Ob Außenpolitik und Kriegführung, Terror und Massenmord, Kirchenpolitik, Kulturfragen oder Alltagsleben der Deutschen - überall bestimmte Hitler, bis in Details hinein, die Politik des Regimes. Durch seine persönlichen Entscheidungen prägte er es auf eine Weise, die bislang unterschätzt wird. Konsequent zerschlug er Machtstrukturen, die ihn behinderten, und schuf stattdessen eine Führerdiktatur - in seiner schließlich fast grenzenlosen Macht war er auf die Zustimmung der Bevölkerung nicht mehr angewiesen.
Diese Biographie rückt die Person Hitler und ihr Handeln in das Zentrum der Geschichte des Nationalsozialismus: Denn erst das Zusammenspiel der Kräfte, die Hitler bewegten, mit jenen, die er selbst in Bewegung setzte, lässt uns erkennen, was das »Dritte Reich« im Innersten zusammenhielt.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Peter Longerich setzt sich über die Hitler-Forschung hinweg
Hitler-Biographien gibt es genug - sollte man meinen. Aber die Perspektive der Biographen hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert. Stellte Joachim C. Fest in seiner lange Zeit meinungsbildenden Meistererzählung von 1973 noch ganz Hitler als den eigentlichen Akteur der nationalsozialistischen Zeit in den Mittelpunkt, so sprachen spätere Hitler-Interpreten vom "schwachen Diktator". Sir Ian Kershaw interpretierte das "Dritte Reich" in seiner Hitler-Biographie von 1999/2000 als System konkurrierender Elemente in einer polykratischen Struktur, die sich im "working towards the Führer" gegenseitig zu übertreffen suchten und so radikalisierten. Noch später dominierte die Vorstellung einer "Volksgemeinschaft", die sich mehr oder weniger geschlossen hinter Hitler gestellt habe, den Diskurs.
Jetzt legt Peter Longerich nach Bänden über Bormann (1992), Himmler (2007) und Goebbels (2010) ein Buch von gut 1000 Seiten über Hitler vor. Er lässt keinen Zweifel daran, wo er sich in diesem Forschungsfeld verortet: "Hitler wurde weder von einer Massenbewegung ins Kanzleramt getragen noch von einer konservativen Camarilla, die ihn instrumentalisieren wollte, in den Sattel gehievt. Beide Elemente sind unverzichtbar, will man die Konstellation erklären, die zu Hitlers Kanzlerschaft führte; aber gerade wenn man die in diesem Arrangement bereits angelegte Entwicklung zur Diktatur ergründen möchte, muss das Element von Hitlers persönlichem Handeln ins Zentrum gerückt werden" - der Band ist getragen von einem hitlerzentrischen Ansatz.
Das erklärt auch seinen Aufbau und seine Gewichtung. Die ersten gut 400 Seiten erzählen die Biographie Hitlers von seiner Geburt bis zur Ernennung als Reichskanzler (die hier eben doch stärker als "Machtergreifung" erscheint). Hier argumentiert Longerich entlang der bekannten Literatur, legt diese jedoch häufig psychologisierend aus: Vor allem das Scheitern des Putsches vom November 1923 dient in Longerichs Darstellung dazu, dass sich Hitler als "politischer Märtyrer" neu erfindet - das Scheitern wird zum "glorreichen Scheitern", damit zur Voraussetzung für Wiederaufstieg. Longerich kann sich hier noch wenig auf neugefundene Quellen abstützen; später, mit der zunehmenden Rolle von Joseph Goebbels, gewinnen auch dessen Tagebücher zunehmendes Gewicht als Grundlage für die Darstellung. Die Entstehung von "Mein Kampf" beschreibt Longerich eher am Rande; hier ist im Zusammenhang mit der unlängst veranstalteten und von Christian Hartmann geleiteten kritischen Edition des Instituts für Zeitgeschichte in München sehr viel Präziseres publiziert worden.
Rund 260 Seiten widmet Longerich den sechs Friedensjahren des Regimes, wenn man diese trotz des Krieges nach innen und trotz der beginnenden äußeren Expansion so nennen will. Hier tritt ein spürbarer Wechsel der Erzählform auf. Ging es bisher überwiegend um die Person Hitlers, also das, was er selbst tat und erlebte, so bietet Longerich zunehmend eine knappe Gesamtgeschichte des "Dritten Reiches". Das ist nur konsequent, versteht er dieses doch im Kern als das persönliche Werk Hitlers.
Besonders gerät hier Hitlers tiefsitzender Antisemitismus in den Blick, den Longerich schon als sehr früh eliminatorisch versteht. Hier ist wenig von einer "kumulativen Radikalisierung" (so Hans Mommsen) zu spüren; Hitler war schon immer ein fanatischer Judenfeind, und was am Ende in Auschwitz und Treblinka geschieht, ist im vorliegenden Buch nichts anderes als die logische Konsequenz dieser Feindschaft.
Die letzten 330 Seiten also behandeln die Kriegsjahre. Zu den Memoirenschreibern, die Longerich als Quellen heranzieht, treten jetzt auch die bekannten Generals-Autobiographien von Erich von Manstein bis Heinz Guderian. Immer aber ist es Hitler, der die entscheidenden Weichenstellungen vornimmt. Die Entscheidung, vor Dünkirchen zu halten; der Entschluss zum Eingreifen auf dem Balkan; die wechselnden Schwerpunkte in den ersten Monaten des Überfalls auf die Sowjetunion - alles das hat Hitler so gewollt. Mehr noch: Die aus Sicht der Generale dilettantischen Fehlentscheidungen (Halten bei Stalingrad, Verbot des Ausbruchs der Heeresgruppe Kurland und viele mehr) stellen sich in Longerichs Buch als Ausdruck einer höheren - politisch und nicht militärisch-technisch geprägten - Denkweise heraus. Zwar räumt auch Longerich gelegentlich ein, dass Hitlers militärisches Denken stark von seiner eigenen Schützengrabenerfahrung geprägt gewesen sei, aber trotzdem gesteht er ihm auf der Ebene seiner (verbrecherischen) Politik durchaus eine gewisse Kompetenz zu. Longerich nutzt hier auch andere Ego-Dokumente, etwa die Himmler-Tagebücher, Memoiren von mehr oder weniger Beteiligten; eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur sucht man eher vergebens.
Das gilt besonders für die Geschichte des militärischen Widerstands, bei dem er sich - für die Darstellung der Ereignisse am 20. Juli 1944 in Berlin - zwar auf die Nachkriegsberichte der "eidtreuen" Oberleutnant Hans Hagen und Major Otto Ernst Remer abstützt, dafür aber manche neuen Forschungsergebnisse übersieht. Diese Einseitigkeit in der Quellenwahl ist vielleicht der Grund dafür, warum der Autor als Motiv für Verschwörung und Umsturzversuch "das kollektive Eigeninteresse der alten Führungseliten" betont - auch dies ist eine längst viel differenzierter untersuchte Sichtweise.
Longerich geht mit seiner Interpretation nicht einfach in die 1960er Jahre zurück. Dafür haben ihm zu viele neue Quellen und zu viel inzwischen erreichter Forschungsstand zur Verfügung gestanden. Es ist auch nicht a priori verboten, frühere Interpretationen neu aufzugreifen und zwischenzeitlich erfolgte Revisionen in Frage zu stellen. Nur: Das bedarf dann der abwägenden Argumentation und der kritischen Auseinandersetzung mit dem jeweils aktuellen Forschungsstand. Genau das aber leistet die Hitler-Biographie leider nicht.
WINFRIED HEINEMANN
Peter Longerich: Hitler. Biographie. Siedler Verlag, München 2015. 1295 S., 39,99 [Euro].
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