Die irische Wäscherin Shirley ist sich sicher: Heute ist ihr letzter Tag im Hotel Amerika. Ihr heimlicher Freund wird sie herausholen aus diesem 30-stöckigen Luxushotel in New York, in dem die Gäste hofiert werden, die Angestellten aber von der Hand in den Mund leben. Das glitzernde Kleid für ihr
neues Leben liegt jedenfalls schon bereit. Der deutsche Küchenjunge Fritz hingegen ist gerade erst…mehrDie irische Wäscherin Shirley ist sich sicher: Heute ist ihr letzter Tag im Hotel Amerika. Ihr heimlicher Freund wird sie herausholen aus diesem 30-stöckigen Luxushotel in New York, in dem die Gäste hofiert werden, die Angestellten aber von der Hand in den Mund leben. Das glitzernde Kleid für ihr neues Leben liegt jedenfalls schon bereit. Der deutsche Küchenjunge Fritz hingegen ist gerade erst angekommen und muss sich erst einmal zurechtfinden in diesem Wirrwarr und Trubel. Er wünscht sich nichts sehnlicher als einen eigenen Schlafplatz. Als die niederen Angestellten in ihrer Pause faule Kartoffeln vorgesetzt bekommen, ist das Maß voll. Nach und nach füllt sich die Kantine. Dem Hotel droht ein veritabler Aufstand...
In der Reihe "Reclams Klassikerinnen" gibt der Reclam Verlag teils komplett in Vergessenheit geratenen Schriftstellerinnen den literarischen Raum, den sie verdienen. Jüngst ist mit "Hotel Amerika" der deutschsprachigen ungarischen Autorin Maria Leitner (1892 - 1942) ein Klassiker aus dem Jahre 1930 erschienen, der seinerzeit im Neuen Deutschen Verlag veröffentlicht wurde. Es ist eine eindrucksvolle Neuveröffentlichung.
Bemerkenswert ist zunächst, wie es Maria Leitner gelingt, die Leser:innen unmittelbar hineinzuwerfen in diesen einen Tag im Leben verschiedener Hotelangestellter. Sofort ist man mittendrin in diesem Luxushotel, das einem Bienenstock gleicht. Alles ist in Bewegung, der neue Tag beginnt und mit ihm eine weitere höchst anstrengende Arbeitsschicht, an deren Ende man sich vielleicht über ein paar zusätzliche Dollar Trinkgeld freuen darf - wenn man Glück hat. Shirley, eine junge Irin, die seit sechs Jahren in der Hotelwäscherei beschäftigt ist, hat dieses Glück auf ihrer Seite. Voller Zuversicht blickt sie auf ihren offenbar letzten Arbeitstag, die letzten Schindereien, das letzte schlechte Essen. Ihr neuer Freund, der gerade als Gast im Hotel abgestiegen ist, hat ihr versprochen, an so viel Geld zu kommen, um ein gemeinsames neues Leben beginnen zu können.
"Hotel Amerika" erinnert in gewissen Sequenzen an eine zugänglichere Variante von Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Eine Gemeinsamkeit ist, dass sich die Handlung an genau einem Tag abspielt. Zudem setzt auch Leitner auf einen erzählerischen Bewusstseinsstrom, der mal bei Shirley, mal bei Fritz oder anderen Figuren ist oder einfach die verschiedenen Etagen und Zimmer des Hotels passiert. Ein Unterschied ist jedoch, dass es bei Maria Leitner viel mehr direkte Rede gibt. Gerade in den zwei zentralen Momenten des Romans, in denen ein Aufstand der Angestellten droht, gibt ein Wort das andere und aus der Vielzahl der Stimmen ist gar nicht mehr herauszuhören, wer da jetzt eigentlich gerade was fordert. Das ist ganz hervorragend umgesetzt und gibt diesen Szenen einerseits eine hohe Intensität, andererseits fühlt man als Leser:in genauso überfordert wie die Angestellten in diesem Raunen und Rufen.
Ein weiteres Plus ist, dass Leitners Sympathie immer auf Seiten der Armen und Schwachen ist. Es sind Figuren wie das schwedische Zimmermädchen Ingrid oder eben der idealistische Fritz, der die Chancen vor allem in einer organisierten Arbeiterschaft sieht, die lange im Gedächtnis bleiben. Der wichtigste und gelungenste Charakter ist aber Shirley, die den Roman eröffnet und beschließt. Scheinbar furchtlos ob der guten Aussichten, ist es ausgerechnet ein junges Mädchen, das die Fäden in die Hand nimmt. Und auch wenn Shirleys eindringliche Rede bei den Vorgesetzten wegen des fehlenden Rückhalts verpufft, ist sie eine starke Frauenfigur, in der sowohl die feministischen als auch die sozialistischen Ideale Maria Leitners aufblitzen.
Neben der im Vordergrund stehenden Sozialkritik ist "Hotel Amerika" auf einer untergeordneten Ebene fast so etwas wie ein Kriminalroman. Im Hotel übernachtet nämlich gerade ein einflussreicher und berühmter Verleger, dessen Tochter kurz vor der Traumhochzeit an diesem besonderen Ort steht. Gäbe es da nicht jemanden, der ein paar pikante Details über den mächtigen Mann weiß.
Bereichert wird die auch optisch gelungene Neuausgabe durch ein ausführliches und informatives Nachwort der Historikerin Katharina Prager. Hier erfährt man nicht nur traurige Details über die letzten Monate im Leben der Maria Leitner, sondern auch, dass diese den Roman sozusagen aus erster Hand erzählte. Denn Leitner selbst arbeitete als Scheuerfrau in diversen New Yorker Hotels.
Maria Leitners "Hotel Amerika" ist ein spannendes und eindringliches Plädoyer für Solidarität und das Sichtbarmachen eines Prekariats, das in den Schilderungen der Arbeitsbedingungen erstaunlich aktuell wirkt. Das Buch war 1933 eines der ersten, das der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten zum Opfer fiel. In Bonn erinnert nur noch ein Gedenkstein daran. Es ist Reclam und Maria Leitner zu wünschen, dass sie durch die Neuveröffentlichung künftig in einem Atemzug mit ungleich bekannteren Zeitgenoss:innen wie Anna Seghers oder Bertolt Brecht genannt wird.