Am 1. Juli 1993 traten Kalibergleute des Thomas-Müntzer-Werks im thüringischen Bischofferode in einen unbefristeten Hungerstreik, der nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands breite Aufmerksamkeit erhielt und Solidarität hervorrief. Als »Treuhand-Trauma« der Ostdeutschen gewinnt dieses Ereignis – nach vielen Jahren des Vergessens – im Lichte der aktuellen Erfolge der AfD in den neuen Bundesländern wieder an trauriger Aktualität. Vor dem Hintergrund des noch immer virulenten Deutungskonflikts um die damaligen Proteste untersucht dieses Buch als erste zeithistorische Studie auf breiter Quellengrundlage die »lange« Geschichte des Streiks und zeigt, dass einseitige Narrative vom Siegeszug des Westens oder von der »Übernahme« des Ostens durch den Westen der historischen Wirklichkeit nicht gerecht werden.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Der Historiker Christian Rau schildert in seinem umfangreichen Band die Historie der Kali-Gruben in Bischofferode, beginnend in den 1870er Jahren bis hin zu ihrer Schließung 1993. Rezensentin Isabel Fannrich-Lautenschläger hat das mit großem Interessen gelesen, besonders gut gefällt ihr, dass Rau versucht, die Treuhand-Privatisierungen ins Verhältnis mit den westdeutschen Unternehmen zu setzen: So wurden etwa Kaligruben im Westen geschlossen, während im Osten einige vorläufig erhalten blieben. Die pauschalisierende Verurteilung der Treuhand will Rau offenbar nicht mitmachen. Auch dass Rau einige unbequeme Fragen stellt - warum solidarisierten sich die verschiedenen Streikenden in Ostdeutschland nicht miteinander - imponiert ihr. Vor allem aber lehrt sie diese "Mikrogeschichte" des Hungerstreiks in Bischofferode, dass es hier weniger um Wirtschaftskonkurrenz ging als um einen "Deutungskampf um das Erbe von 1989".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Rau kann anhand des Hungerstreiks von Bischofferode überzeugend darlegen, dass sich die Geschichte der Demokratie in Ostdeutschland nach 1989/90 nicht im Transfer der westdeutschen Institutionenordnung erschöpft. Stattdessen war und ist die Zukunft der Demokratie Gegenstand von Aushandlungsprozessen über legitim angesehene politische Prozeduren und Beteiligungsformen, denen unterschiedliche Vorstellungen und Aneignungen zugrunde liegen. [...] Raus Studie leistet eine notwendige Differenzierung unseres Blicks auf Protest und Politik in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Seine demokratiegeschichtliche Perspektive ist inspirierend und fordert weitergehende Fragestellungen heraus.« H-Soz-Kult, Frank Kell, 21.06.2023»Die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis, die Rau präsentiert, ist die Entsolidarisierung der übrigen ostdeutschen Kali-Kumpel von den Bischofferödern, die eine neue Sicht auf die hochgelobte vermeintliche Solidarität in der DDR eröffnet [...]. Die Studie von Christian Rau schließt eine wichtige Forschungslücke [...]. Seine differenzierte Darstellung zeigt den Aushandlungsprozess in der Praxis der Transformation Ostdeutschlands.« Martin Baumert, Der Anschnitt. Zeitschrift für Montangeschichte 75, 2023