Die Geschichte eines moralischen Irrtums, der in Ruanda eines der größten Verbrechen des Jahrhunderts ermöglichte. Der Roman zweier Menschen, die im Chaos ihrer Zeit um ihre Unschuld kämpfen. Ruanda, April 1994, in Kigali wütet der Mob. David, Mitarbeiter der Schweizer Entwicklungshilfe, hat das Flugzeug, mit dem die letzten Ausländer evakuiert wurden, abfliegen lassen. Er versteckt sich hundert Tage in seinem Haus, vom Gärtner mit Nahrung versorgt - und mit Informationen über Agathe, Tochter eines Ministerialbeamten, die der Grund für sein Bleiben ist. Die vergangenen vier Jahre ihrer Liebe ziehen ihm durch den Kopf, die Zeit, die er als Entwicklungshelfer in Kigali verbrachte. Millionen wurden in ein totalitäres Regime gepumpt, das schließlich, als es die Macht an eine Rebellenarmee zu verlieren drohte, einen Genozid organisierte. Auch David wurde zum Komplizen der Schlächter, und als die Aufständischen Kigali einnehmen, flieht er mit den Völkermördern über die Grenze. Dort findet er in einem Flüchtlingslager Agathe wieder, aber es ist nicht die Frau, die er einmal liebte. Lukas Bärfuss' minutiös recherchierter Roman berichtet von Menschen, die das Gute beabsichtigten und das Böse bewirkten. "Hundert Tage" erzählt ein dunkles Kapitel aus Afrikas Geschichte, in das wir tiefer verstrickt sind, als wir glauben wollen. Nicht zuletzt ist es die bewegende Geschichte einer Liebe in Zeiten des Krieges und die Geschichte von den Verheerungen, die der Hass anrichtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2008Ich weiß, was wir in diesem Frühling gelesen haben werden
What's hot, what's not in der schönsten Jahreszeit der deutschen Literatur?
Nach einer ersten Durchsicht der wichtigen, schönen, unterhaltsamen und missratenen deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs können wir allen Trendmeldungen des Jahres recht geben: Ja, die deutsche Literatur ist in diesem Frühjahr besonders politisch. Und die deutsche Literatur ist in diesem Frühjahr besonders romantisch. Sie ist selbstentblößend, penisfixiert, sexbesessen und tendenziell pornographisch. Und irgendwie auch körperlos. Die deutsche Literatur ist zurzeit ganz besonders aktuell und gegenwärtig. Und sie ist geschichtsversessen wie immer. In vielen Romanen kommen Nazis vor. In vielen auch nicht. Oft geht es um Pirmasens und die Ereignislosigkeit in der deutschen Provinz. Und dann wieder um den Völkermord in Ruanda, Unrecht in Birma und Gotteskrieger im Nordirak. Wenn man sich durch die deutschen Romane dieses Frühjahrs hindurchgelesen hat und sich fragt, was man da jetzt eigentlich gelesen hat, bleibt nur eine Antwort möglich: alles!
Und wenn man sich einen jungen Schriftsteller vorstellt, der jetzt, am Anfang seiner Karriere, sich umsieht und nach einer Themenlücke sucht - so wie am Ende der neunziger Jahre, als alle Welt den "Berlin-Roman" forderte und die Leser dann tatsächlich jahrelang mit Hauptstadtprosa junger Autoren beschossen wurden -, dann wird er jetzt lange suchen müssen. Es gibt keinen Ort, kein Thema, keine Weltsicht, die von den deutschsprachigen Schriftstellern der Saison nicht bedacht, beobachtet und beschrieben wird.
Zum Beispiel und zuallererst: die Liebe:
Trend I: Neue
deutsche Romantik
Auf dem Gebiet wird wirklich alles geboten. Martin Walser hat sich ja vorsichtshalber als Goethe verkleidet, weil man ihm nach den letzten Romanen immer wieder einen Hang zur "Altersgeilheit" vorgeworfen hatte. Also hat er sich jetzt die Goethe-Perücke aufgesetzt und der letzten Liebe des Weimarers hinterhergedichtet. Die billigen Vorwürfe des Volkes gegen den greisen Dichter, der der 54 Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow verfallen war: "Skandal! Geschmacklosigkeit! Verruchter Lustgreis! Trauriges Ende einer großen Figur!" - all das lässt Walser-Goethe locker abperlen: "Alles, was mit Ulrike zusammenhing, beschwingte ihn." Den Leser ermüdet es ein wenig. Walser feuert sich immer wieder an: "Schreib's auf. Dir gab doch ein Gott zu sagen, wie du leidest. Was für ein elender Vorteil: Sich erschießen muss man können." Kann Goethe nicht. Goethe kann dichten. Und träumen bis zum Schluss: "Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte." Der Leser weiß es auch und wendet sich dann lieber andren Liebesträumen zu. Zum Beispiel Feridun Zaimoglus neuem Roman "Liebesbrand", einer hochromantischen Himmelfahrt, die mit einem Busunglück beginnt (es ist noch nicht allzu lange her, dass die Zeitungen das Foto eines blassen Feridun Zaimoglu zeigten, der in der Türkei mit größtem Glück ein Busunglück überlebt hatte. So schnell geht das in der Literatur, von der Wirklichkeit in den Roman.) Im Angesicht des Todes erscheint ihm ein Engel aus Nienburg. Sie verschwindet, und der Held macht sich auf die Suche: "Wo bist du, Nienburgerin?" - das ist die Sehnsuchtsfrage dieses Buches, und wie traumsicher und poetisch Feridun Zaimoglu sich durch diese Sehnsucht schwingt, ist ganz herrlich zu lesen. Vielleicht kein neuer Quantensprung im Werk des türkischstämmigen Kielers, aber ein stilsicheres, schönes Buch über die Liebe als Versprechen.
Wer über die entschlossenste Verwirklichung aller Träume lesen will, muss in den 68er-Büchern der Saison lesen. Nicht in den immer gleichen Kampfschriften von Aly und den ungezählten Räubern, nein, in den Liebesschriften natürlich. Der unglaublichen Welttraum-Fibel der Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die ihre lange Fahrt zu den Männern so beginnen: "Wir beschließen, mit freier Brust auf die Reise zu gehen." Bis sie schließlich nach hundert Liebesabenteuern endlich bei Bob Dylan enden. Und bei Rainer Langhans. Der die ganze Sache gleich aus eigener Sicht diktiert hat. Leider nicht ganz so ereignisreich wie die Zwillinge. Denn die lange Reise des Rainer Langhans führt zwar scheinbar auch ins Glück, aber eher in ein inneres Tantraglück, das sich sympathisch, aber auch ein wenig langweilig liest. Aber das Beste kommt eben erst noch im Leben des 68-Jährigen: "Irgendwas habe ich hier noch zu tun. Ich denke, dass ich es rausfinden werde." So endet es.
Und wir eilen schnell weiter durch die Bücher, die das schwule, sexuelle Erwachen in der westdeutschen Provinz beschreiben, wie es der ethnologische Körper- und Weltforscher Michael Roes in "Ich weiß nicht mehr die Nacht" rasant tut. Oder die Möglichkeiten der Liebe unter den Bedingungen eines versehrten Körpers, wie es Charlotte Roche in ihrem ersten Roman "Feuchtgebiete" beschreibt und darin dem Terror des normierten Frauenbildes entschlossen die totale Blöße entgegenhält. Und schließlich Helmut Krausser, der, nach jahrelangen Forschungen in den Puccini-Archiven der Welt, das geheime Liebesleben des Komponisten in einem Dokumentarroman vorstellt. Krausser erfindet starke Männerkraftprotzwörter den etwas zurückhaltenderen Schwärmereien Puccinis hinzu. Aber beide Stimmen zusammen, Puccini und Krausser, ergeben gemeinsam einen zeitgemäß-romantischen Musikroman.
Der natürlich gar nichts zu tun hat mit:
Trend II:
Der politische Roman
Das war dann allerdings ein bisschen peinlich, als der Roman auf die politische Wirklichkeit stieß. Die "Zeit" hatte den Autor Michael Kumpfmüller, der einen Roman über die Leiden eines deutschen Innenministers geschrieben hat, zum Interview mit dem tatsächlichen deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble zusammengebracht. Und der griff gleich mal an: "Ich lese immer, was für einen aufregenden Job ein Innenminister hat. So stellt sich Klein Fritzchen das Leben mit Nachrichtendiensten, Verfassungsschutz und BKA vor. Auch in Ihrem Buch, Herr Kumpfmüller, ist der Innenminister eine Ansammlung von Klischees - um gleich die Kampfhandlungen zu eröffnen." Der Autor, so rabiat von der Wirklichkeit zurückgestoßen, verteidigt sich etwas bemüht: "Wenn es Herrn Schäuble nicht kränkt: Ich habe überhaupt nicht an Sie gedacht." Und dann - so schön wurde die Fiktion schon lange nicht mehr gegen die Wirklichkeit verteidigt, sagte Kumpfmüller: "Ich bin überrascht. Sie sprechen wie jemand, der nicht Innenminister ist." Ist das nicht wahnsinnig komisch? Der Innenminister-Romancier beschwert sich beim tatsächlichen Innenminister, dass der seiner Fiktion nicht entspricht. Es wird die Politik also noch etwas üben müssen - und lesen -, bis sie den Vorstellungen der deutschen Romanciers der Stunde entspricht.
Vom SPD-Fraktionschef Peter Struck hört man übrigens, dass er sich mit einer Stoppuhr neben den Fahrstuhl des Abgeordnetenhauses gestellt und die Zeit genommen habe, die dieser von oben nach unten brauche. 58 Sekunden heißt es im Roman des Berliner Bürochefs des "Spiegels" Dirk Kurbjuweit, der die heimliche Liebe des SPD-Fraktionschefs zum Gegenstand hat. Der Fahrstuhl ist der Ort der rasanten Liebesbegegnungen. 58 Sekunden hat Struck gestoppt. Er ist zufrieden mit dem Wirklichkeitscheck. Und auch jenseits exakter Sekundenmessungen ist Kurbjuweit ein unglaublich präziser Gegenwartsroman aus der Koalitionswelt der Sozialstaatsbeschneidungen gelungen.
An den Orten der Auswirkungen jener Einschnitte tummelt sich der ostdeutsche Schriftsteller Clemens Meyer, der vor zwei Jahren mit dem Leipziger Straßenroman "Als wir träumten" spektakulär auf die Bühne der deutschen Literatur gesprungen war. Jetzt hat er Geschichten geschrieben. Geschichten aus einer dunklen Welt, in der die Menschen täglich kämpfen müssen, um überhaupt irgendwie auf den Beinen zu bleiben. In der eine unbezahlbare Operation des Hüftgelenkes eines geliebten Hundes das Ende aller Lebensträume bedeutet. Und manchmal bricht etwas Glück hinein in die Welt der Überlebenskämpfer. Es bricht hinein als Ahnung einer anderen Möglichkeit, eines Endes aller Kämpfe. Und verdunkelt sich immer wieder. Politik wird hier erlitten, nicht als Möglichkeit einer Verbesserung bedacht. Lange schon, von keinem mehr.
Das war einmal. Und zwar dort:
Trend III: Geschichte
Das ist und bleibt letztlich Großmeistersache. Wie leichtfüßig und geschichtsgewiss, poetisch und weise Hans Magnus Enzensberger da in seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Hammerstein oder der Eigensinn" die Geschichte jener Hammersteins als unaufdringliche Heldengeschichte erzählt, das kann wohl im Moment nur er. Es ist diese angenehme Mischung aus Quellenkenntnis und Phantasie, die sich vor allem in den Gesprächen des Autors mit den Toten zeigt, die die Geschichte so wahr oder zumindest so wahrscheinlich macht. Und die Freiheit des Autors, den Blick in der Mitte des Buches von dem Familienpatriarchen und Hitler-Widersteher, dem General Hammerstein, ab- und seinen Töchtern zuzuwenden, die auf so unterschiedliche Weise politische Träume zu verwirklichen suchten.
Das Gegenteil von historischer Wahrscheinlichkeit liefert erneut unser Geschichtskitschkönig Bernhard Schlink, der einen begnadigten RAF-Terroristen auf ein Wochenende mit alten Polittraumgefährten schickt. Was da so geredet wird, ist selbst als Parodie eines Poesiealbums verlogener Kampfesträume zu schablonenhaft.
Besser gelingt das Jenny Erpenbeck, die mit der Geschichte eines Hauses am Scharmützelsee, in dem einst ihre Großeltern lebten, die Geschichte eines ganzen deutschen Jahrhunderts erzählt. Erpenbeck weitet nicht den Blick auf das große Ganze, sondern erzielt den gleichen Effekt durch mikroskopische Verkleinerung der Welt und der Sprache, die sie beschreibt. Vorkrieg, Nazizeit, DDR und Nachwendezeit, alles hat in exemplarischen Episoden in diesem Haus eine Entsprechung gefunden. In einer blassen, feinen Sprache wie aus Porzellan nähert sich Erpenbeck den Bewohnern und ihren Schicksalen. Alles ist kalt und klein und auf Dauer leider auch etwas leblos.
Auch Marcel Beyer, Autor des großartigen historischen Romans "Flughunde", wagt den großen, die Jahrzehnte überfliegenden Geschichtsroman über die Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs von Posen nach Dresden, die Zerstörung der Stadt, den Wiederaufbau und die Aufstände gegen das neue Regime. Alles hinter der Folie eines Vogelforscherlebens. Auf den ersten Blick lässt sich das Zwingende dieser Konstruktion nicht recht erkennen. Aber es ist eine Geschichte, die lebt. Eine Geschichte auch gegen das Verplaudern der Dramatik historischer Ereignisse, wie die des 17. Juni 1953, durch Anekdötchen und Privaterinnerungen: "Das halte ich nicht aus. Etwas Obszönes, und zugleich etwas Verzweifeltes, diese in Plauderton gekleidete Verbissenheit, als könne man, indem man von früher erzählt, selber unschuldig werden", lässt Beyer eine Protagonistin klagen. Und lässt sie stattdessen lieber Proust lesen.
Und wir reisen weiter zu:
Trend IV:
Krieg der Welten
Das hatte man in den letzten Jahren wohl am lautesten von der deutschsprachigen Literatur gefordert. Sie möge nicht zu Hause beim Tee sitzen und die eigene Melancholie beschreiben (Ja, wo sind sie denn in diesem Frühjahr? Die Teebücher der traurigen Erwartung? Vielleicht ist das ja der wahre Trend des Jahres: keine Teebücher mehr!), sondern hinaus in die Welt zu gehen. Dorthin, wo es weh tut, wo das Leben ist, das Elend und der Krieg. Wurde gemacht. Der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss hat einen Roman über den Völkermord in Ruanda geschrieben. Aus der Perspektive eines Entwicklungshelfers, der blieb, während alle anderen gingen. Ein Roman, in dem das dramatische Geschehen allerdings sonderbar fern und distanziert und schemenhaft bleibt und man sich beim Lesen immer wieder doch eher eine richtige Reportage wünscht.
Da hat die vierunddreißigjährige Erzählerin Christiane Neudecker in ihrem Birma-Buch "Nirgendwo sonst" genauer hingeschaut. Es ist ein Buch, das Jahre vor der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen im vergangenen Jahr spielt. Neudecker war im Jahr 2003 für längere Zeit im Land. Und hat die Vorahnung eines Auseinanderberstens des Staates eingefangen, den Wahnsinn der totalen Unterdrückung, die Angst der Machthaber, die Angst der Bevölkerung vor Kontakt mit der Welt dort draußen, mit Menschen von dort draußen, der ihnen verboten ist. Ein Lehrer zählt jeden Morgen seine Schüler, aus Angst, es könnte wieder einer verschwunden sein über Nacht, von den Machthabern gestohlen, eingezogen in die große Armee der 60 000 Kinder. Neudecker erzählt staunend, ruhig und genau: "Burma ist anders. Noch nie habe ich so ein Land gesehen. Nichts stimmt überein."
Und dann ist da noch der Roman "Das dunkle Schiff" des Berliner Autors Sherko Fatah. Fatah, dessen Vater aus dem Nordirak stammt und der selbst 1964 in Ost-Berlin geboren wurde, erzählt die Geschichte eines Jungen, der unter die Gotteskrieger gerät. Zunächst kämpft er nur mit halbem Herzen, schließlich aus voller Überzeugung, dann entschließt er sich zur Flucht und wird am Ende doch von der Konsequenz seines Kampfes eingeholt. Es ist eine phantastische Reise in ein Land, über das man aus den Tagesnachrichten alles zu wissen glaubt und eigentlich gar nichts weiß. Es ist ein Roman, der, über alle Irakkriege hinweg, mit kühlem Blick ins Herz des Extremismus schaut. "Mit dem Krieg hatte er von früher Kindheit an gelebt; der erste hatte vor seiner Geburt begonnen." Viele weitere werden folgen. Der Krieg ist das Leben dieses Jungen, da kommt der Hass fast von selbst. Sherko Fatahs Roman ist eine der Entdeckungen dieses Frühjahrs.
In einem Frühjahr, in dem es nichts zu klagen gibt, nichts zu fordern. Sondern einfach nur zu lesen.
VOLKER WEIDERMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
What's hot, what's not in der schönsten Jahreszeit der deutschen Literatur?
Nach einer ersten Durchsicht der wichtigen, schönen, unterhaltsamen und missratenen deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs können wir allen Trendmeldungen des Jahres recht geben: Ja, die deutsche Literatur ist in diesem Frühjahr besonders politisch. Und die deutsche Literatur ist in diesem Frühjahr besonders romantisch. Sie ist selbstentblößend, penisfixiert, sexbesessen und tendenziell pornographisch. Und irgendwie auch körperlos. Die deutsche Literatur ist zurzeit ganz besonders aktuell und gegenwärtig. Und sie ist geschichtsversessen wie immer. In vielen Romanen kommen Nazis vor. In vielen auch nicht. Oft geht es um Pirmasens und die Ereignislosigkeit in der deutschen Provinz. Und dann wieder um den Völkermord in Ruanda, Unrecht in Birma und Gotteskrieger im Nordirak. Wenn man sich durch die deutschen Romane dieses Frühjahrs hindurchgelesen hat und sich fragt, was man da jetzt eigentlich gelesen hat, bleibt nur eine Antwort möglich: alles!
Und wenn man sich einen jungen Schriftsteller vorstellt, der jetzt, am Anfang seiner Karriere, sich umsieht und nach einer Themenlücke sucht - so wie am Ende der neunziger Jahre, als alle Welt den "Berlin-Roman" forderte und die Leser dann tatsächlich jahrelang mit Hauptstadtprosa junger Autoren beschossen wurden -, dann wird er jetzt lange suchen müssen. Es gibt keinen Ort, kein Thema, keine Weltsicht, die von den deutschsprachigen Schriftstellern der Saison nicht bedacht, beobachtet und beschrieben wird.
Zum Beispiel und zuallererst: die Liebe:
Trend I: Neue
deutsche Romantik
Auf dem Gebiet wird wirklich alles geboten. Martin Walser hat sich ja vorsichtshalber als Goethe verkleidet, weil man ihm nach den letzten Romanen immer wieder einen Hang zur "Altersgeilheit" vorgeworfen hatte. Also hat er sich jetzt die Goethe-Perücke aufgesetzt und der letzten Liebe des Weimarers hinterhergedichtet. Die billigen Vorwürfe des Volkes gegen den greisen Dichter, der der 54 Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow verfallen war: "Skandal! Geschmacklosigkeit! Verruchter Lustgreis! Trauriges Ende einer großen Figur!" - all das lässt Walser-Goethe locker abperlen: "Alles, was mit Ulrike zusammenhing, beschwingte ihn." Den Leser ermüdet es ein wenig. Walser feuert sich immer wieder an: "Schreib's auf. Dir gab doch ein Gott zu sagen, wie du leidest. Was für ein elender Vorteil: Sich erschießen muss man können." Kann Goethe nicht. Goethe kann dichten. Und träumen bis zum Schluss: "Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte." Der Leser weiß es auch und wendet sich dann lieber andren Liebesträumen zu. Zum Beispiel Feridun Zaimoglus neuem Roman "Liebesbrand", einer hochromantischen Himmelfahrt, die mit einem Busunglück beginnt (es ist noch nicht allzu lange her, dass die Zeitungen das Foto eines blassen Feridun Zaimoglu zeigten, der in der Türkei mit größtem Glück ein Busunglück überlebt hatte. So schnell geht das in der Literatur, von der Wirklichkeit in den Roman.) Im Angesicht des Todes erscheint ihm ein Engel aus Nienburg. Sie verschwindet, und der Held macht sich auf die Suche: "Wo bist du, Nienburgerin?" - das ist die Sehnsuchtsfrage dieses Buches, und wie traumsicher und poetisch Feridun Zaimoglu sich durch diese Sehnsucht schwingt, ist ganz herrlich zu lesen. Vielleicht kein neuer Quantensprung im Werk des türkischstämmigen Kielers, aber ein stilsicheres, schönes Buch über die Liebe als Versprechen.
Wer über die entschlossenste Verwirklichung aller Träume lesen will, muss in den 68er-Büchern der Saison lesen. Nicht in den immer gleichen Kampfschriften von Aly und den ungezählten Räubern, nein, in den Liebesschriften natürlich. Der unglaublichen Welttraum-Fibel der Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die ihre lange Fahrt zu den Männern so beginnen: "Wir beschließen, mit freier Brust auf die Reise zu gehen." Bis sie schließlich nach hundert Liebesabenteuern endlich bei Bob Dylan enden. Und bei Rainer Langhans. Der die ganze Sache gleich aus eigener Sicht diktiert hat. Leider nicht ganz so ereignisreich wie die Zwillinge. Denn die lange Reise des Rainer Langhans führt zwar scheinbar auch ins Glück, aber eher in ein inneres Tantraglück, das sich sympathisch, aber auch ein wenig langweilig liest. Aber das Beste kommt eben erst noch im Leben des 68-Jährigen: "Irgendwas habe ich hier noch zu tun. Ich denke, dass ich es rausfinden werde." So endet es.
Und wir eilen schnell weiter durch die Bücher, die das schwule, sexuelle Erwachen in der westdeutschen Provinz beschreiben, wie es der ethnologische Körper- und Weltforscher Michael Roes in "Ich weiß nicht mehr die Nacht" rasant tut. Oder die Möglichkeiten der Liebe unter den Bedingungen eines versehrten Körpers, wie es Charlotte Roche in ihrem ersten Roman "Feuchtgebiete" beschreibt und darin dem Terror des normierten Frauenbildes entschlossen die totale Blöße entgegenhält. Und schließlich Helmut Krausser, der, nach jahrelangen Forschungen in den Puccini-Archiven der Welt, das geheime Liebesleben des Komponisten in einem Dokumentarroman vorstellt. Krausser erfindet starke Männerkraftprotzwörter den etwas zurückhaltenderen Schwärmereien Puccinis hinzu. Aber beide Stimmen zusammen, Puccini und Krausser, ergeben gemeinsam einen zeitgemäß-romantischen Musikroman.
Der natürlich gar nichts zu tun hat mit:
Trend II:
Der politische Roman
Das war dann allerdings ein bisschen peinlich, als der Roman auf die politische Wirklichkeit stieß. Die "Zeit" hatte den Autor Michael Kumpfmüller, der einen Roman über die Leiden eines deutschen Innenministers geschrieben hat, zum Interview mit dem tatsächlichen deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble zusammengebracht. Und der griff gleich mal an: "Ich lese immer, was für einen aufregenden Job ein Innenminister hat. So stellt sich Klein Fritzchen das Leben mit Nachrichtendiensten, Verfassungsschutz und BKA vor. Auch in Ihrem Buch, Herr Kumpfmüller, ist der Innenminister eine Ansammlung von Klischees - um gleich die Kampfhandlungen zu eröffnen." Der Autor, so rabiat von der Wirklichkeit zurückgestoßen, verteidigt sich etwas bemüht: "Wenn es Herrn Schäuble nicht kränkt: Ich habe überhaupt nicht an Sie gedacht." Und dann - so schön wurde die Fiktion schon lange nicht mehr gegen die Wirklichkeit verteidigt, sagte Kumpfmüller: "Ich bin überrascht. Sie sprechen wie jemand, der nicht Innenminister ist." Ist das nicht wahnsinnig komisch? Der Innenminister-Romancier beschwert sich beim tatsächlichen Innenminister, dass der seiner Fiktion nicht entspricht. Es wird die Politik also noch etwas üben müssen - und lesen -, bis sie den Vorstellungen der deutschen Romanciers der Stunde entspricht.
Vom SPD-Fraktionschef Peter Struck hört man übrigens, dass er sich mit einer Stoppuhr neben den Fahrstuhl des Abgeordnetenhauses gestellt und die Zeit genommen habe, die dieser von oben nach unten brauche. 58 Sekunden heißt es im Roman des Berliner Bürochefs des "Spiegels" Dirk Kurbjuweit, der die heimliche Liebe des SPD-Fraktionschefs zum Gegenstand hat. Der Fahrstuhl ist der Ort der rasanten Liebesbegegnungen. 58 Sekunden hat Struck gestoppt. Er ist zufrieden mit dem Wirklichkeitscheck. Und auch jenseits exakter Sekundenmessungen ist Kurbjuweit ein unglaublich präziser Gegenwartsroman aus der Koalitionswelt der Sozialstaatsbeschneidungen gelungen.
An den Orten der Auswirkungen jener Einschnitte tummelt sich der ostdeutsche Schriftsteller Clemens Meyer, der vor zwei Jahren mit dem Leipziger Straßenroman "Als wir träumten" spektakulär auf die Bühne der deutschen Literatur gesprungen war. Jetzt hat er Geschichten geschrieben. Geschichten aus einer dunklen Welt, in der die Menschen täglich kämpfen müssen, um überhaupt irgendwie auf den Beinen zu bleiben. In der eine unbezahlbare Operation des Hüftgelenkes eines geliebten Hundes das Ende aller Lebensträume bedeutet. Und manchmal bricht etwas Glück hinein in die Welt der Überlebenskämpfer. Es bricht hinein als Ahnung einer anderen Möglichkeit, eines Endes aller Kämpfe. Und verdunkelt sich immer wieder. Politik wird hier erlitten, nicht als Möglichkeit einer Verbesserung bedacht. Lange schon, von keinem mehr.
Das war einmal. Und zwar dort:
Trend III: Geschichte
Das ist und bleibt letztlich Großmeistersache. Wie leichtfüßig und geschichtsgewiss, poetisch und weise Hans Magnus Enzensberger da in seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Hammerstein oder der Eigensinn" die Geschichte jener Hammersteins als unaufdringliche Heldengeschichte erzählt, das kann wohl im Moment nur er. Es ist diese angenehme Mischung aus Quellenkenntnis und Phantasie, die sich vor allem in den Gesprächen des Autors mit den Toten zeigt, die die Geschichte so wahr oder zumindest so wahrscheinlich macht. Und die Freiheit des Autors, den Blick in der Mitte des Buches von dem Familienpatriarchen und Hitler-Widersteher, dem General Hammerstein, ab- und seinen Töchtern zuzuwenden, die auf so unterschiedliche Weise politische Träume zu verwirklichen suchten.
Das Gegenteil von historischer Wahrscheinlichkeit liefert erneut unser Geschichtskitschkönig Bernhard Schlink, der einen begnadigten RAF-Terroristen auf ein Wochenende mit alten Polittraumgefährten schickt. Was da so geredet wird, ist selbst als Parodie eines Poesiealbums verlogener Kampfesträume zu schablonenhaft.
Besser gelingt das Jenny Erpenbeck, die mit der Geschichte eines Hauses am Scharmützelsee, in dem einst ihre Großeltern lebten, die Geschichte eines ganzen deutschen Jahrhunderts erzählt. Erpenbeck weitet nicht den Blick auf das große Ganze, sondern erzielt den gleichen Effekt durch mikroskopische Verkleinerung der Welt und der Sprache, die sie beschreibt. Vorkrieg, Nazizeit, DDR und Nachwendezeit, alles hat in exemplarischen Episoden in diesem Haus eine Entsprechung gefunden. In einer blassen, feinen Sprache wie aus Porzellan nähert sich Erpenbeck den Bewohnern und ihren Schicksalen. Alles ist kalt und klein und auf Dauer leider auch etwas leblos.
Auch Marcel Beyer, Autor des großartigen historischen Romans "Flughunde", wagt den großen, die Jahrzehnte überfliegenden Geschichtsroman über die Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs von Posen nach Dresden, die Zerstörung der Stadt, den Wiederaufbau und die Aufstände gegen das neue Regime. Alles hinter der Folie eines Vogelforscherlebens. Auf den ersten Blick lässt sich das Zwingende dieser Konstruktion nicht recht erkennen. Aber es ist eine Geschichte, die lebt. Eine Geschichte auch gegen das Verplaudern der Dramatik historischer Ereignisse, wie die des 17. Juni 1953, durch Anekdötchen und Privaterinnerungen: "Das halte ich nicht aus. Etwas Obszönes, und zugleich etwas Verzweifeltes, diese in Plauderton gekleidete Verbissenheit, als könne man, indem man von früher erzählt, selber unschuldig werden", lässt Beyer eine Protagonistin klagen. Und lässt sie stattdessen lieber Proust lesen.
Und wir reisen weiter zu:
Trend IV:
Krieg der Welten
Das hatte man in den letzten Jahren wohl am lautesten von der deutschsprachigen Literatur gefordert. Sie möge nicht zu Hause beim Tee sitzen und die eigene Melancholie beschreiben (Ja, wo sind sie denn in diesem Frühjahr? Die Teebücher der traurigen Erwartung? Vielleicht ist das ja der wahre Trend des Jahres: keine Teebücher mehr!), sondern hinaus in die Welt zu gehen. Dorthin, wo es weh tut, wo das Leben ist, das Elend und der Krieg. Wurde gemacht. Der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss hat einen Roman über den Völkermord in Ruanda geschrieben. Aus der Perspektive eines Entwicklungshelfers, der blieb, während alle anderen gingen. Ein Roman, in dem das dramatische Geschehen allerdings sonderbar fern und distanziert und schemenhaft bleibt und man sich beim Lesen immer wieder doch eher eine richtige Reportage wünscht.
Da hat die vierunddreißigjährige Erzählerin Christiane Neudecker in ihrem Birma-Buch "Nirgendwo sonst" genauer hingeschaut. Es ist ein Buch, das Jahre vor der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen im vergangenen Jahr spielt. Neudecker war im Jahr 2003 für längere Zeit im Land. Und hat die Vorahnung eines Auseinanderberstens des Staates eingefangen, den Wahnsinn der totalen Unterdrückung, die Angst der Machthaber, die Angst der Bevölkerung vor Kontakt mit der Welt dort draußen, mit Menschen von dort draußen, der ihnen verboten ist. Ein Lehrer zählt jeden Morgen seine Schüler, aus Angst, es könnte wieder einer verschwunden sein über Nacht, von den Machthabern gestohlen, eingezogen in die große Armee der 60 000 Kinder. Neudecker erzählt staunend, ruhig und genau: "Burma ist anders. Noch nie habe ich so ein Land gesehen. Nichts stimmt überein."
Und dann ist da noch der Roman "Das dunkle Schiff" des Berliner Autors Sherko Fatah. Fatah, dessen Vater aus dem Nordirak stammt und der selbst 1964 in Ost-Berlin geboren wurde, erzählt die Geschichte eines Jungen, der unter die Gotteskrieger gerät. Zunächst kämpft er nur mit halbem Herzen, schließlich aus voller Überzeugung, dann entschließt er sich zur Flucht und wird am Ende doch von der Konsequenz seines Kampfes eingeholt. Es ist eine phantastische Reise in ein Land, über das man aus den Tagesnachrichten alles zu wissen glaubt und eigentlich gar nichts weiß. Es ist ein Roman, der, über alle Irakkriege hinweg, mit kühlem Blick ins Herz des Extremismus schaut. "Mit dem Krieg hatte er von früher Kindheit an gelebt; der erste hatte vor seiner Geburt begonnen." Viele weitere werden folgen. Der Krieg ist das Leben dieses Jungen, da kommt der Hass fast von selbst. Sherko Fatahs Roman ist eine der Entdeckungen dieses Frühjahrs.
In einem Frühjahr, in dem es nichts zu klagen gibt, nichts zu fordern. Sondern einfach nur zu lesen.
VOLKER WEIDERMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2008Afrika, der tierhafte Abgrund
„Hundert Tage”: Lukas Bärfuss’ Roman über den Bürgerkrieg in Ruanda
Afrika ist bereits da. Und das hinterlässt allmählich auch Spuren in der Literatur, andere Spuren als die, die etwa Tania Blixen gelegt hat oder Hemingway am Kilimandscharo. Der dunkle Erdteil war lange eine Projektionsfläche für Zivilisationsmüde, für Abenteurer, für Aussteiger. In einem Roman wie dem von Lukas Bärfuss zeigt sich dagegen, wie Afrika mit der Zeit ein Teil von uns wird – ein Teil der globalisierten Welt, in der das, was die entwickelteren Nationen als Außenpolitik treiben, zusehends auf ihre Innenpolitik zurückwirkt. Afrika wird zu einem Zerrspiegel des sich selbst unsicher werdenden Europa. Es spiegelt undeutlich, verschwommen so etwas wie die Dekadenz westlicher Werte.
Der Schweizer Lukas Bärfuss, als Theaterautor schon sehr erfolgreich hervorgetreten, hat mit seinem ersten Roman den Völkermord in Ruanda im Blick, eine internationale Katastrophe, die eine Weile alle Welt durch schockierende Bilder in Atem hielt, aber mittlerweile schon wieder aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit verschwunden ist. Bärfuss setzt auf die etwas längere Halbwertzeit der Literatur. Er arbeitet offensiv mit theatralischen, dramatischen Mitteln, spitzt das Thema zu, sucht prägnante Momente und Motive, die den Stoff verdichten. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans.
David Hohl heißt der etwas unbedarfte, junge Schweizer Mann, der sich bei der Entwicklungshilfe bewirbt und für einen mehrjährigen Job nach Ruanda geschickt wird. In diesem Land ist es Anfang der neunziger Jahre noch ruhig, es gilt als die Schweiz Afrikas, wie gelegentlich doppeldeutig eingestreut wird: Es gibt Kühe, es gibt Hochlagen, es gibt eine stabile politische Großwetterlage, auch wenn die Regierung eine typisch korrupte afrikanische Regierung zu sein scheint. Aber man kann mit ihr vermeintlich effektiv zusammenarbeiten und sinnvolle Projekte durchführen.
David wird schon am Flughafen Brüssel mit der neuen Lebensform konfrontiert: Agathe, eine junge Schwarze, zieht ihn magisch an, und als sie von den belgischen Grenzern, denen der Habitus der früheren Kolonialmacht noch in den Knochen steckt, unwürdig behandelt wird, glaubt David, einschreiten zu müssen. Die Grenzer führen ihn kurzerhand ab. Agathe verachtet David aber nicht nur dafür, sondern er ahnt dunkel, dass sie schon sein Eingreifen selbst lächerlich findet. In Ruanda gelingt es ihm dann nach etlichen Anläufen, eine Affäre mit ihr zu beginnen. Ihre Sexualität empfindet er als tierhaft, als einfache Bedürfnisbefriedigung wie die Nahrungsaufnahme, ohne aufgeladene Gefühle drumherum, und genau das macht ihn verrückt. Bald spürt er, dass hier ein Abgrund liegt, der ganz allgemein die Schweizer Wahrnehmung von Afrika trennt.
Die Kurzen und die Langen
Nicht immer gelingt es dem Autor, den schmalen Grat, der ihn vom Klischee trennt, sicher zu begehen. Aber er hat die historischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe genau recherchiert, und das trägt vor allem in den Szenen, in denen der Bürgerkrieg beschrieben wird, das Gemetzel zwischen den „Kurzen” und den „Langen”, wie sie genannt werden, den Hutu und den Tutsi. David Hohl gerät nichtsahnend hinein in einen Albtraum, der sich in der langweiligen ersten Zeit in Kigali, der Hauptstadt, nicht im geringsten angedeutet hat. Als alle Ausländer das Land verlassen, bleibt Hohl zurück, harrt hundert Tage lang in seinem Haus aus – eine Grenzerfahrung, die ihn fortan prägen wird. Auch Agathe, trotz ihrer anfänglichen damenhaft schnippischen Art, einer halb angelernten europäischen Fassade, gehört spätestens jetzt eindeutig zu jener anderen, durch und durch bedrohlichen Welt, die mit europäischen Maßstäben nicht mal im Ansatz zu messen ist.
Es gibt einzelne Momente, in denen Lukas Bärfuss dieses Fremde aufleuchten lässt. Wohl selten ist so desillusionierend von der afrikanischen Wirklichkeit geschrieben worden, das heißt von den Vorstellungen, die Europäer davon haben. Die Beschreibung der Schweizer „Direktion”, der Entwicklungshilfe, wirkt manchmal wie eine bittere Satire, geht aber weit darüber hinaus: Es ist eine kluge, differenzierte Darstellung des Versagens europäischer Politik, ein Scheitern des Gutgemeinten. Der theatralische Zugriff bringt es allerdings mit sich, dass die Figuren oft wie bloße Typen erscheinen. Man merkt an etlichen Stellen den Zwang zum Symbol, zum Zeigefingerhaften. Die Konstruktion scheint auch deswegen zu aufdringlich durch, weil die Sprache kein Eigenleben entwickelt. Sie bleibt nah am Reportagehaften, arbeitet mit schematischen Psychologisierungen. Das Buch lebt vor allem von seinem Stoff, vom spektakulären Schauplatz, weniger von literarischen Überraschungen.
Leider hat man auch den Eindruck, dass diesem Roman ein letzter Feinschliff gutgetan hätte, dass die letzte Bearbeitung fehlt. So wird anfangs ein Ich-Erzähler eingeführt, der David Hohl Jahre nach seinem Ruanda-Erlebnis in einem verschneiten Schweizer Juradorf aufsucht, dort erzählt Hohl seine Geschichte. Diese Rahmenhandlung erstreckt sich allerdings nur auf die allerersten Seiten, dann gibt es die Ich-Figur nicht mehr und nur noch David berichtet in der ersten Person. Das wirkt angestrengt, formal zu wenig durchdacht. Ähnlich merkwürdig ist es, dass der Name des Landes Ruanda nie genannt wird, es ist immer nur von der Hauptstadt Kigali die Rede, und das schafft anfangs einen literarisch überhöhten Raum, etwas Allegorisches, Allgemeines. Kurz vor Schluss, auf Seite 169, fällt dann beiläufig doch einmal das Wort „Ruanda” – man liest das unwillkürlich als ein Versehen. Sehr unglücklich wirkt auch eine Doppelung auf Seite 84: Dort sind in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen zwei Sätze wörtlich wiederholt, und das ist keineswegs stilistisch zu begründen – eher durch das Schreiben am Computer und einen Fehler bei dem Befehl Ausschneiden/Kopieren. Das ändert nichts daran: ein hochinteressantes Buch. HELMUT BÖTTIGER
LUKAS BÄRFUSS: Hundert Tage. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 197 Seiten, 19,90 Euro.
Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen 1997 in den Dschungel von Zaire. Foto: Laif
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„Hundert Tage”: Lukas Bärfuss’ Roman über den Bürgerkrieg in Ruanda
Afrika ist bereits da. Und das hinterlässt allmählich auch Spuren in der Literatur, andere Spuren als die, die etwa Tania Blixen gelegt hat oder Hemingway am Kilimandscharo. Der dunkle Erdteil war lange eine Projektionsfläche für Zivilisationsmüde, für Abenteurer, für Aussteiger. In einem Roman wie dem von Lukas Bärfuss zeigt sich dagegen, wie Afrika mit der Zeit ein Teil von uns wird – ein Teil der globalisierten Welt, in der das, was die entwickelteren Nationen als Außenpolitik treiben, zusehends auf ihre Innenpolitik zurückwirkt. Afrika wird zu einem Zerrspiegel des sich selbst unsicher werdenden Europa. Es spiegelt undeutlich, verschwommen so etwas wie die Dekadenz westlicher Werte.
Der Schweizer Lukas Bärfuss, als Theaterautor schon sehr erfolgreich hervorgetreten, hat mit seinem ersten Roman den Völkermord in Ruanda im Blick, eine internationale Katastrophe, die eine Weile alle Welt durch schockierende Bilder in Atem hielt, aber mittlerweile schon wieder aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit verschwunden ist. Bärfuss setzt auf die etwas längere Halbwertzeit der Literatur. Er arbeitet offensiv mit theatralischen, dramatischen Mitteln, spitzt das Thema zu, sucht prägnante Momente und Motive, die den Stoff verdichten. Das ist gleichzeitig die Stärke und die Schwäche dieses Romans.
David Hohl heißt der etwas unbedarfte, junge Schweizer Mann, der sich bei der Entwicklungshilfe bewirbt und für einen mehrjährigen Job nach Ruanda geschickt wird. In diesem Land ist es Anfang der neunziger Jahre noch ruhig, es gilt als die Schweiz Afrikas, wie gelegentlich doppeldeutig eingestreut wird: Es gibt Kühe, es gibt Hochlagen, es gibt eine stabile politische Großwetterlage, auch wenn die Regierung eine typisch korrupte afrikanische Regierung zu sein scheint. Aber man kann mit ihr vermeintlich effektiv zusammenarbeiten und sinnvolle Projekte durchführen.
David wird schon am Flughafen Brüssel mit der neuen Lebensform konfrontiert: Agathe, eine junge Schwarze, zieht ihn magisch an, und als sie von den belgischen Grenzern, denen der Habitus der früheren Kolonialmacht noch in den Knochen steckt, unwürdig behandelt wird, glaubt David, einschreiten zu müssen. Die Grenzer führen ihn kurzerhand ab. Agathe verachtet David aber nicht nur dafür, sondern er ahnt dunkel, dass sie schon sein Eingreifen selbst lächerlich findet. In Ruanda gelingt es ihm dann nach etlichen Anläufen, eine Affäre mit ihr zu beginnen. Ihre Sexualität empfindet er als tierhaft, als einfache Bedürfnisbefriedigung wie die Nahrungsaufnahme, ohne aufgeladene Gefühle drumherum, und genau das macht ihn verrückt. Bald spürt er, dass hier ein Abgrund liegt, der ganz allgemein die Schweizer Wahrnehmung von Afrika trennt.
Die Kurzen und die Langen
Nicht immer gelingt es dem Autor, den schmalen Grat, der ihn vom Klischee trennt, sicher zu begehen. Aber er hat die historischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe genau recherchiert, und das trägt vor allem in den Szenen, in denen der Bürgerkrieg beschrieben wird, das Gemetzel zwischen den „Kurzen” und den „Langen”, wie sie genannt werden, den Hutu und den Tutsi. David Hohl gerät nichtsahnend hinein in einen Albtraum, der sich in der langweiligen ersten Zeit in Kigali, der Hauptstadt, nicht im geringsten angedeutet hat. Als alle Ausländer das Land verlassen, bleibt Hohl zurück, harrt hundert Tage lang in seinem Haus aus – eine Grenzerfahrung, die ihn fortan prägen wird. Auch Agathe, trotz ihrer anfänglichen damenhaft schnippischen Art, einer halb angelernten europäischen Fassade, gehört spätestens jetzt eindeutig zu jener anderen, durch und durch bedrohlichen Welt, die mit europäischen Maßstäben nicht mal im Ansatz zu messen ist.
Es gibt einzelne Momente, in denen Lukas Bärfuss dieses Fremde aufleuchten lässt. Wohl selten ist so desillusionierend von der afrikanischen Wirklichkeit geschrieben worden, das heißt von den Vorstellungen, die Europäer davon haben. Die Beschreibung der Schweizer „Direktion”, der Entwicklungshilfe, wirkt manchmal wie eine bittere Satire, geht aber weit darüber hinaus: Es ist eine kluge, differenzierte Darstellung des Versagens europäischer Politik, ein Scheitern des Gutgemeinten. Der theatralische Zugriff bringt es allerdings mit sich, dass die Figuren oft wie bloße Typen erscheinen. Man merkt an etlichen Stellen den Zwang zum Symbol, zum Zeigefingerhaften. Die Konstruktion scheint auch deswegen zu aufdringlich durch, weil die Sprache kein Eigenleben entwickelt. Sie bleibt nah am Reportagehaften, arbeitet mit schematischen Psychologisierungen. Das Buch lebt vor allem von seinem Stoff, vom spektakulären Schauplatz, weniger von literarischen Überraschungen.
Leider hat man auch den Eindruck, dass diesem Roman ein letzter Feinschliff gutgetan hätte, dass die letzte Bearbeitung fehlt. So wird anfangs ein Ich-Erzähler eingeführt, der David Hohl Jahre nach seinem Ruanda-Erlebnis in einem verschneiten Schweizer Juradorf aufsucht, dort erzählt Hohl seine Geschichte. Diese Rahmenhandlung erstreckt sich allerdings nur auf die allerersten Seiten, dann gibt es die Ich-Figur nicht mehr und nur noch David berichtet in der ersten Person. Das wirkt angestrengt, formal zu wenig durchdacht. Ähnlich merkwürdig ist es, dass der Name des Landes Ruanda nie genannt wird, es ist immer nur von der Hauptstadt Kigali die Rede, und das schafft anfangs einen literarisch überhöhten Raum, etwas Allegorisches, Allgemeines. Kurz vor Schluss, auf Seite 169, fällt dann beiläufig doch einmal das Wort „Ruanda” – man liest das unwillkürlich als ein Versehen. Sehr unglücklich wirkt auch eine Doppelung auf Seite 84: Dort sind in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen zwei Sätze wörtlich wiederholt, und das ist keineswegs stilistisch zu begründen – eher durch das Schreiben am Computer und einen Fehler bei dem Befehl Ausschneiden/Kopieren. Das ändert nichts daran: ein hochinteressantes Buch. HELMUT BÖTTIGER
LUKAS BÄRFUSS: Hundert Tage. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 197 Seiten, 19,90 Euro.
Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen 1997 in den Dschungel von Zaire. Foto: Laif
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Völkermord in Ruanda ist Gegenstand des ersten Romans von Lukas Bärfuss, den Rezensent Helmut Böttiger überschwänglich lobt. Was das Kino schon mehrfach versuchte, nämlich Bilder zu finden, eine Sprache für die Realität dieses Krieges, ist Bärfuss jedoch nicht durchgängig gelungen: zu konstruiert die Geschichte, zu transparent der Einbau von Symbolen und dramatischen Mitteln, zu wenig "Eigenleben" der Sprache. Jenseits stilistischer Schwächen schätzt Böttiger vor allem die "kluge, differenzierte Darstellung des Versagens europäischer Politik" in dem Roman, dem ein letztes Lektorat vor der Drucklegung vielleicht die formalen Mängel genommen hätte, wie der Rezensent vorsichtig anmerkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein packend, oft überwältigend dicht erzählter Roman.« Volker Hage, Der Spiegel