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Rumänien ist Gastland der kommende Woche beginnenden Leipziger Buchmesse. Viel junge Literatur ist eigens dafür übersetzt worden, jedoch kaum ein Klassiker. Die Ausnahme aber ist ein Geschenk: Ion Luca Caragiales Kurzprosa bei Guggolz.
Von Andreas Platthaus
Das Denkmal für den Nationaldichter Ion Luca Caragiale steht in der rumänischen Hauptstadt Bukarest am Übergang von der Strada C. A. Rosetti in die Strada Maria Rosetti - zwei Straßen, die ein Ehepaar feiern, das wie Caragiale im neunzehnten Jahrhundert die rumänische Literatur geprägt hat. Allerdings waren die Rosettis auch politische Revolutionäre, und das kann man von dem eine Generation später geborenen Caragiale nicht behaupten. Vielleicht ist deshalb nach ihm nur eine kleinere Straße benannt, die man um einige Ecken vom Denkmal her erreicht. Aber den Kommunisten war der Dichter so wichtig, dass sie diese überlebensgroße Plastik von ihm aufstellten. Die war allerdings als eine Art Resteverwertung entstanden, denn der Bildhauer Constantin Baraschi hatte 1957 eigentlich eine Lenin-Statue angefertigt, die dann bei einem staatlichen Wettbewerb unterlag. Daraufhin ersetzte Baraschi den Kopf des russischen Revolutionsführers durch den des rumänischen Autors, weil der bürgerliche Anzug Lenins ihm auch zu Caragiale zu passen schien, und bot das Denkmal ein zweites Mal an - erfolgreich. Nun steht er da, der Dichter, linke Hand salopp in der Hosentasche, rechte am Revers und den Blick der Zukunft zugewandt. Die Ähnlichkeit mit historischen Fotos ist vage.
Diese Geschichte hätte sich auch Caragiale selbst ausdenken können, denn der 1852 geborene Schriftsteller liebte Grotesken und Satiren. Seinen Ruhm in Rumänien machen indes die Komödien aus; im Literaturmuseum von Bukarest ist er der Star im obersten Geschoss, das den Dramatikern gewidmet ist. Die Rumänen lieben Theater, deshalb ist es im Museum dem Himmel am nächsten. Sie schätzen aber auch die Lyrik, deshalb bilden die Dichter das Fundament im Erdgeschoss. Dazwischen ist die Belletristik eingeklemmt, und auch da gibt es einen Caragiale - Ion Lucas Sohn Mateiu, der mit seinem einzigen Roman, "Craii de Curtea-Veche" von 1929, in seiner Heimat als Meister des Modernismus gefeiert wird. Für den Vater ist im Prosa-Geschoss kein Platz, obwohl seine Texte Meisterwerke sind. Und ihrer Zeit weit voraus.
Das kann nun endlich auch wieder das deutsche Publikum feststellen, nachdem vereinzelte Übersetzungen durch den rumänischen Staatsverlag sowie DDR-Veröffentlichungen aus den fünfziger Jahren und eine schmale Sammelausgabe des Insel-Verlags von 1970 längst vergriffen waren. Angenommen hat sich des bei uns heute weitgehend unbekannten rumänischen Nationaldichters der auf Wiederentdeckungen spezialisierte Guggolz-Verlag aus Berlin. Und nicht nur, dass er die bei weitem umfangreichste deutsche Ausgabe von Caragiales Prosatexten erstellt hat, er hat auch alle eigens neu übersetzen lassen, von Eva Ruth Wemme, die in ihrem Nachwort den Autor dafür preist, dass er unter einer "chamäleonhaften Oberfläche" alles scheinbar Dumpfe in Boshaftigkeit und Komik verwandele "und dass sich mit diesen beiden Kräften die Texte Caragiales stellenweise von selbst zersetzen, zur Verzweiflung des Lesers".
Das klingt nicht nach einem Lob, doch Wemme - als Jüngste der etablierten Übersetzer aus dem Rumänischen und als selbst nicht in Rumänien Geborene wie die meisten ihrer prominenten Kollegen - betrachtet Caragiale ohne Nostalgie. Ihre Übertragung ist gerade deshalb auch ohne falsche Rücksichtnahme auf einen bestimmten Tonfall; Caragiale erscheint in seiner neuen deutschen Stimme wie ein Zeitgenosse, der lediglich in einem sehr seltsamen Land lebt. Und mit einem Mal wird klar, woran seine Erzählungen, die er selbst meist als "Novellen" bezeichnete, erinnern: an die ebenfalls groteske und dabei genau so präzise gearbeitete Prosa des russischen Schriftstellers Daniil Charms. Nur dass der erst zwanzig Jahre nach Caragiales Tod Kurzprosa publizierte, nachdem auch er zuvor vor allem fürs Theater geschrieben hatte.
Man nehme nur eine Erzählung wie "Ion . . .", deren Titelheld mit seinem Autor Caragiale den Vornamen teilt (wie es auch die meisten Ich-Erzähler der Geschichten tun). Dieser Ion wagt es, den von der Volksmasse bewunderten Gesang eines Esels zu kritisieren, wird von den begeisterten Zuhörern furchtbar verdroschen und bleibt seinem ästhetischen Urteilt dennoch treu. Am Schluss geht er "gemessenen Schrittes davon, weiß der Teufel wohin . . . um Besseres zu finden". Keine Lehre folgt aus der Schiderung, weder für den Verprügelten noch für die Schläger, noch für den Leser. Und doch ist da ein steter impliziter Verweis auf die Vernunft, die in diesen Geschichten zwar nicht zu finden ist, ohne die wir aber gar kein Kriterium hätten, die Erzählungen grotesk zu finden.
"Caragiale ist kein Moralist, und er hat keine Ideologie", behauptet Wemme, aber das ist so pauschal nicht wahr. Man nehme etwa die nur fünfseitige Erzählung "Manko". Darin trifft der Ich-Erzähler in einem Kurort auf einen gebildeten Ungarn, der sich als unerträglicher Nationalist erweist. Im Zeitraum, aus dem die bei Guggolz erschienene Prosa stammt, den zweiundzwanzig letzten Lebensjahren von Carigiale, war die Rivalität zwischen seinem erst 1881 selbständig gewordenen Heimatland und Ungarn gewaltig, weil letzterer Staat eine große rumänische Minderheit aufwies, von der man in Budapest fürchtete, sie könnte sich dem neuen Königreich anschließen wollen. Nach dem Ersten Weltkrieg, als das Habsburgerreich zerschlagen worden war, sollten sich die Verhältnisse verkehren: Rumänien hatte sein Territorium vor allem auf Kosten Ungarns verdoppelt und besaß nun selbst eine große ungarische Minderheit, übrigens bis heute.
Caragiale hat das nicht mehr erlebt, aber "Manko" endet mit dem inneren Stoßseufzer des Ich-Erzählers angesichts des unbelehrbaren Ungarn: "Gut, dass Gott uns Rumänen vor so einem Manko bewahrt!" Und wer Caragiale kannte, der wusste, dass diese Bemerkung als Warnung zu lesen war. Die Einflusslosigkeit von Nationaldichtern in politischen Fragen aber zeigt sich immer, wenn sie der eigenen Nation den Spiegel vorhalten wollen - weiß Gott nicht nur in Rumänien.
Umso einflussreicher ist Caragiale literarisch. Bisweilen meint man in der Abstrusität des Geschilderten das absurde Theater seines Landmanns Eugène Ionesco, eines großen Bewunderers, vorweggenommen zu sehen; "verkehrt" ist eine von Caragiales Lieblingsvokabeln. Da ist die hinreißende Sammlung von Telegrammen, die in der gleichnamigen Erzählung im medienbedingt knappen Ton eine politische Rivalität aufscheinen lässt, die in einem Kuhhandel mündet, der mehr über Korruption und Intrigen erzählt, als es sogar die rumänische Gegenwart leisten könnte. In solchen Montage-Kunststücken, deren es einige gibt, erweist sich Caragiale als Avantgardist, der zu den experimentierfreudigsten Prosaisten der europäischen Moderne zu rechnen ist.
1899 war zum Beispiel seine Novelle "Osternacht" erschienen, die Caragiale mit einer Vorbemerkung einleitet, in der er behauptet, noch nie ernsthafte Literatur gemacht zu haben, es jetzt aber versuche. Dann erzählt er die Geschchte von einem Juden, der am höchsten christlichen Feiertag einen Raubüberfall auf sein Haus befürchtet und dem Einbrecher eine Falle stellt: Er bringt ihn dazu, eine Hand durch die Tür zu stecken, bindet diese fest und röstet den Arm über einer Fackel, als hätte er ein Osterfeuer entzündet. Nach dem Ende der Geschichte aber lässt Caragiale noch eine Notiz folgen, in der er sich selbst des Plagiats bezichtigt. Und tatsächlich gab es damals eine berühmte rumänische Novelle, die "Die Osterfackel" hieß und die gleiche Geschichte erzählte. Geschrieben hatte sie ebenfalls Caragiale, 1892. Solche intertextuellen Spiele waren nicht nur in Rumänien neu.
Aber auch Bodenständiges - Jargon, Reim, Umgangssprache - findet sich in seinen Texten, und die Lebendigkeit der Dialoge verrät den ursprünglichen Dramatiker. Dass er die Gesellschaftskritik, die auch einen wachen Blick für das Leben der Ärmsten beweist, von der Bühne auf die Seiten von Zeitungen und schließlich einer eigenen Zeitschrift verlagerte, die er "Rumänischer Humbug" nannte - diesem Namen verdankt sich der Titel des Guggolz-Buchs -, zeigt die aufklärerische Absicht des Schriftstellers. Mit der Benennung knüpfte er an zeitgenössische berühmte Satirezeitschriften wie den deutschen "Kladderadatsch", das österreichische "Kikeriki" oder die französischen Blätter "Charivari" und "L'Eclipse" an, die sich durch ihre Namen bewusst abqualifizierten, um desto rücksichtsloser kritisieren zu können. Caragiale machte sich dadurch Feinde in Rumänien, und Neider hatte er dank seiner Bühnenerfolge ohnehin bereits. Als er 1901 dann wirklich eines Plagiats beschuldigt wurde, war die öffentliche Aufmerksamkeit immens.
Caragiale verließ kurz danach das Land und starb 1912 in Berlin, von wo aus er aber immer weiter für rumänische Publikationen geschrieben hatte. Sein Denkmal in Bukarest ziert heute den Hundert-Lei-Schein des Landes - so bleibt auch Lenin in Rumänien lebendig. Und nun lebt Caragiale also auch bei uns, in dieser Fundgrube an Formen, Stilen, Sarkasmen und Sottisen.
Ion Luca Caragiale: "Humbug und Variationen".
Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Mit Nachworten von Eva Ruth Wemme und Dana Grigorcea. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 432 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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