doch ein bisschen lang und larmoyant.
Die Hippocampus-Happenings sind gut konzipiert und mittig im Gesicht der Watschenmänner plaziert, aber zwölf hätten es nicht sein müssen. Klar, Herkules hat auch zwölf Heldentaten absolviert. Aber frau muss ja nicht jeden mythologischen Keulenhieb mitmachen, den Männer sich in ihrer "heiligen Dreifaltigkeit der Durchschnittlichkeit" - Grillzange, Fußball und Bier - ausdenken.
Dabei verfügt Klemm über genug grimmige Selbstironie, um die ganz große Moralkeule im Hüftgürtel stecken zu lassen. Elvira ist nicht nur Opfer, sondern auch Täterin, Kratzbürste, Säuferin, sogar Romantikerin, wenn sie sich mit ihrem Assistenten auf dem Campingplatz in den Sonnenuntergang trinkt. Adrian hadert im Stillen mit der "alten Hexe". Aber weil er ein höflicher, geduldiger Kulturbanause und Elvira die verschwindende Furie des alten Radikalfeminismus ist, kommen Mann und Frau eigentlich ganz gut miteinander aus.
MARTIN HALTER.
Gertraud Klemm: "Hippocampus". Roman.
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2019. 382 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gertraud Klemm rächt in "Hippocampus" die späte feministische Avantgarde mit zwölf Heldentaten
Es ist nicht so, dass Gertraud Klemm als Autorin keinen Erfolg hätte. Ihr "Muttergehäuse" wurde viel gelobt; ihr "Aberland" bekam den Publikumspreis in Klagenfurt und wurde 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dass es dennoch nur für den Irseer Pegasus gereicht hat, wurmt Klemm aber doch. Jedenfalls hat sich in ihr einiges an Wut auf den männlich dominierten Literaturbetrieb aufgestaut, der den großen Werken großer alter Frauen im Zweifel doch lieber die provozierenden Geniestreiche männlicher Langweiler vorzieht. Darunter leiden dann Märtyrerinnen wie Ingeborg Bachmann oder eben Helene Schulze, die heute schon wieder vergessene Ikone der "späten feministischen Avantgarde", eine Erfindung Klemms für ihren Roman "Hippocamus" - die Autorin orientierte sich dabei wohl auch am Schicksal von Brigitte Schwaiger ("Wie kommt das Salz ins Meer"), die nach einer Reihe von Enttäuschungen 2010 Suizid beging.
In den Siebzigern wurde Helene selbst von den herrschenden Männchen in den Feuilletonredaktionen und Preisjurys gefeiert. Aber dann war sie plötzlich nur noch die "alternde Karwallemanze", so peinlich wie eine breithüftige Oldschool-Feministin in lila Latzhosen neben einer Influencerin der Generation MeToo. Überfordert und angewidert vom sexistischen Literaturbetrieb, von Figuren wie dem kleinen dicken Kritiker Arthur B. Liebig oder dem Aktionskünstler Köll, der Frauen als Material für seine Blut-und-Hoden-Kunst missbrauchte, floh Schulze in eine Ehe in der Provinz. Nach zwei Kindern, sinnloser "Aufopferung" und einigen literarischen Flops war sie reif für die Donau.
Die Schulze und ihre "Zombiethemen" waren mausetot, bis ihre alte Freundin Elvira Katzenschlager kam, in mancher Hinsicht eine Gesinnungs-, Leidens- und Generationsgenossin der Autorin. Gertraud Klemm war bei der Stadt Wien als Beamtin für die Trinkwasserkontrolle zuständig, bevor sie sich als Autorin selbständig machte. Elvira lebte in einer Frauen-WG mit Helene, ehe sie mit einem Haizirkus durch Osteuropa tingelte und neun Jahre auf Gomera überwinterte. Jetzt fasst sie den Entschluss, die Heilige Helene zu rehabilitieren, rekonstruieren, rächen, jedenfalls wieder "sichtbar zu machen". Elvira reaktiviert ihren alten Hippiebus und engagiert einen jungen Assistenten fürs Grobe. Adrian ist prekär beschäftigter Naturfilmer, internetaffiner Digital Native und gerade unglücklich in die schöne junge Katalyn verliebt. Genau der richtige Mann also für Elvira: Ihr Leibsklave kocht und chauffiert, fotografiert und dokumentiert und stellt nur selten dumme Fragen.
Zusammen mit ihrem Mädchen für alles tourt Elvira durch die finsterste österreichische Provinz und hinterlässt überall ihre Duftmarke als Männerkunstvandalin und feministische Denkmalschänderin. In Hintermoos drapiert sie den Hochsitz eines Obersenatsrats mit ihren Fäkalien, in Erpendorf einen gekreuzigten Jesus mit einem selbstgehäkelten Jäckchen und ein Kriegerdenkmal mit einer Pappmaché-Vulva. In Linz beschmiert sie das Museum des übergriffigen Aktionskünstlers Köll, in Salzburg blamiert sie bei einer Preisverleihung den kleinen dicken Kritiker, in Klagenfurt verwandelt sie den Bachmann-Salat auf den Speisekarten in ein Fanal weiblichen Protests. Am Ende ihres Rachefeldzugs kann Adrian Elvira nur mit Mühe daran hindern, einen wertvollen antiken Riesenphallus in einem neapolitanischen Phallusmuseum zu zertrümmern. Zweitausend Jahre Männerherrschaft sind genug.
Ihre kühnen Kunstinstallationen signiert Elvira mit einem Seepferdchen. Hippocampus ist nicht nur die Gehirnregion, die für Konsolidierung und Koordination des Gedächtnisses zuständig ist, sondern auch das einzige Tier, bei dem die Männchen die Kinder austragen. So bleibt die Spur der Verwüstung im Literaturbetrieb nicht lange unbemerkt. Helenes Roman "Der Drohnenkönig" wird posthum auf die Buchpreis-Shortlist gesetzt, ihre engagierte Nachlassverwalterin als Mutter Courage im Geschlechterkrieg gefeiert. Die Katzenschlager ist nicht immun gegen die Versuchungen von Ruhm und Preisen, aber für die Krokodilstränen und dummen Interviewfragen der Feuilletonmännchen und ahnungslosen Kulturmagazinweibchen hat sie nur Hohn und Häme übrig.
Dafür kommt sie auf ihrem Road-Trip Adrian näher. Anfangs nur der Depp im Frauentaxi, wird er am Ende fast so etwas wie ein Freund. Klemm ist, nicht einmal zu Unrecht, stolz auf die Sexszenen zwischen dem knackig-unbedarften Jüngling und der "vertrockneten alten Intellektuellen". Keine Missionarsstellung, keine Spur von Scham oder Demut, nur ein wenig Mitleid, Lässigkeit und Alt-68er-Schmuddelchic. Elvira nimmt sich, was sie braucht, und zerstört, was Männer und Medien lieben, auch wenn sie dabei nur verlieren kann. Sie geht dorthin, wo's wehtut, wo alle sozialen Netzwerke und feministischen Seilschaften reißen: "Gesetze brechen. Regeln missachten. Männer aufreißen".
Klemm ist vielleicht keine Jelinek, auch keine Streeruwitz, nicht einmal so ätzend wie Stefanie Sargnagel, aber sie hat auch Mut und Witz und Schmäh. Fast fünf Jahre arbeitete sie an ihrem vierten Roman. Anfangs lief es beim Schreiben zäh, aber dann, bei einem Arbeitsstipendium in Schottland, floss es offenbar wie von selbst. Das sieht man dem Roman dann manchmal auch an: Für eine Literatursatire ist er zu lang. Die Abrechnung mit dem Haizirkus Literaturbetrieb ist gallenbitter, die komplizierte Beziehung zwischen Elvira und Adrian fein beschrieben. Aber auf die Dauer werden die Endlosschleifen und Schleifchen weiblicher Aktionskunst doch ein bisschen lang und larmoyant.
Die Hippocampus-Happenings sind gut konzipiert und mittig im Gesicht der Watschenmänner plaziert, aber zwölf hätten es nicht sein müssen. Klar, Herkules hat auch zwölf Heldentaten absolviert. Aber frau muss ja nicht jeden mythologischen Keulenhieb mitmachen, den Männer sich in ihrer "heiligen Dreifaltigkeit der Durchschnittlichkeit" - Grillzange, Fußball und Bier - ausdenken.
Dabei verfügt Klemm über genug grimmige Selbstironie, um die ganz große Moralkeule im Hüftgürtel stecken zu lassen. Elvira ist nicht nur Opfer, sondern auch Täterin, Kratzbürste, Säuferin, sogar Romantikerin, wenn sie sich mit ihrem Assistenten auf dem Campingplatz in den Sonnenuntergang trinkt. Adrian hadert im Stillen mit der "alten Hexe". Aber weil er ein höflicher, geduldiger Kulturbanause und Elvira die verschwindende Furie des alten Radikalfeminismus ist, kommen Mann und Frau eigentlich ganz gut miteinander aus.
MARTIN HALTER.
Gertraud Klemm: "Hippocampus". Roman.
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2019. 382 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main