Der britische Historiker Ian Kershaw erzählt in einem meisterhaften Panorama die Geschichte dieses Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Ethnische Auseinandersetzungen, aggressiver Nationalismus und Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und die tiefe Krise des Kapitalismus waren die treibenden Kräfte, die Kershaw dabei besonders in den Blick nimmt. Neben den großen Entwicklungslinien in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft schildert er auch immer wieder Erlebnisse und Erfahrungen einzelner, die einen Eindruck geben vom Leben im Europa der ersten Jahrhunderthälfte.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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Die Fassungslosigkeit, aus der alle Europäer lernten: Der englische Historiker Ian Kershaw hat ein exzellentes Buch über den zerrissenen Kontinent zwischen 1914 und 1949 geschrieben.
Die Geschichte der Länder Europas im zwanzigsten Jahrhundert ist denkbar unterschiedlich verlaufen, und auch die Erfahrungen der Menschen waren von Land zu Land verschieden. Der Kontinent war vor allem durch seine Vielfalt gekennzeichnet und ist es noch. Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt so etwas wie eine europäische Geschichte? Kann man als Einheit erzählen, was sich vor allem durch Vielheit auszeichnet? Man kann, Ian Kershaw führt es auf ebenso eindrückliche wie elegante Weise vor.
Aber auch die Widersprüche und Disparitäten eines solchen Vorhabens treten dabei hervor. Kershaw geht nicht von einer fiktiven Einheit "Europa" aus, sondern nimmt den Begriff zunächst einmal geographisch und erzählt die Geschichte der einzelnen Länder zwar miteinander verwoben, aber doch für sich. Seine Leitfrage ist einfach und plausibel: Wie kam es dazu, dass sich Europa in den vierziger Jahren beinahe selbst zerstört hat? Und natürlich spielen bei einer solchen Frage manche Länder eine sehr große, andere gar keine Rolle. Kershaws Ausgangspunkt ist die sich herausbildende Konfrontation von Demokratie und Diktaturen als Signum der Epoche, wobei er sehr sorgfältig die Abstufungen von autoritären Regimes und faschistischen Diktaturen darlegt.
Auf dieser Grundlage entfaltet Kershaw ein weites Panorama, sprachlich ebenso zurückhaltend wie präzise. Immer wieder aufs Neue geht er dafür die Reihe der europäischen Länder durch. Dabei wird - oft nur auf einer halben oder ganzen Seite - das Spezifische mit großer Klarheit herausgearbeitet, werden nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich gemacht. Überraschend wenig Raum widmet er hingegen der Kolonialpolitik der Mächte, so dass die Frage nach der Bedeutung des Kolonialismus für die Entwicklung auf dem Kontinent etwas unbestimmt bleibt.
Die Grundstruktur des Buches ist konventionell. Die Politik steht im Vordergrund, es wird chronologisch erzählt, und nahezu die Hälfte des Buches ist Deutschland gewidmet, dessen Aufstieg, Fall, Wiederaufstieg und erneuten Sturz Kershaw mit großer Sorgfalt, geradezu mit Anteilnahme schildert. Bei der Frage nach der "Schuld" am Ersten Weltkrieg stellt er das Bild von den "Schlafwandlern" in Frage: Er lässt zwar keinen Zweifel daran, dass Deutschland in etwas höherem Maß für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zu machen ist als die anderen Großmächte, doch die taten ihrerseits auch nichts, um den Konflikt zu entschärfen, im Gegenteil.
Der beschleunigte Aufstieg der politischen Rechten
Dieser Krieg ist für Kershaw der Ausgangspunkt jenes "Höllensturzes" als den er die Entwicklung Europas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts versteht. Tatsächlich aber beginnt er das Buch mit einem Kapitel über die beiden Jahrzehnte vor 1914, das er "Das Goldene Zeitalter" nennt, in dem mit der modernen Industriegesellschaft all jene Widersprüche und politischen Bewegungen entstanden, die das Gesicht der Epoche prägen sollten, vom Aufstieg des Sozialismus und des völkischen Nationalismus bis zu Eugenik und Antisemitismus. Ist dann aber nicht der Erste Weltkrieg nicht doch eher Katalysator als Ausgangspunkt jener Entwicklungen, die dann zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führten?
Im Mittelpunkt der Kapitel über die Zwischenkriegszeit steht der sich nach der kurzen Phase der Hegemonie der Linken rasch beschleunigende Aufstieg der politischen Rechten in allen Ländern. Dabei verweist Kershaw immer wieder darauf, dass sich die Demokratie abgesehen von den Neutralen nur in den Siegerländern des Ersten Weltkriegs halten oder durchsetzen konnte, während bei den Kriegsverlierern sich nach kurzer oder längerer Zeit Diktaturen herausbildeten. Die große Ausnahme war Italien, das zu den Siegern gehörte, sich aber schon in den frühen zwanziger Jahren in die Arme Mussolinis warf. Doch Italien war ein Land der gefühlten Niederlage, weil es im Krieg nur geringe Teile seiner territorialen Erweiterungsziele hatte durchsetzen können.
Der Aufstieg Hitlers in Deutschland war gewiss nicht alternativlos, das wird sehr deutlich. Nachdem die Republik die unzähligen Unruhen, Rebellionen, die Putsche von rechts und die Aufstände von links überstanden hatte, schließlich auch noch die Ruhr-Besetzung und die verheerende Inflation, wurde Weimar erst durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zur Strecke gebracht. Mit Hitlers Machtübernahme aber waren die Aussichten auf eine friedliche Zukunft des Kontinents dahin, zu eindeutig setzte der Diktator auf die Revanche für die Niederlage 1918 und auf die Errichtung eines Kolonialraums im Osten.
Angesichts der gewaltigen Aufrüstung des Nazi-Reiches bot die Rheinland-Besetzung 1935 die letzte Gelegenheit, um Hitler in den Arm zu fallen. Aber eine gefährliche Krise, womöglich einen Krieg riskieren, wenn die Deutschen in Deutschland einmarschierten? "Appeasement" war der Versuch der Beschwichtigung, der friedlichen Beilegung der Konflikte, betont Kershaw, auch Ausdruck des schlechten Gewissens gegenüber Deutschland wegen der harschen Bedingungen von Versailles. Das führte zum Münchner Abkommen, das Kershaw als Kapitulation des Westens beschreibt, aber auch als Wendepunkt. Danach ging es nur noch um Zeitgewinn, um nachzurüsten.
Die schwierige Durchsetzung pluralistischer Werte
Den Krieg schildert Kershaw in allen Facetten, verweist immer wieder auf die Dynamik der Gewalt, die das nationalsozialistische Deutschland in Gang setzte und deren furchtbarster Ausdruck der Mord an den Juden war. Kershaw lässt keinen Zweifel daran, wie breit die Unterstützung Hitlers in der deutschen Bevölkerung war, auch während des Krieges, wenngleich er sich von vereinfachenden Erklärungsmustern wie der Vorstellung von einer homogenen "Volksgemeinschaft" absetzt.
Diese in ihrer Genauigkeit und Vielfalt außerordentlich beeindruckenden Passagen machen den Hauptteil des Buches aus. Ihnen schließt sich ein Kapitel an, in dem "Kontinuitäten langfristiger sozioökonomischer Wertesysteme, auch kulturelle Entwicklungslinien" skizziert werden, die im Verlaufe der Erzählung nicht berücksichtigt worden waren. Hier kommt vieles zusammen: Bevölkerungsentwicklung, Kriegswirtschaft, Ausbau der Sozialversicherungssysteme, die Stellung der Frauen, die Rolle der Kirchen und der Intellektuellen, schließlich die populäre Unterhaltung. Das ist im Einzelnen ebenso interessant wie bedeutsam, aber es wirkt zuweilen doch etwas ungeordnet. Man hätte sich gewünscht, die kulturellen oder wirtschaftlichen Entwicklungen wären direkt mit den politischen in Bezug gesetzt worden.
Kershaw beendet den ersten Teil seiner auf zwei Bände berichteten Darstellung nicht mit dem Jahr 1945, sondern mit einem Kapitel über die Nachkriegsjahre bis 1949. Eingehend beschreibt er die verschieden ausfallende Abrechnung mit Nazismus und Kollaboration in den europäischen Ländern. Die schwierige Durchsetzung pluralistischer, demokratischer Verhältnisse im Westen und die Errichtung neuer Tyrannei unter sowjetischer Besatzung stehen am Ende dieser Darstellung.
Wie kam es dazu, dass sich Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beinahe selbst zerstört hätte? Der Aufstieg des radikalen Nationalismus und des Kommunismus stalinistischer Prägung im Kontext des Ersten Weltkriegs steht bei Kershaw im Mittelpunkt. Die Tatsache, dass sich die liberale Demokratie in den Verliererländern des Ersten Weltkriegs nicht hatte durchsetzen können, dass insbesondere in Deutschland der Drang zur Revanche so breite Unterstützung und in Hitler schließlich die Person fand, die diesen Drang in ein massenmörderisches Programm einzigartiger Radikalität umsetzte: Darin, so zeigt uns Kershaw in eindrücklicher Weise, liegt die wesentliche Ursache für den "Höllensturz".
Gibt es nun eine europäische Geschichte? Nein, wenn man darunter eine homogenisierende, die extrem unterschiedlichen Entwicklungen einebnende Sichtweise verstünde. Ja, wenn man wie Kershaw die gemeinsamen ebenso wie die unterschiedlichen Erfahrungen der Europäer deutlich herausstellt, die spezifischen Wege einzelner, gerade kleinerer Länder berücksichtigt und etwas von der Fassungslosigkeit mitteilt, die nahezu alle Europäer ergriff, als sie das Ausmaß des Schreckens und der Vernichtung auf ihrem Kontinent erkannten.
Hier lag, das ist die Quintessenz dieses Buches, der Ausgangspunkt für die dann in weiten Teilen des Kontinents viel bessere zweite Hälfte des Jahrhunderts. Wenngleich wir gegenwärtig beobachten können, wie der Nachhall dieses Schreckens, der Europa auf einen besseren Weg brachte, sich zu verflüchtigen beginnt.
ULRICH HERBERT
Ian Kershaw: "Höllensturz". Europa 1914 bis 1949.
Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Britta Schröder. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 768 S., geb., 34,99 [Euro].
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