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Das abgelenkte, hyperaktive Kind beschäftigt Eltern und Lehrer. Ist das Störungsbild ADHS ein Beispiel dafür, wie psychosoziale Probleme durch medizinische Logik beschwichtigt werden? Zwei Bücher antworten kontrovers.
Was steckt hinter dem Wortungetüm "Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung"? Unter dem Kürzel ADHS wird in Fachkreisen, aber längst auch in der breiten Öffentlichkeit intensiv und kontrovers über den Typus "Zappelphilipp" diskutiert. Ein Teil der Autoren, die das unruhige Kind als Störungsbild beschreiben, führen die Symptome - geringe Aufmerksamkeitsspanne, rasches Abgelenktsein und motorische Unruhe - auf gestörte hirnphysiologische Prozesse zurück. Der andere Teil macht problematische frühkindliche Erfahrungen, gesellschaftliche Beschleunigungstendenzen und den zunehmenden Medienkonsum für die wachsende Zahl unruhiger Kinder verantwortlich (die Zahlen reichen je nach Erhebung von zwei bis sechs Prozent aller Kinder bis hin zu 15 Prozent). Diese beiden Sichtweisen treffen in den Büchern von Gerhild Drüe und Bernd Ahrbeck aufeinander.
Die Botschaft des Buches "ADHS kontrovers" von Drüe ist deutlich: ADHS ist eine genetisch bedingte Hirnstoffwechselstörung, gegen die man mit erzieherischen Maßnahmen allein nichts ausrichten kann. Medikation (zum Beispiel Ritalin) ist, in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, das Mittel der Wahl. Besonders schlecht kommen in diesem Buch tiefenpsychologisch orientierte Ansätze weg, die sich um ein Verstehen biographischer Ereignisse bemühten, wo es schlicht nichts zu verstehen und interpretieren gäbe.
Der Verweis auf die biologische Bedingtheit von ADHS und die geringe Reichweite pädagogischer Maßnahmen zieht sich durch das gesamte Buch, doch plausible Beweise bleibt die Autorin schuldig. Spätestens wenn sie als Beleg für die Grenzen erzieherischer Einflüsse ausgerechnet den vielzitierten Fall des Phineas Gage bemüht, zweifelt man an der Plausibilität der biologischen Begründung. Gage verlor infolge eines Unfalls im Jahre 1848 Teile seines Frontalhirns, und damit kamen ihm die Fähigkeiten zur Impulskontrolle, zur Empathie und zu jeglicher Form angepassten Verhaltens abhanden. Üblicherweise wird der Fall Gage jedoch herangezogen, um zu illustrieren, dass ein Mensch infolge von Hirnläsionen das "verlieren" kann, was er im Laufe seines Lebens durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse erworben hat. Er zeigt demnach gerade nicht, dass Verhaltensweisen genetisch festgelegt sind.
Dass Drüe sich zwar einerseits für eine neurobiologisch geprägte Sichtweise ausspricht, andererseits jedoch grundlegende Mechanismen der Hirnentwicklung nicht verstanden hat, zeigt sich nochmals, wenn es dezidiert um das Anlage-Umwelt-Verhältnis geht. Denn ob es überhaupt sinnvoll ist, Anlage und Umwelt strikt voneinander zu trennen, wird nicht thematisiert; stattdessen zerfällt die Welt bei Drüe in jene, die Umweltfaktoren in den Vordergrund stellen (und sich im Unrecht befinden), und jene, die genetische Faktoren als Ursache betrachten (und eben recht haben). Es ist fraglich, welche Funktion das Buch "ADHS kontrovers" haben soll: wissenschaftlichen Ansprüchen genügt es nicht und Betroffene dürften darin zwar Entlastung, aber keine neuen Einsichten finden.
Der von Bernd Ahrbeck herausgegebene Band "Hyperaktivität. Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie" nimmt eine vollkommen andere Perspektive ein. Die sieben psychoanalytisch orientierten Beiträge setzen genau dort mit ihren Fragen an, wo Drüe keinen Diskussionsbedarf mehr sieht. Der Band wendet sich dezidiert gegen den "Mainstream der Hyperaktivitätsforschung", der von einem genetisch bedingten Neurotransmittermangel als Ursache der Hyperaktivität ausgehe. Eine interaktionistische Perspektive auf das Verhältnis von Erfahrung und Hirnentwicklung wird, wenn auch nirgends ausführlich behandelt, so doch erwähnt. Der Nachweis hirnphysiologischer Abweichungen liefere demnach keinen Beweis für die genetische Verursachung von ADHS, seien doch hirnfunktionelle Prozesse hochgradig erfahrungsgeprägt. Leider wird das dann in keinem der Beiträge weiter ausgeführt.
Ahrbeck beschreibt den Trend der ADHS-Diskussion als einen der "Rebiologisierung und Dekonfliktualisierung". Man versuche, durch vermeintlich gesicherte neurobiologische Modelle eindeutige Erklärungen anzubieten und somit eine Entlastung der Betroffenen zu schaffen. Gleichzeitig verzichte eine "Gleichsetzung von Symptomatik und Störung" auf eine theoretische Klärung der ADHS. Damit gehe auch eine Konfliktvermeidung einher: Indem man nicht mehr an den lebensgeschichtlichen Entwicklungen, sondern am Symptom ansetze, vermeide man eine verstehende und zwangsläufig konflikthafte Auseinandersetzung. Diese Vermeidungsstrategie sei einer Kultur geschuldet, die eine "hohe psychische Funktionalität" ihrer Subjekte erwarte.
Unter dem Titel "Einmal bitte Öl wechseln und die Schaltung reparieren" untersucht der Aufsatz Yvonne Brandls die Metaphorik in Ratgebern und in der Fachliteratur und zeigt auf, dass sie durch Bilder aus "Maschinentechnik, Informatik und dem Militär" geprägt sei. Nach Brandl erfüllen die technischen Metaphern in der ADHS-Diskussion diverse Funktionen. Beispielsweise werde durch das Bild einer mechanischen Störung ("Festplatte" funktioniert nicht richtig, "Speicher" ist überlastet) der Eindruck eines gestörten Funktionsablaufes suggeriert, in den man als Eltern oder Lehrer nicht eingreifen könne. Das böte ihnen eine psychische Entlastung. Die Wissenschaft selbst sichere sich und ihre selektiven Forschungsentscheidungen durch ständig wiederholte, öffentlichkeitswirksame Metaphern ab.
Die Beiträge in Ahrbecks Sammelband kritisieren just das, was Drüe für einen Durchbruch in der Debatte hält. Ihr geht es um die Anerkennung von ADHS als einer genetisch bedingten Störung, für die weder Eltern noch Erzieher oder Lehrer verantwortlich seien. Ahrbecks Autoren sehen genau hierin das Problem: Ein medizinisches Erklärungsmodell, das mit der Forderung nach Medikation einhergehe, verhindere einen verstehenden Zugang zu den problematischen, aber möglicherweise lebensgeschichtlich "plausiblen" Verhaltensweisen hyperaktiver Kinder.
Erstaunlich, dass ausgerechnet von erziehungswissenschaftlicher Seite bislang nur wenige forschungsorientierte Beiträge zur Thematik vorliegen. Denn eines zeigen die vielen Falldarstellungen in jedem Fall: Vorstellungen über ADHS sind längst zu einem Teil der Erziehungswirklichkeit von Eltern und Pädagogen geworden. Vermutlich geht hiervon eine Dynamik aus, die in der bisherigen Diskussion unterschätzt wird.
NICOLE BECKER
Bernd Ahrbeck (Hrsg.): "Hyperaktivität". Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2007. 155 S., br., 19,80 [Euro].
Gerhild Drüe: "ADHS kontrovers". Betroffene Familien im Blickfeld von Fachwelt und Öffentlichkeit. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2007. 266 S., br., 24,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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