Verschwunden
„Höllenkalt“ ist der Auftakt der Island-Krimi-Trilogie von Lilja Sigurdardóttir, spannend und mit ausgeprägter Island-Atmosphäre.
Worum geht es?
Áróra Jónsdóttir lebt in London und ist Ermittlerin im Bereich Wirtschaftskriminalität. Als ihre in Island lebende Schwester Ísafold
sich seit Wochen nicht mehr gemeldet hat, reist Áróra auf Drängen der Mutter nach Reykjavik, um nach…mehrVerschwunden
„Höllenkalt“ ist der Auftakt der Island-Krimi-Trilogie von Lilja Sigurdardóttir, spannend und mit ausgeprägter Island-Atmosphäre.
Worum geht es?
Áróra Jónsdóttir lebt in London und ist Ermittlerin im Bereich Wirtschaftskriminalität. Als ihre in Island lebende Schwester Ísafold sich seit Wochen nicht mehr gemeldet hat, reist Áróra auf Drängen der Mutter nach Reykjavik, um nach ihr zu sehen. Tatsächlich ist Ísafold spurlos verschwunden. Áróra befragt Nachbarn und Ísafolds brutalen Freund Björn und ihre schlimmste Befürchtung wird immer realistischer: Ísafold muss Opfer eines Verbrechens geworden sein.
Das Cover sticht ins Auge. Es ist modern gestaltet, der kräftige Blauton dominiert die schemenhafte Küstenlandschaft; zudem vermittelt die Farbe Blau auch Kälte – passend zum Titel. Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „Helköld sòl“ (= kalte Sonne), die deutsche Fassung wurde aus dem Isländischen von Betty Wahl übersetzt und erschien 2023. Die Handlung spielt in der Gegenwart in Reykjavik und umfasst einen Zeitraum von etwas über zwei Wochen. Die Kapitel sind kurz, teils mit Zeitangaben versehen. Der Schreibstil ist flüssig und bildhaft. Die ganz eigene isländische Atmosphäre ist wunderbar getroffen – die Ausstrahlung und das Treiben in der Hauptstadt, das landschaftliche Umfeld, wie die weiten moosbewachsenen Lavafelder mit den Erdspalten, Kulinarisches, selbst die Affinität der Bevölkerung zu Trollen und Elfen ist erwähnt, all dies unterstrichen durch isländische Ausdrücke. Meine Reiseeindrücke bzw. Erinnerungen an Islands landschaftliche und kulturelle Besonderheiten wurden wieder lebendig.
Man ist von der ersten Seite an mitten im Geschehen, weiß von Beginn an, dass Ísafold ermordet wurde. Das ist jedoch der einzige Wissensvorsprung gegenüber Áróra und dem Polizeibeamten Daniel, der sie bei der Suche nach ihrer Schwester unterstützt. Allen Vermutungen zum Trotz tappt man bis zuletzt im Dunkeln, wie sich alles zugetragen hat. Parallel zu den Befragungen von Nachbarn, Ísafolds Freund und dessen Familie sowie anderen mit ihr in Verbindung gestandenen Menschen ermittelt Áróra quasi in einem zweiten Handlungsstrang in einem Fall der Wirtschaftskriminaliät. Die stetigen Szenenwechsel zwischen Áróras Recherchen und den Einblicken in den Alltag von Ísafolds Nachbarn, gestalten die Handlung abwechslungsreich und halten die Spannung am Köcheln – bis zuletzt nach unerwarteten Wendungen sich – für die Leserschaft – alles klärt. Nicht jedoch für Áróra, denn die Leiche ist und bleibt verschwunden. So schließt das Buch mit den Worten: „Solange sie nicht wusste, wo ihre Schwester war, konnte sie nicht von hier weg. Sie konnte Ísafold nicht verlassen.“
Die Charaktere sind sehr eingehend und anschaulich beschrieben. Die zwei Schwestern, Töchter einer Engländerin und eines Isländers, sind unterschiedlich von deren Genen geprägt, sowohl äußerlich als auch charakterlich. Durch eingeschobene Passagen, wo Áróra gedanklich Erlebnisse mit ihrer Schwester, von Kindheit bis zur Gegenwart, Revue passieren lässt, lernt man die beiden sehr gut kennen. Die zarte, willensschwache Ísafold zog es nach Island und die robuste, bodenständige Áróra lebt lieber in England. Obwohl die beiden nicht immer harmonisierten, so sieht sich doch Áróra stets als die Stärkere, als diejenige, die ihre zwar ältere, aber nicht so lebenstaugliche Schwester beschützen muss. Das Verschwinden und schließlich die Gewissheit des Todes der Schwester trifft sie hart. Trotz ihrer familiären Sorgen verfolgt sie mit Vehemenz ihre Recherchen, als sie finanziellen kriminellen Machenschaften auf die Spur kommt. Ihr Beruf ist ihr Lebenselixier. Áróra ist eine interessante Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, intelligent, emotional, schwierig, generell sympathisch. Abgesehen von Áróra bevölkern den Roman etliche skurrile, nicht alltägliche Figuren, stets sehr gut vorstellbar beschrieben, mit ihren Eigenarten, ihren Geheimnissen und ungewöhnlichen Lebensumständen.
Obwohl es relativ wenig prickelnde Spannungsmomente in diesem Krimi gibt und so gut wie keine Action, hat mich das Buch dennoch gefesselt. Es trieb mich von Kapitel zu Kapitel weiter und weiter bis zum faszinierenden Ausklang, einer Lösung, die ich nicht erwartet hatte. Nun bin ich unheimlich gespannt, wie es mit Áróra im nächsten Band weitergeht.
Für den gelungenen Auftakt gibt es von mir 5 Sterne.