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Forschung ist nicht durchgehend sein Ding: Orlando Figes über Russland von 1891 bis zum Ende der Sowjetunion
An deutschsprachigen Gesamtdarstellungen der sowjetischen Geschichte, die sich deutlich unterhalb der 2001 durch Manfred Hildermeier durchbrochenen Schallmauer von tausend Seiten bewegen, besteht eigentlich kein Mangel. Bücher von Helmut Altrichter und zuletzt Dietmar Neutatz, ja auch von Hildermeier selbst, allesamt seit dem Ende der Sowjetunion erschienen, ließen sich nennen. Wozu nun eine weitere Synthese aus der Feder des Londoner Historikers Orlando Figes?
Eines hat Figes vielen seiner deutschsprachigen Kollegen sicherlich voraus: Er kann erzählen. Diese in der anglophonen Geschichtswissenschaft ohnehin in hohem Kurs stehende Fähigkeit kommt auch in seinem neuesten Buch zum Tragen. Vor allem dann, wenn er geschickt Anekdoten, und nicht nur weidlich bekannte, illustrierend einsetzt.
Wie etwa bei einer Beschreibung des zweiten Parlaments (Duma), in dem 1907 Adelige und Bauern aufeinanderprallten: "Ein Vertreter aus Stolypins eigener Provinz Saratow erregte während einer Debatte über die Landreformen großes Aufsehen, als er einem adligen Abgeordneten gegenüber bemerkte: ,Wir kennen Ihren Besitz, denn wir waren früher ein Teil davon. Mein Onkel wurde gegen einen Windhund eingetauscht.'" Kontrafaktische Einsprengsel - was wäre, wenn die Regierungspatrouille in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 den verkleideten Lenin auf dem Weg von seinem Versteck in die Kommandozentrale der Bolschewiki erkannt und nicht als Betrunkenen hätte laufen lassen? - ergänzen die Form der erzählenden Geschichtsschreibung. Das war es dann allerdings auch schon auf der Habenseite des Werkes. Die Thesen und Akzentsetzungen vermögen weder zu überzeugen, noch bewegen sie sich auf der Höhe der Forschung. Es fängt an bei der Gewichtung: dreihundert Seiten zu 1891 bis 1953, fünfzig Seiten für die Zeit von Stalins Tod bis zum Zusammenbruch der UdSSR.
Oft drückt sich Figes um eine klare Positionierung, so bei der Frage, wie der Erste Weltkrieg als Revolutionsursache zu bewerten sei. "Niemand zweifelt daran, dass die russische Revolution in vieler Hinsicht ein Ergebnis des Krieges war", schreibt er, aber darüber, welchen Stellenwert der Weltkrieg im Vergleich zu den anderen Ursachen hat, erfährt man nichts. Anderswo gleitet das Buch ins Widersprüchliche ab. Sein gesellschaftshistorischer Ansatz, der die Handlungsmacht von Generationen und sozialen Gruppen betont, verträgt sich nicht mit der Einstufung einer so langen Geschichte wie jener der Sowjetunion als "tragisch" - wie soll eine Bevölkerung, der viel Agens beigemessen wird, über sieben Jahrzehnte hinweg vom "Staatsstreich" (Figes) im Oktober 1917 bis zur Implosion 1991 willfähriges Opfer diverser Diktatoren gewesen sein?
Sobald die Sowjetunion zu Ende war, erfahren wir von Figes in einer Volte, war die extreme Verstrickung der Bevölkerung mit der Staatsmacht ("praktisch jeder hatte in irgendeiner Weise mit dem Sowjetregime zusammengearbeitet") ein Grund dafür, dass die Demokratie nicht Fuß fassen konnte und Putin an die Macht kam. Über die Stalinschen Säuberungen heißt es: "So zerstörte der Terror die Gesellschaft - die solidarischen Bande von Beruf, Nachbarschaft, Freundschaft." Gewiss, aber haben wir nicht drei Kapitel davor gelernt, dass schon die Zwangskollektivierung die Gesellschaft zerstörte? Es ist das Crescendo von Schrecken, bei dem ein eigentlich nicht mehr zu steigernder Superlativ den nächsten jagt, das Figes' sozialhistorischen Impetus konterkariert und ihn in die Nähe von Staatsanwälten der Geschichte wie Richard Pipes rückt, die während des Kalten Krieges Beweise gegen das Sowjetregime anhäuften. "Die Menschen betranken sich aus Verzweiflung", lesen wir über die Breschnewsche Stagnation. Ja, aber warum nicht schon 1929, 1937 ...?
Hier fällt das Buch hinter die postsowjetische Entpolitisierung der Sowjetgeschichte zurück. Hinter die Forschung fällt es auch bei den Schlüsseldebatten der 1990er und 2000er Jahre zurück: Die amerikanischen "revisionistischen" Historiker der achtziger Jahre, die Stalin als schwachen Diktator und den Terror als von unten angetrieben sahen, sind Figes' Bête noire, obwohl längst eine Mittelposition, nämlich starker Diktator und Terror von unten, Konsens geworden ist und die Diskussion sich auf anderes konzentrierte. In Einzelfragen (Rjutin-Plattform, sozialistischer Realismus) ist er nicht auf der Höhe, und in einem Fall (Jochen Hellbecks Arbeiten über Tagebücher im Stalinismus) spitzt er eine Position bis zur Karikatur zu - auf die er dann eindrischt. Schließlich: Man kann ein solches Buch heute eigentlich nicht mehr so russozentrisch und ohne Rücksicht auf den geopolitischen Kontext schreiben - zu viel hat die Forschung hier geleistet.
Besucht man die Website von Figes, beginnt man allerdings Aufbau und Zeitrahmen des Buches zu verstehen - und ist bei der Crux: Das Buch ist in zwanzig Kapitel unterteilt, weil Kurse zur Sowjetgeschichte in der britischen Oberstufe sowie an vielen Universitäten auf zwanzig Wochen angelegt sind. Mit anderen Worten, das Buch ist ein verkapptes Modul eines didaktischen Multimediaangebots, denn wer will, kann Professor Figes über die Website auch gegen Gebühr für ein "on-line seminar with me on Google Hangout" buchen. Es braucht da etwas Bekanntschaft mit dem englischen Verlagswesen in Sachen historischer Bestsellerautoren. Ein Star wie Figes ist auf einem kurzen "Zyklus", wie es im Branchenjargon heißt, will sagen: Er muss alle zwei, drei Jahre ein neues Buch herausbringen, um seine Marke frisch und die Vorschüsse hoch zu halten. Dieses Mal hat es wohl gehapert mit der Produktivität, und da entschloss man sich zwei Jahre vor dem hundertjährigen Jubiläum, eine Synthese seiner älteren Arbeiten zur Russischen Revolution auf den Markt zu werfen.
Andere Bücher zur russischen Geschichte - etwa Richard Wortmans "Scenarios of Power" -, die bei angloamerikanischen Universitätsverlagen erschienen und genauso glänzend erzählt sind, hätten eine Übersetzung ins Deutsche mehr verdient. Manchmal wünscht man der populärwissenschaftlichen Produktionsweise eine Revolution.
JAN PLAMPER
Orlando Figes: "Hundert Jahre Revolution". Russland und das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Carl Hanser Verlag, München 2015. 384 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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"Ein lesenswertes Buch, das hilft, sich viele Zusammenhänge noch einmal ins Gedächtnis zu rufen." Katharina Granzin, Die Tageszeitung, 07.06.15
"... eine analytisch dichte und wunderbar lesbare Geschichte Sowjetrusslands. ... Orlando Figes erklärt uns nicht nur die Vergangenheit. Er hilft uns auch, die Grundlagen für das heutige Abdriften des Landes in eine Autokratie besser zu verstehen." Victor Mauer, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 29.03.15
"... lesenswert, nicht zuletzt weil es die bis heute akzeptierte Gewalt durchgängig thematisiert." Catrin Stövesand, Deutschlandfunk, 23.03.15
"Orlando Figes hat sich erneut in einer fulminanten Darstellung mit Russland beschäftigt. ... Der britische Historiker entrollt vor unseren Augen ein Panorama der russischen Revolution, das seinesgleichen sucht - meisterhaft geschriebene Geschichte." Michael Hesse, Frankfurter Rundschau, 10.03.15