Chris Kraus, eine gescheiterte Künstlerin, die unaufhaltsam auf die 40 zugeht, lernt durch ihren Ehemann den akademischen Cowboy Dick kennen. Dick wird zu ihrer Obsession. Völlig überwältigt von ihren Gefühlen schreibt sie zunächst eine Erzählung über ihr erstes Treffen, dann verfasst sie Briefe, die sie nicht abschickt, und auch Sylvère, ihr Mann, wird Teil dieses Konzept-Dreiers. Mal schreiben beide Dick gemeinsam, mal einzeln, doch während Sylvère irgendwann sein Interesse wieder verliert, verstrickt sich Chris immer mehr in die Abgründe ihrer eigenen Begierde. Chris Kraus hebt in ihrem mittlerweile in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzten und als Amazon-Serie verfilmten Roman die Grenzen zwischen Fiktion, Essay und Tagebuch auf und schuf damit gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein völlig neues Genre. Was die Autorin selbst als "Bekenntnis- Literatur" und "Phänomenologie der einsamen Mädchen" bezeichnet, ist weit mehr als das : Es ist der letzte große feministische Roman des 20. und der erste große Liebesroman des 21. Jahrhunderts.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2017Dick ist ein
vernünftiger Kerl
Chris Kraus’ feministischer Roman von 1997
„I love Dick“ wirkt heute ziemlich überholt
VON JULIANE LIEBERT
Nach Auffassung der griechischen Antike haben edle, kluge Männer kleine Geschlechtsteile. Ein solcher edler, kluger Mann (seine Genitalien kommen erst spät und ohne Größenangaben ins Spiel) steht im Mittelpunkt von „I Love Dick“. Der Mann heißt Dick, das Wortspiel erklärt sich selbst. Chris Kraus’ semi-fiktionales Memoir aus dem Jahr 1997, damals beim Verlag Semiotext(e) erschienen und 2016 in Großbritannien neu aufgelegt, ist jetzt auf Deutsch herausgekommen und wird flächendeckend gefeiert. Grund: Wichtigstes, bedeutendstes, feministischstes Buch und so fort. „Chris Kraus“ und „Semiotext(e)“ sind die Vokabeln, die man auf Kunstausstellungen fallen lassen muss, wenn man angesagt sein will.
1997 zu Unrecht weitgehend ignoriert, wird heute allerhand Zeug in das Buch hineinprojiziert, was selbst dort, wo es mit ihm zu tun hat, mehr über die blinden Flecken des feministischen Zeitgeists aussagt als über Chris Kraus’ Roman. Was darin geschildert wird, fand unter den beschriebenen Umständen tatsächlich statt: Chris Kraus und ihr Partner, der Literaturkritiker Sylvère Lotringer, lernen 1994 in einem Restaurant in New York den Kunstkritiker Dick kennen und beginnen, ihm obsessiv Liebesbriefe zu schreiben. In diesen Briefen, die sie zunächst nicht abschicken, laden sie ihn zu sich ein, wollen ihn filmen, drohen scherzhaft damit, ihn umzubringen. „Ich interessiere mich schon lange für Zerstückelungen“, schreibt ihm Chris. Das hört man gerne von jemandem, den man vor zwei Tagen einmal für wenige Stunden gesehen hat.
All diese Vorgänge beschreibt Kraus satirisch, geschärft von der selbstironischen Abscheu, mit der sie die New Yorker Kunstszene sieht – mit dem Blick einer, die am Seziertisch eine tote Ratte betrachtet. Der Berichtston soll nerven und nervt auch, genauer: Die Kombination aus Berichtston und Durchgeknalltheit, die hysterische Lakonie. Entsprechend den gemeineren Klischees über feministische Bücher erzählt Chris in der 3. Person und in den Briefen in der 1., welche ihrer Sexualpartner sie wann auf welche Art schlecht behandelt haben. Sylvère schreibt Dick wiederum, dass er dank ihm wieder mit Chris schlafen darf, nachdem ihn die Ehe jahrelang „in etwas irgendwie zurückhaltend unterwürfig Schwanzschwingendes“ verwandelt hatte.
Nach einer Party verlässt Chris ihren Mann aus Emanzipationsgründen, („Wer ist Chris Kraus?“, schrie sie. „Sie ist niemand! Sie ist Sylvère Lotringers Frau! Sie ist seine Partybegleitung!“). Da geht es eigentlich schon lange nicht mehr um Dick, falls es das je tat. Chris Kraus macht es sich stattdessen zur Aufgabe, das „Problem der Heterosexualität“ zu lösen: „Mein gesamter Daseinszustand hat sich verändert, weil ich zu meiner Sexualität geworden bin: weiblich, hetero, ich will Männer lieben, gefickt werden. Ist es irgendwie möglich, dass sich damit so leben ließe wie ein schwuler Mensch lebt, also mit Stolz?“
Plötzlich ergibt auch, freudig verblüffend, die Leere am Anfang des Buches einen Sinn, zeigt sich, warum dieser Roman für so viele Künstler wegweisend war. Aus Projektion wird Reflexion, zuweilen drastisch klug, die kokette Milieuschilderung füllt sich mit Inhalt, der Leerlauf findet zu einer Richtung. Chris spricht über Ausstellungen, Frauenschicksale und kritische Theorie. Am Ende bekommt sie einen Brief von Dick und bringt einen Film heraus. Fertig ist der „wichtigste Roman über Männer und Frauen des 20. Jahrhunderts“.
Trotzdem schwitzt aus all dem, nach zwanzig Jahren neu gelesen, eine merkwürdige Doppelmoral. Bei einigen Passagen rollen sich einem (gerade als Feministen) die Zehennägel auf. Bemerkenswert sind etwa die Drohungen an Dick, die heiteren Überlegungen, wie sich (s)eine Leiche am ehesten beseitigen lässt, „das ginge vielleicht in einem Vorort (beispielsweise da, wo du wohnst)“. Bitte auf der Zunge zergehen lassen: Da schreibt ein fremdes Paar einem fremden Mann, dass es ihn im Rahmen eines Kunstprojekts flachlegen oder abmurksen will, und die braven Feministinnen, die sich, wenn es um eine Frau ginge, reihenweise entleiben würden, reißen die Arme hoch und jubeln, wie witzig und revolutionär das doch ist. Oder die Szene, in der Kraus Dick anruft und schlichtweg erpresst: „Ich muss dich einfach wissen lassen, wie ich mich letztes Wochenende in L. A. fühlte, nachdem ich dich gesehen hatte. Wenn ich dir das nicht erzählen kann, werde ich keine andere Wahl haben, als dich von ganzem Herzen zu hassen, vielleicht auch öffentlich“. Für Chris Kraus gibt es keine Privatsphäre, weder im Lieben noch im Hassen.
Diese Auszüge machen verständlich, warum der „wirkliche“ Dick niemals etwas mit dem Buch zu tun haben wollte, ferner fragt man sich, wie eine solche Kunstaktion wohl unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen beurteilt würde – sogar innerhalb des Buches. Ebenfalls als romantisch-krasse Selbstfindung? Lassen es nicht gerade solche Passagen fraglich erscheinen, ob die Frau, die da spricht, wirklich ein Problem mit den Normen der Gesellschaft hat oder ob ihr Problem nicht doch eher auch bei ihr selbst liegt?
Was irritiert, ist dieser Machtdiskurs aus Selbstmitleidperspektive, das Paradox, dass Frauen, die den Geschlechterspieß einfach umdrehen, sich damit nur neuerlich unterwerfen. Es ist immer noch die Frau, die sich am Mann abarbeitet. „Dir zu schreiben, scheint einen hochheiligen Zweck zu verfolgen, weil es schlicht nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt. (… ) Ich glaube, dass es sich bei der bloßen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnodderigen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt.“ Chris Kraus sagt, was ihr die Lust am Feminismus verdorben habe, sei „seine so aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Dilemma des hübschen Mädchens“, die sie als hässliches Mädchen nie sonderlich betroffen habe.
Aber was lehrt uns „I love Dick“ am Ende? Die edlen, klugen Männer wollen die „hässlichen“ Mädchen nur so halbherzig ins Bett kriegen, auch, wenn sie klug sind, und zuhören wollen sie ihnen erst recht nicht, und das ist mies? 2017 muss man sagen: Dick klingt retrospektiv wie ein ziemlich vernünftiger Kerl, der recht anlasslos im Namen der Literatur und der Emanzipation abgewatscht wurde. Kraus’ Idee von Feminismus hat sich überholt. Die antiken Griechen ahnen von nichts, sie lassen ihre marmornen Köpfe in ihren marmornen Händen ruhen und erfreuen sich ihrer winzigen Gemächte. Es ist Zeit für ein Buch mit dem Titel „I love Pussy“. Am besten aus Sicht einer Frau.
Aus heutiger Sicht spricht
aus dem Buch eine merkwürdig
selbstmitleidige Doppelmoral
Wie würde die hier beschriebene
Kunstaktion unter umgekehrten
Geschlechtervorzeichen beurteilt?
Chris Kraus: I Love Dick.
Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 296 Seiten, 22,00 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Die amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus.
Foto: John Kelsey
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
vernünftiger Kerl
Chris Kraus’ feministischer Roman von 1997
„I love Dick“ wirkt heute ziemlich überholt
VON JULIANE LIEBERT
Nach Auffassung der griechischen Antike haben edle, kluge Männer kleine Geschlechtsteile. Ein solcher edler, kluger Mann (seine Genitalien kommen erst spät und ohne Größenangaben ins Spiel) steht im Mittelpunkt von „I Love Dick“. Der Mann heißt Dick, das Wortspiel erklärt sich selbst. Chris Kraus’ semi-fiktionales Memoir aus dem Jahr 1997, damals beim Verlag Semiotext(e) erschienen und 2016 in Großbritannien neu aufgelegt, ist jetzt auf Deutsch herausgekommen und wird flächendeckend gefeiert. Grund: Wichtigstes, bedeutendstes, feministischstes Buch und so fort. „Chris Kraus“ und „Semiotext(e)“ sind die Vokabeln, die man auf Kunstausstellungen fallen lassen muss, wenn man angesagt sein will.
1997 zu Unrecht weitgehend ignoriert, wird heute allerhand Zeug in das Buch hineinprojiziert, was selbst dort, wo es mit ihm zu tun hat, mehr über die blinden Flecken des feministischen Zeitgeists aussagt als über Chris Kraus’ Roman. Was darin geschildert wird, fand unter den beschriebenen Umständen tatsächlich statt: Chris Kraus und ihr Partner, der Literaturkritiker Sylvère Lotringer, lernen 1994 in einem Restaurant in New York den Kunstkritiker Dick kennen und beginnen, ihm obsessiv Liebesbriefe zu schreiben. In diesen Briefen, die sie zunächst nicht abschicken, laden sie ihn zu sich ein, wollen ihn filmen, drohen scherzhaft damit, ihn umzubringen. „Ich interessiere mich schon lange für Zerstückelungen“, schreibt ihm Chris. Das hört man gerne von jemandem, den man vor zwei Tagen einmal für wenige Stunden gesehen hat.
All diese Vorgänge beschreibt Kraus satirisch, geschärft von der selbstironischen Abscheu, mit der sie die New Yorker Kunstszene sieht – mit dem Blick einer, die am Seziertisch eine tote Ratte betrachtet. Der Berichtston soll nerven und nervt auch, genauer: Die Kombination aus Berichtston und Durchgeknalltheit, die hysterische Lakonie. Entsprechend den gemeineren Klischees über feministische Bücher erzählt Chris in der 3. Person und in den Briefen in der 1., welche ihrer Sexualpartner sie wann auf welche Art schlecht behandelt haben. Sylvère schreibt Dick wiederum, dass er dank ihm wieder mit Chris schlafen darf, nachdem ihn die Ehe jahrelang „in etwas irgendwie zurückhaltend unterwürfig Schwanzschwingendes“ verwandelt hatte.
Nach einer Party verlässt Chris ihren Mann aus Emanzipationsgründen, („Wer ist Chris Kraus?“, schrie sie. „Sie ist niemand! Sie ist Sylvère Lotringers Frau! Sie ist seine Partybegleitung!“). Da geht es eigentlich schon lange nicht mehr um Dick, falls es das je tat. Chris Kraus macht es sich stattdessen zur Aufgabe, das „Problem der Heterosexualität“ zu lösen: „Mein gesamter Daseinszustand hat sich verändert, weil ich zu meiner Sexualität geworden bin: weiblich, hetero, ich will Männer lieben, gefickt werden. Ist es irgendwie möglich, dass sich damit so leben ließe wie ein schwuler Mensch lebt, also mit Stolz?“
Plötzlich ergibt auch, freudig verblüffend, die Leere am Anfang des Buches einen Sinn, zeigt sich, warum dieser Roman für so viele Künstler wegweisend war. Aus Projektion wird Reflexion, zuweilen drastisch klug, die kokette Milieuschilderung füllt sich mit Inhalt, der Leerlauf findet zu einer Richtung. Chris spricht über Ausstellungen, Frauenschicksale und kritische Theorie. Am Ende bekommt sie einen Brief von Dick und bringt einen Film heraus. Fertig ist der „wichtigste Roman über Männer und Frauen des 20. Jahrhunderts“.
Trotzdem schwitzt aus all dem, nach zwanzig Jahren neu gelesen, eine merkwürdige Doppelmoral. Bei einigen Passagen rollen sich einem (gerade als Feministen) die Zehennägel auf. Bemerkenswert sind etwa die Drohungen an Dick, die heiteren Überlegungen, wie sich (s)eine Leiche am ehesten beseitigen lässt, „das ginge vielleicht in einem Vorort (beispielsweise da, wo du wohnst)“. Bitte auf der Zunge zergehen lassen: Da schreibt ein fremdes Paar einem fremden Mann, dass es ihn im Rahmen eines Kunstprojekts flachlegen oder abmurksen will, und die braven Feministinnen, die sich, wenn es um eine Frau ginge, reihenweise entleiben würden, reißen die Arme hoch und jubeln, wie witzig und revolutionär das doch ist. Oder die Szene, in der Kraus Dick anruft und schlichtweg erpresst: „Ich muss dich einfach wissen lassen, wie ich mich letztes Wochenende in L. A. fühlte, nachdem ich dich gesehen hatte. Wenn ich dir das nicht erzählen kann, werde ich keine andere Wahl haben, als dich von ganzem Herzen zu hassen, vielleicht auch öffentlich“. Für Chris Kraus gibt es keine Privatsphäre, weder im Lieben noch im Hassen.
Diese Auszüge machen verständlich, warum der „wirkliche“ Dick niemals etwas mit dem Buch zu tun haben wollte, ferner fragt man sich, wie eine solche Kunstaktion wohl unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen beurteilt würde – sogar innerhalb des Buches. Ebenfalls als romantisch-krasse Selbstfindung? Lassen es nicht gerade solche Passagen fraglich erscheinen, ob die Frau, die da spricht, wirklich ein Problem mit den Normen der Gesellschaft hat oder ob ihr Problem nicht doch eher auch bei ihr selbst liegt?
Was irritiert, ist dieser Machtdiskurs aus Selbstmitleidperspektive, das Paradox, dass Frauen, die den Geschlechterspieß einfach umdrehen, sich damit nur neuerlich unterwerfen. Es ist immer noch die Frau, die sich am Mann abarbeitet. „Dir zu schreiben, scheint einen hochheiligen Zweck zu verfolgen, weil es schlicht nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt. (… ) Ich glaube, dass es sich bei der bloßen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnodderigen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt.“ Chris Kraus sagt, was ihr die Lust am Feminismus verdorben habe, sei „seine so aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Dilemma des hübschen Mädchens“, die sie als hässliches Mädchen nie sonderlich betroffen habe.
Aber was lehrt uns „I love Dick“ am Ende? Die edlen, klugen Männer wollen die „hässlichen“ Mädchen nur so halbherzig ins Bett kriegen, auch, wenn sie klug sind, und zuhören wollen sie ihnen erst recht nicht, und das ist mies? 2017 muss man sagen: Dick klingt retrospektiv wie ein ziemlich vernünftiger Kerl, der recht anlasslos im Namen der Literatur und der Emanzipation abgewatscht wurde. Kraus’ Idee von Feminismus hat sich überholt. Die antiken Griechen ahnen von nichts, sie lassen ihre marmornen Köpfe in ihren marmornen Händen ruhen und erfreuen sich ihrer winzigen Gemächte. Es ist Zeit für ein Buch mit dem Titel „I love Pussy“. Am besten aus Sicht einer Frau.
Aus heutiger Sicht spricht
aus dem Buch eine merkwürdig
selbstmitleidige Doppelmoral
Wie würde die hier beschriebene
Kunstaktion unter umgekehrten
Geschlechtervorzeichen beurteilt?
Chris Kraus: I Love Dick.
Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 296 Seiten, 22,00 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Die amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus.
Foto: John Kelsey
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2017Ich ist ein Brief an den Anderen
Ein Buch gegen alle Literaturdebatten: Chris Kraus' Roman "I Love Dick"
Neulich wurde wieder der Versuch unternommen, eine dieser Grundsatzdiskussionen zu führen, mit denen sich die Literaturkritik ihrer eigenen Wichtigkeit versichert. Unter dem Titel "Warum mich Romane heute nur noch langweilen" behauptete ein Kollege in der "Welt", die "radikalen Ich-Texte" von Karl Ove Knausgård, Benjamin von Stuckrad-Barre und Thomas Melle seien "mutiger als Romane". Er hielt sie sogar für wahrhaftiger, weil sie gesättigt seien vom Leben. Beim Lesen des Textes hatte man ehrlich gesagt den Eindruck, dass der Autor ziemlich verzweifelt nach einem Thema gesucht hatte, über das er schreiben könnte, und dann wahrscheinlich festgestellt hatte, in letzter Zeit viele Ich-Bücher und Memoirs, aber schon lange keine Romane mehr gelesen zu haben, die er dann beschloss, doof zu finden. Mehr stand wirklich nicht drin im Text.
Trotzdem gab es Widerspruch. Dass in den Ich-Büchern die Authentizität auch nur ein Effekt sei, also selbst eine Fiktion, schrieb mein Kollege in der F.A.Z., was ein absolut berechtigter Einwand war, dem Literaturblog "tell" aber offenbar zu unzeitgemäß und unaufgeregt. Auf "tell" wurde die Befindlichkeit des "Welt"-Autors auf abenteuerliche Weise in eine "momentane ,J'accuse'-Stimmung gegenüber der Fiktion" ausgeweitet und umgedeutet, die den "absurden Vorwurf" erhebe, "Romane seien postfaktisch". Der gegenwärtige "Abgesang auf die Fiktion" - konnte man auf "tell" lesen - sei "daher vor allem eins: ein so verwegener wie naiver Abwehrzauber gegen die sogenannten Fake News". Das klang extrem brisant. Der "tell"-Autor kam sich bestimmt sehr toll vor, die Scheindebatte mit besonders aktuellen und dann auch noch politischen Begriffen aufgepimpt zu haben. Leider ohne jeden Erkenntnisgewinn.
Und so ist das dann meistens mit diesen pseudoliteraturkritischen Debatten. Es kommt, besonders wo es um Fakten und Fiktion geht, um Ich-Texte, die offen autobiographisch daherkommen, oder Texte, die das Autobiographische aufwendig verschleiern, am Ende überhaupt nichts heraus, was Anlass dazu gäbe, die einen den anderen vorzuziehen. Es lässt sich ohne weiteres nichts verallgemeinern oder zu Tendenzen verklären, weil jeder Text und jedes Buch seine ganz eigene Aufmerksamkeit fordert. Das ist ja gerade die Mühe, die man sich machen muss, und übrigens auch der Spaß an der ganzen Sache. In genau dem Augenblick, in dem man ein neues Buch aufschlägt, verwickeln einen die Stimmen, die darin erzählen, aufs Neue in ein Spiel, in dem Erlebtes wie erfunden erscheinen oder Erfundenes völlig wahrscheinlich anmuten kann (oder Echtes wie echt und Erfundenes wie total erfunden). Jeder Einzelne kann dann entscheiden, ob er dem folgen will, kann sehen, was es mit ihm macht und ob es ihm etwas sagt, was über die erzählte Geschichte hinausweist.
Also schlage ich lieber wieder ein neues Buch auf. Eines, von dem schon viel zu hören war, in welchem angeblich alles autobiographisch sein soll, die Wirklichkeit sich aber in eine abgedrehte Fiktion verwandelt, die auf die Wirklichkeit dann wieder zurückwirkt. Es geht um "I Love Dick" von der 1955 in New York geborenen Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus, ein Buch, das sich zwischen Memoir, Autofiktion und Roman bewegt. Zum ersten Mal ist es 1997 erschienen, in dem kleinen unabhängigen Verlag Semiotext(e) von Sylvère Lotringer, den Chris Kraus später heiratete (und der uns im Roman gleich wieder begegnen wird). Lotringer, der, wie der Schriftsteller Georges Perec, während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich zu den versteckten jüdischen Kindern gehörte, war in den siebziger Jahren in die Vereinigten Staaten gegangen und hatte in der New Yorker Kunst- und Literaturszene die Werke der französischen Theorie bekanntgemacht, Deleuze, Foucault, Virilio. Den Verlag gibt es bis heute.
Von "I Love Dick" verkaufte er pro Jahr nicht einmal hundert Exemplare. 2006 wurde das Buch wieder aufgelegt und erst in den letzten Jahren von jungen amerikanischen Autorinnen neu entdeckt, die völlig außer sich waren über das, was sie da lasen. "Ich weiß, dass es eine Zeit gab, bevor ich ,I Love Dick' gelesen habe, aber es ist schwer, sich das vorzustellen", schrieb die Schriftstellerin Sheila Heti, die im "Believer" ein langes Interview mit Chris Kraus führte. Lena Dunham empfahl es weiter oder Rachel Kushner. Sie alle erlagen dabei vor allem dem Humor, der, als das Buch in den neunziger Jahren erschien, von Leserinnen und Lesern überhaupt nicht wahrgenommen worden war. Im Gegenteil hatten viele beklagt, dass die Frau im Roman vom Selbsthass zerfressen sei, sich unablässig selbst herabsetze. Auf die Idee, dass das lustig sein könnte, kam, als die Selbstherabsetzungsnummer in Sachen Humor eher noch den Männern vorbehalten war, niemand. Inzwischen ist das anders. Ab Februar wird es sogar eine "I Love Dick"-Amazon-Serie geben. Und ab Ende Januar gibt es den Roman erstmals auch auf Deutsch.
Es beginnt am 3. Dezember 1994. Chris Kraus, experimentelle Filmemacherin, 39 Jahre alt, und Sylvère Lotringer, College-Professor in New York, 56 Jahre alt, essen gemeinsam mit Dick (ohne Nachnamen), einem Bekannten von Sylvère, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, "die keine Intellektuelle ist", wie es der Roman ironisch will, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Im Radio wird für den San-Bernadino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antilope Valley zu verbringen, etwa 130 Kilometer entfernt. Sie willigen ein, fahren hin, verbringen den Rest des Abends bei Dick zu Hause. Chris erwidert benommen die Blicke des Gastgebers, der ihnen um zwei Uhr morgens ein Video vorspielt, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstanden ist und in dem er als Johnny Cash verkleidet auftritt. Schlechte Kunst, findet Chris, mache ihre Betrachter viel aktiver, sagt es nicht laut, träumt aber die ganze Nacht von Dick, der, als Sylvère und Chris am nächsten Morgen auf dem Schlafsofa aufwachen, verschwunden ist.
Das ist die Ausgangssituation, die die Projektionsmaschine in Gang wirft. Denn tatsächlich dreht Chris nach diesem Abend völlig durch und zieht Sylvère mit hinein in ihren Projektionswahn. Mit einem Mal geht es nur noch um Dick, der das zunächst natürlich gar nicht vermutet und auch gar nicht wissen kann. Weil Chris nicht aufhört, über den Abend mit Dick nachzudenken, schreibt sie zunächst eine Erzählung mit dem Titel "Abstrakte Romantik": "Es begann im Restaurant", schreibt sie. "Es war früher Abend, und wir lachten alle ein wenig zu viel." Während sie schreibt, klingelt das Telefon. Dick ruft an und will sein Verschwinden in der Nacht zuvor erklären. Er sei früh aufgestanden und losgefahren, um sich ein paar Eier mit Speck zu holen. Das Gespräch dauert drei Minuten, Chris legt auf und rennt die Treppe herunter, um Sylvère zu suchen.
Sylvère ist ein europäischer Intellektueller, der Seminare zu Proust gibt und in der Analyse all der zahllosen winzigen Einzelheiten der Liebe sehr bewandert ist. Doch wie lange kann man einen einzigen Abend und einen dreiminütigen Anruf auseinandernehmen? Also beschließt Chris, Dick einen Brief zu schreiben, und fragt Sylvère, der ihr zuliebe einwilligt, ob er nicht auch einen schreiben wolle. Seitenlang können wir diese Briefe verfolgen, denn "I Love Dick" verwandelt sich in eine Art doppelten Briefroman, in dem der Adressat stumm bleibt, sein Schweigen die Phantasie aber nur noch mehr anpeitscht und das Paar, Sylvère und Chris, auseinandertreibt.
"Es muss der Wüstenwind sein, der uns in jener Nacht zu Kopf gestiegen ist, vielleicht auch der Wunsch, das Leben ein wenig zu fiktionalisieren", heißt es an einer Stelle. Und tatsächlich ist "I Love Dick" ein Roman, der reflektiert, was passieren kann, wenn die Fiktionalisierungsmaschine einmal angeworfen ist. Ein Roman, der von den Ungeheuerlichkeiten erzählt, die mit der Produktion von Literatur verbunden sind. Dazu gehört zum einen die komische Wut darüber, jemanden nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen ("Lieber Dick, warum hast du uns das angetan? Kannst du uns nicht in Ruhe lassen?"). Zum anderen natürlich das Stalking-Moment, die Gier, den anderen zu verfolgen ("Haben wir irgendein Recht dazu, Dir unsere Fantasien aufzudrängen? Was für eine Hetzjagd!").
Chris Kraus hat in Interviews offen darüber gesprochen, wie autobiographisch "I Love Dick" ist (und dass derjenige, der sich in Dick wiedererkannt hat, nichts mit dem Buch zu tun haben wollte). Das Autobiographische schließt in diesem Fall - tatsächlich ja aber nicht nur in diesem - auch das Schreiben selbst mit ein, weil Sylvère und Chris wirklich da saßen und Briefe schrieben, mit denen sie ein völlig neues Genre zu erfinden meinten, "irgendwo zwischen Kulturkritik und Belletristik". Wie in der Literatur beides einander bedingt, wie die Fiktion sich ins Echte verwandelt, davon erzählt dieser wunderbar abgedrehte, komische und theoretisch bis zum Anschlag gesättigte Roman: "Wie konnte ich dir nur begreiflich machen, dass meine Briefe an dich das Echteste waren, was ich je getan hatte?", heißt es an einer Stelle. Und da erübrigen sich alle Debatten.
Chris wird, nach der Trennung von Sylvère, Dick treffen. Sie wird auch eine Antwort von ihm erhalten. Über beides soll hier nichts gesagt werden. In ihren Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, in der unablässigen Beschäftigung mit der Person, für die sie Dick hält und in der sie überall Verweise auf das findet, was sie gelesen oder in Filmen gesehen hat, findet Chris im Verlauf des Romans eine ganz eigene sichere Stimme. Auch davon erzählt "I Love Dick". Von der verführerischen Hölle der Fiktion, durch die Chris gehen muss, um zu dem zu finden, was sie selbst ist. "Sie rang nach Luft, stieg aus dem Taxi und zeigte ihren Film", lautet der letzte Satz des Romans. Der Film gehört endlich nur ihr.
JULIA ENCKE
Chris Kraus: "I Love Dick". Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Matthes & Seitz. 290 Seiten, 22 Euro. Erscheint am 30. Januar.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch gegen alle Literaturdebatten: Chris Kraus' Roman "I Love Dick"
Neulich wurde wieder der Versuch unternommen, eine dieser Grundsatzdiskussionen zu führen, mit denen sich die Literaturkritik ihrer eigenen Wichtigkeit versichert. Unter dem Titel "Warum mich Romane heute nur noch langweilen" behauptete ein Kollege in der "Welt", die "radikalen Ich-Texte" von Karl Ove Knausgård, Benjamin von Stuckrad-Barre und Thomas Melle seien "mutiger als Romane". Er hielt sie sogar für wahrhaftiger, weil sie gesättigt seien vom Leben. Beim Lesen des Textes hatte man ehrlich gesagt den Eindruck, dass der Autor ziemlich verzweifelt nach einem Thema gesucht hatte, über das er schreiben könnte, und dann wahrscheinlich festgestellt hatte, in letzter Zeit viele Ich-Bücher und Memoirs, aber schon lange keine Romane mehr gelesen zu haben, die er dann beschloss, doof zu finden. Mehr stand wirklich nicht drin im Text.
Trotzdem gab es Widerspruch. Dass in den Ich-Büchern die Authentizität auch nur ein Effekt sei, also selbst eine Fiktion, schrieb mein Kollege in der F.A.Z., was ein absolut berechtigter Einwand war, dem Literaturblog "tell" aber offenbar zu unzeitgemäß und unaufgeregt. Auf "tell" wurde die Befindlichkeit des "Welt"-Autors auf abenteuerliche Weise in eine "momentane ,J'accuse'-Stimmung gegenüber der Fiktion" ausgeweitet und umgedeutet, die den "absurden Vorwurf" erhebe, "Romane seien postfaktisch". Der gegenwärtige "Abgesang auf die Fiktion" - konnte man auf "tell" lesen - sei "daher vor allem eins: ein so verwegener wie naiver Abwehrzauber gegen die sogenannten Fake News". Das klang extrem brisant. Der "tell"-Autor kam sich bestimmt sehr toll vor, die Scheindebatte mit besonders aktuellen und dann auch noch politischen Begriffen aufgepimpt zu haben. Leider ohne jeden Erkenntnisgewinn.
Und so ist das dann meistens mit diesen pseudoliteraturkritischen Debatten. Es kommt, besonders wo es um Fakten und Fiktion geht, um Ich-Texte, die offen autobiographisch daherkommen, oder Texte, die das Autobiographische aufwendig verschleiern, am Ende überhaupt nichts heraus, was Anlass dazu gäbe, die einen den anderen vorzuziehen. Es lässt sich ohne weiteres nichts verallgemeinern oder zu Tendenzen verklären, weil jeder Text und jedes Buch seine ganz eigene Aufmerksamkeit fordert. Das ist ja gerade die Mühe, die man sich machen muss, und übrigens auch der Spaß an der ganzen Sache. In genau dem Augenblick, in dem man ein neues Buch aufschlägt, verwickeln einen die Stimmen, die darin erzählen, aufs Neue in ein Spiel, in dem Erlebtes wie erfunden erscheinen oder Erfundenes völlig wahrscheinlich anmuten kann (oder Echtes wie echt und Erfundenes wie total erfunden). Jeder Einzelne kann dann entscheiden, ob er dem folgen will, kann sehen, was es mit ihm macht und ob es ihm etwas sagt, was über die erzählte Geschichte hinausweist.
Also schlage ich lieber wieder ein neues Buch auf. Eines, von dem schon viel zu hören war, in welchem angeblich alles autobiographisch sein soll, die Wirklichkeit sich aber in eine abgedrehte Fiktion verwandelt, die auf die Wirklichkeit dann wieder zurückwirkt. Es geht um "I Love Dick" von der 1955 in New York geborenen Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus, ein Buch, das sich zwischen Memoir, Autofiktion und Roman bewegt. Zum ersten Mal ist es 1997 erschienen, in dem kleinen unabhängigen Verlag Semiotext(e) von Sylvère Lotringer, den Chris Kraus später heiratete (und der uns im Roman gleich wieder begegnen wird). Lotringer, der, wie der Schriftsteller Georges Perec, während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich zu den versteckten jüdischen Kindern gehörte, war in den siebziger Jahren in die Vereinigten Staaten gegangen und hatte in der New Yorker Kunst- und Literaturszene die Werke der französischen Theorie bekanntgemacht, Deleuze, Foucault, Virilio. Den Verlag gibt es bis heute.
Von "I Love Dick" verkaufte er pro Jahr nicht einmal hundert Exemplare. 2006 wurde das Buch wieder aufgelegt und erst in den letzten Jahren von jungen amerikanischen Autorinnen neu entdeckt, die völlig außer sich waren über das, was sie da lasen. "Ich weiß, dass es eine Zeit gab, bevor ich ,I Love Dick' gelesen habe, aber es ist schwer, sich das vorzustellen", schrieb die Schriftstellerin Sheila Heti, die im "Believer" ein langes Interview mit Chris Kraus führte. Lena Dunham empfahl es weiter oder Rachel Kushner. Sie alle erlagen dabei vor allem dem Humor, der, als das Buch in den neunziger Jahren erschien, von Leserinnen und Lesern überhaupt nicht wahrgenommen worden war. Im Gegenteil hatten viele beklagt, dass die Frau im Roman vom Selbsthass zerfressen sei, sich unablässig selbst herabsetze. Auf die Idee, dass das lustig sein könnte, kam, als die Selbstherabsetzungsnummer in Sachen Humor eher noch den Männern vorbehalten war, niemand. Inzwischen ist das anders. Ab Februar wird es sogar eine "I Love Dick"-Amazon-Serie geben. Und ab Ende Januar gibt es den Roman erstmals auch auf Deutsch.
Es beginnt am 3. Dezember 1994. Chris Kraus, experimentelle Filmemacherin, 39 Jahre alt, und Sylvère Lotringer, College-Professor in New York, 56 Jahre alt, essen gemeinsam mit Dick (ohne Nachnamen), einem Bekannten von Sylvère, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, "die keine Intellektuelle ist", wie es der Roman ironisch will, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Im Radio wird für den San-Bernadino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antilope Valley zu verbringen, etwa 130 Kilometer entfernt. Sie willigen ein, fahren hin, verbringen den Rest des Abends bei Dick zu Hause. Chris erwidert benommen die Blicke des Gastgebers, der ihnen um zwei Uhr morgens ein Video vorspielt, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstanden ist und in dem er als Johnny Cash verkleidet auftritt. Schlechte Kunst, findet Chris, mache ihre Betrachter viel aktiver, sagt es nicht laut, träumt aber die ganze Nacht von Dick, der, als Sylvère und Chris am nächsten Morgen auf dem Schlafsofa aufwachen, verschwunden ist.
Das ist die Ausgangssituation, die die Projektionsmaschine in Gang wirft. Denn tatsächlich dreht Chris nach diesem Abend völlig durch und zieht Sylvère mit hinein in ihren Projektionswahn. Mit einem Mal geht es nur noch um Dick, der das zunächst natürlich gar nicht vermutet und auch gar nicht wissen kann. Weil Chris nicht aufhört, über den Abend mit Dick nachzudenken, schreibt sie zunächst eine Erzählung mit dem Titel "Abstrakte Romantik": "Es begann im Restaurant", schreibt sie. "Es war früher Abend, und wir lachten alle ein wenig zu viel." Während sie schreibt, klingelt das Telefon. Dick ruft an und will sein Verschwinden in der Nacht zuvor erklären. Er sei früh aufgestanden und losgefahren, um sich ein paar Eier mit Speck zu holen. Das Gespräch dauert drei Minuten, Chris legt auf und rennt die Treppe herunter, um Sylvère zu suchen.
Sylvère ist ein europäischer Intellektueller, der Seminare zu Proust gibt und in der Analyse all der zahllosen winzigen Einzelheiten der Liebe sehr bewandert ist. Doch wie lange kann man einen einzigen Abend und einen dreiminütigen Anruf auseinandernehmen? Also beschließt Chris, Dick einen Brief zu schreiben, und fragt Sylvère, der ihr zuliebe einwilligt, ob er nicht auch einen schreiben wolle. Seitenlang können wir diese Briefe verfolgen, denn "I Love Dick" verwandelt sich in eine Art doppelten Briefroman, in dem der Adressat stumm bleibt, sein Schweigen die Phantasie aber nur noch mehr anpeitscht und das Paar, Sylvère und Chris, auseinandertreibt.
"Es muss der Wüstenwind sein, der uns in jener Nacht zu Kopf gestiegen ist, vielleicht auch der Wunsch, das Leben ein wenig zu fiktionalisieren", heißt es an einer Stelle. Und tatsächlich ist "I Love Dick" ein Roman, der reflektiert, was passieren kann, wenn die Fiktionalisierungsmaschine einmal angeworfen ist. Ein Roman, der von den Ungeheuerlichkeiten erzählt, die mit der Produktion von Literatur verbunden sind. Dazu gehört zum einen die komische Wut darüber, jemanden nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen ("Lieber Dick, warum hast du uns das angetan? Kannst du uns nicht in Ruhe lassen?"). Zum anderen natürlich das Stalking-Moment, die Gier, den anderen zu verfolgen ("Haben wir irgendein Recht dazu, Dir unsere Fantasien aufzudrängen? Was für eine Hetzjagd!").
Chris Kraus hat in Interviews offen darüber gesprochen, wie autobiographisch "I Love Dick" ist (und dass derjenige, der sich in Dick wiedererkannt hat, nichts mit dem Buch zu tun haben wollte). Das Autobiographische schließt in diesem Fall - tatsächlich ja aber nicht nur in diesem - auch das Schreiben selbst mit ein, weil Sylvère und Chris wirklich da saßen und Briefe schrieben, mit denen sie ein völlig neues Genre zu erfinden meinten, "irgendwo zwischen Kulturkritik und Belletristik". Wie in der Literatur beides einander bedingt, wie die Fiktion sich ins Echte verwandelt, davon erzählt dieser wunderbar abgedrehte, komische und theoretisch bis zum Anschlag gesättigte Roman: "Wie konnte ich dir nur begreiflich machen, dass meine Briefe an dich das Echteste waren, was ich je getan hatte?", heißt es an einer Stelle. Und da erübrigen sich alle Debatten.
Chris wird, nach der Trennung von Sylvère, Dick treffen. Sie wird auch eine Antwort von ihm erhalten. Über beides soll hier nichts gesagt werden. In ihren Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, in der unablässigen Beschäftigung mit der Person, für die sie Dick hält und in der sie überall Verweise auf das findet, was sie gelesen oder in Filmen gesehen hat, findet Chris im Verlauf des Romans eine ganz eigene sichere Stimme. Auch davon erzählt "I Love Dick". Von der verführerischen Hölle der Fiktion, durch die Chris gehen muss, um zu dem zu finden, was sie selbst ist. "Sie rang nach Luft, stieg aus dem Taxi und zeigte ihren Film", lautet der letzte Satz des Romans. Der Film gehört endlich nur ihr.
JULIA ENCKE
Chris Kraus: "I Love Dick". Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Matthes & Seitz. 290 Seiten, 22 Euro. Erscheint am 30. Januar.
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»[D]ie meisten Sätze in "I love Dick" klingen immer noch so wahr, dass man sie am liebsten mehrmals unterstreichen will.« - Lara Lorenz, mephisto 97.6 Lara Lorenz mephisto 97.6 20170619
»Das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts über Männer und Frauen.« The Guardian