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Das Sein, das Nichts und der Schatten von beidem: Dea Lohers Erzählungen / Von Irene Bazinger
Wer Stücke schreibt, tut gut daran, sich eine Art drittes Auge der poetischen Wahrheit zuzulegen: um nämlich eine Dimension der eigenen Texte erschauen zu können, die sich ins Räumliche erstreckt. Das hat mit den konkreten Inszenierungen nichts zu tun, wohl aber mit der Besonderheit des Genres. Denn die gelungene Dramatik braucht außer Ideen und literarischen Qualitäten noch Luft, Kunstlicht und Fremdkörper. Sie will, szenisch interpretiert, auf der Bühne Gestalt werden.
Mag sein, daß diese Fähigkeit der plastischen Abstraktion Dea Loher, die bislang ausschließlich als Theaterautorin hervorgetreten ist, nun bei ihrem ersten Prosaband "Hundskopf" geholfen hat. Eine der darin publizierten Erzählungen jedenfalls heißt "Das Auge". Dieses Sinnesorgan ist aus Glas und gehört dem Rentner René, früher Inhaber eines Obst- und Gemüseladens. Er ist schon lange halb blind, denn "beim allzu hastigen Öffnen und Entkernen einer Avocado war er eines Tages so unglücklich am Kern abgeglitten, daß sich die Spitze des Messers in sein Auge bohrte."
Mit dessen Ersatz ist er durchaus zufrieden, bis er einmal mehr sieht, als er je wollte: Wie sich sein Bruder nicht von der über alles geliebten Gattin trennen will, die tot im Ehebett liegt, wie er sich nicht wäscht, um ihren Geruch zu behalten, wie er, im Bemühen, Normalität zu wahren, erst recht aus dieser herausfällt. Schließlich verbreiten sich die Keime überallhin. Fortan weigert sich René, sein künstliches Auge in die leere Höhle einzusetzen. Der Nachbar soll es einlagern und ist nicht begeistert von dieser Aussicht: "Ich wollte noch etwas sagen, aber ich hatte vergessen, was es war."
Auf dem rutschigen Grat zwischen Erinnern und Vergessen bewegen sich auch die anderen Figuren in Dea Lohers souverän komponierten Erzählungen, die eigentlich Novellen sind, deren Mittelpunkt der Einbruch des Unerwarteten in relativ geordnete Verhältnisse bildet. Das kann die irgendwo auf dem langen Weg zur Hochzeit verlorene Liebe sein, wie es einem jungen Paar während der Flitterwochen in den Vereinigten Staaten dämmert - Omas Spruch, "Bis du heiratest, wird es vorbeigehen", lindert in "Honeymoon" keine Schmerzen mehr. Hier ist sogar von einem "Dreiauge" die Rede - weil ein Leberfleck auf der Stirn einer amerikanischen Krankenschwester einem zusätzlichen Sehinstrument ähnelt.
In einer anderen Erzählung kehrt unversehens das Verdrängte zurück, wenn die Nichte im Nachlaß ihrer Großmutter das Foto von einem zur Beerdigung vorbereiteten Babyleichnam findet ("Agnes"). Dabei soll es sich um das verschwiegene Kind einer ihrer psychisch labilen Tanten handeln, die ein Faible für schreiend bunte Kleider und blumige Parfüms hatte. Wieder bekommt eine Person etwas zu Gesicht, was sie nicht unbedingt wissen wollte, doch entschleiert sich ihr keines der dahinter verborgenen Motive. Die Nichte tröstet sich mit ihren eigenen Erfahrungen. Warum ist der Himmel so blau, hatte sie einst die von ihr sehr gemochte Agnes gefragt. Die Antwort lautete: "Weil deine Augen ihn so sehen."
Das Tempo in diesen Berichten über plötzlich aufgewühlte Biographien ist altmeisterlich ruhig, der Erzählfluß getragen - als beobachte Dea Loher aus einem dunklen Zuschauerraum eine hell erleuchtete Bühne und beschreibe zugleich, was sich dort zuträgt. Sie ist nahe dran am Geschehen und scheint, obwohl die tatsächliche Fädenzieherin, keinen Finger zu rühren. Alles passiert wie von selbst - und mit überzeugender narrativer Triftigkeit.
Ein mäßig erfolgreicher Gastwirt etwa, der lieber mit seiner Combo auftritt, erhält in "Hundskopf", der Titelgeschichte, einen anonymen Anruf. Eine Frau schlägt ihm vor, gegen Bezahlung einen ihm völlig unbekannten Mann zu töten. Der Kneipier läßt sich vorgeblich darauf ein und verlangt ein hohes Entgelt. Er ist kein Mörder, aber könnte er nicht einer werden? Und danach frei sein, endlich neu anfangen, geschieden und ohne Schulden? "Er starrte seine Hände an, die die eines Fremden waren, und dann betrachtete er lange das Telefon und die Gegenstände in dem Zimmer. Sie gehörten nicht mehr zu ihm, er war in eine Welt eingetaucht, in der alles, auch das Vertrauteste, nie gesehen und fern erschien".
Die Idee dieser Geschichte wirkt bekannt, ist indes so zwingend variiert und plausibel durchgeführt, daß sie, ganz nebenbei, zudem den großen Spaß verrät, den Dea Loher wohl gehabt hat, als sie mit den bewährten Topoi von Schuld und Sühne, Verlockung und Vorbehalt jonglierte.
Ihre Figuren, zu theatralischer Faßlichkeit aus Fleisch und Blut geformt, sind weder glamourös noch pittoresk. Sie sind leicht lädierte Mängelexemplare von der Stange, die rauchen, trinken, manchmal gerne wegdriften, wenig Gepäck haben und simple Träume vom Glück hegen. Als präzise gezeichnete Chiffren des Ungenügens verweisen sie allerdings, unterkühlt beiläufig, auf die Defizite einer Gesellschaft, in der es für die meisten entweder gar keine oder keine zweite Chance gibt. Ohne Larmoyanz und Sozialkitsch, aber mit der enormen Bandbreite ihres dramatischen Realismus, zeigt Dea Loher das Sein, das Nichts, und die Schatten, die dabei entstehen: Kein Wort zuviel, kein Blick daneben. Alles liegt offen, alles bleibt offen.
In "Über die Berge gehen" wünscht sich eine junge Frau das Ende ihrer Maskeraden. "Ich will, daß man mir alles ansieht": das Leid, die Wunden, die Irrwege, Tag und Nacht, die Erfüllung. Nicht einfach, so zu leben, doch wie wunderbar, in Dea Lohers elegant bestürzenden Erzählungen davon zu lesen.
Dea Loher: "Hundskopf". Erzählungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 114 S., geb., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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