Die verlorene Luftschlacht gegen England bedeutete das Ende von Hitlers Wahn, englischen Boden zu erobern. Nicht ganz! Es gab ja bereits ein britisches Territorium, das von der Wehrmacht okkupiert wurde. Am 28. Juni 1940 griffen die Deutschen von Frankreich aus die Kanalinseln an. Bomben trafen die Häfen von St. Helier auf Jersey und St. Peter Port auf Guernsey. Damit fiel britischer Boden den Deutschen in die Hände und verblieb dort bis zu seiner Befreiung im Mai 1945. John Nettles legt in seinem Buch eine detaillierte Schilderung der deutschen Besatzungszeit vor. Er lässt Zeitzeugen zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen berichten. Der Autor spart dabei auch die heiklen Aspekte der Okkupation nicht aus, etwa die angespannte Beziehung zwischen den Kanalinseln und der englischen Regierung. Denn auf den Inseln verlief die Linie zwischen Kooperation und Kollaboration, zwischen Widerstand und Kriegsverbrechen viel dramatischer als bisher angenommen. Der komplexe Fall der Kollaboration wird ebenso beleuchtet wie das Schicksal der Juden und Zwangsarbeiter auf den Inseln. Nettles lebte während der Dreharbeiten für die Serie Bergerac auf Jersey, seither verbindet ihn eine enge Beziehung zu den Kanalinseln. 2011 unterbrach er seine Karriere als Schauspieler, um sich seiner Arbeit als Dokumentarfilmer und Sachbuchautor zu widmen. Ein Jahr später erschien sein aufsehenerregendes Buch. »Nelles hat all die kleinen Geschichten gesammelt, aus denen sich Historie sich zusammensetzt. Viele sind voller Absurdität.« FAZ
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2015Feind im Bett
Die britischen Kanalinseln
Hitlers Traum von einer Eroberung Englands erfüllte sich nicht. Um so heftiger klammerte er sich an die Kanalinseln, die deutsche Truppen Ende Juni 1940 besetzten. Dies geschah kampflos, weil sich die britische Regierung Mitte Juni zur Entmilitarisierung und Evakuierung entschlossen hatte: "17 000 von 42 000 Menschen auf Guernsey verließen die Insel; 6500 von 50 000 auf Jersey; auf Alderney blieben nur 19 übrig, 129 von 600 verließen Sark", schreibt John Nettles - besser bekannt als "Inspector Barnaby". Der ausgebildete Historiker lernte bei Dreharbeiten die Inseln kennen und schätzen. Seither fasziniert ihn die Besatzungszeit, zumal er etliche Zeitzeugen traf. An Einzelschicksalen entlang schildert er packend den Alltag von Besatzern und Besetzten, von Verfolgern und Verfolgten. Viele Wehrmachtsoffiziere hätten sich als "angenehme Feinde" präsentiert. Damals habe man jüdische Mitbürger "geopfert, um die guten Beziehungen zu den Deutschen nicht zu gefährden". Einige Insulaner versteckten Juden und "entwichene" Zwangsarbeiter. Grausam ging es auf Alderney zu. Diese Mini-Insel ließ Hitler durch den Einsatz sowjetischer Zwangsarbeiter einbetonieren und in "eine Art stationäres Schlachtschiff in der Bucht von St. Malo" umwandeln. Alle Okkupierten haben - so Nettles - in der Besatzungszeit "gelitten", Einzelne vom Unglück anderer profitiert: Denunzianten, Schwarzmarkthändler und jene "Jerry Bags", die sich "mit dem Feind ins Bett legten und dabei keinen Gedanken an England verschwendeten". Nach der Befreiung 1945 lobte der britische Innenminister die Insulaner, die "stolz auf sich sein" dürften. Über Kollaborateure hieß es bald: "Dem Anschein nach halfen sie den Deutschen, in Wahrheit aber dienten sie ihren Leuten", mithin Churchill und der britischen Regierung. Dieses Rechtfertigungmuster sei in London akzeptiert, "jedoch nie von einem ordentlichen Gericht untersucht" worden. Nettles spricht von "Besatzungsaltlast", ja vom Reinwaschen des "Unerwünschten".
RAINER BLASIUS
John Nettles: Hitlers Inselwahn. Die britischen Kanalinseln unter deutscher Besatzung 1940- 1945. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 394 S., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die britischen Kanalinseln
Hitlers Traum von einer Eroberung Englands erfüllte sich nicht. Um so heftiger klammerte er sich an die Kanalinseln, die deutsche Truppen Ende Juni 1940 besetzten. Dies geschah kampflos, weil sich die britische Regierung Mitte Juni zur Entmilitarisierung und Evakuierung entschlossen hatte: "17 000 von 42 000 Menschen auf Guernsey verließen die Insel; 6500 von 50 000 auf Jersey; auf Alderney blieben nur 19 übrig, 129 von 600 verließen Sark", schreibt John Nettles - besser bekannt als "Inspector Barnaby". Der ausgebildete Historiker lernte bei Dreharbeiten die Inseln kennen und schätzen. Seither fasziniert ihn die Besatzungszeit, zumal er etliche Zeitzeugen traf. An Einzelschicksalen entlang schildert er packend den Alltag von Besatzern und Besetzten, von Verfolgern und Verfolgten. Viele Wehrmachtsoffiziere hätten sich als "angenehme Feinde" präsentiert. Damals habe man jüdische Mitbürger "geopfert, um die guten Beziehungen zu den Deutschen nicht zu gefährden". Einige Insulaner versteckten Juden und "entwichene" Zwangsarbeiter. Grausam ging es auf Alderney zu. Diese Mini-Insel ließ Hitler durch den Einsatz sowjetischer Zwangsarbeiter einbetonieren und in "eine Art stationäres Schlachtschiff in der Bucht von St. Malo" umwandeln. Alle Okkupierten haben - so Nettles - in der Besatzungszeit "gelitten", Einzelne vom Unglück anderer profitiert: Denunzianten, Schwarzmarkthändler und jene "Jerry Bags", die sich "mit dem Feind ins Bett legten und dabei keinen Gedanken an England verschwendeten". Nach der Befreiung 1945 lobte der britische Innenminister die Insulaner, die "stolz auf sich sein" dürften. Über Kollaborateure hieß es bald: "Dem Anschein nach halfen sie den Deutschen, in Wahrheit aber dienten sie ihren Leuten", mithin Churchill und der britischen Regierung. Dieses Rechtfertigungmuster sei in London akzeptiert, "jedoch nie von einem ordentlichen Gericht untersucht" worden. Nettles spricht von "Besatzungsaltlast", ja vom Reinwaschen des "Unerwünschten".
RAINER BLASIUS
John Nettles: Hitlers Inselwahn. Die britischen Kanalinseln unter deutscher Besatzung 1940- 1945. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 394 S., 24,- [Euro].
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