Auf der Suche nach einem Gegenmittel für eine Grippeepidemie, die sie durch die Reste einer vergangenen Zivilisation führt, erlebt eine unerschrockene Heldin Fanatismus, Gier und sinnlose Gewalt genauso wie Loyalität, Güte und Hoffnung. Eine sprachmächtige Irrfahrt durch die höchsten Höhen und finstersten Abgründe des Menschseins. In einer nicht allzu fernen Zukunft sorgt eine Pandemie dafür, dass in Amerika die Weißen vollständig aussterben, während die Schwarzen höchstens 18 Jahre alt werden. Die Welt von Ice Cream Star ist eine Welt der Kinder, die mit Findigkeit und Witz die Ruinen der heutigen Welt umdeuten und für ihre Zwecke nutzen. Mit 15 Jahren gehört Ice Cream schon zur älteren Generation, als sie zur Anführerin berufen wird, um über das Schicksal ihrer Leute zu entscheiden. Fest entschlossen, ein Heilmittel zu finden, führt ihr Weg sie von den Wäldern Massachusetts' bis nach New York, wo katholische Extremisten ein korruptes Regime errichtet haben, an dessen Spitze sie sich bald befindet. Doch der Preis für diesen unverhofften Aufstieg ist hoch: Ihr treuer Begleiter Pascha – ein Weißer, der behauptet, 30 Jahre alt zu sein – soll am Kreuz sterben, wie alle anderen weißen Männer auf den Darstellungen der Passion Christi. Es folgt eine Odyssee, an der nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch Ice Creams sonst unerschütterlicher Optimismus zu zerbrechen drohen. "Wirkmächtig, anregend und kathartisch." - The Guardian "Ice Cream Star, die Heldin dieses Romans, ist der Frodo Beutlin, den unsere Zeit verdient. Ice Cream Star konfrontiert uns mit der unwiderlegbaren Tatsache, dass die Bürger der Zukunft die Geschichte wiederholen müssen, die wir heute für sie machen." - The New York Times
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rivalisierende Gangs junger Schwarzer, die Auslöschung der Weißen, frühe Tode durch ein ominöses Virus, ein Verrat nach dem anderen, das Auftauchen einer unbekannten menschenähnlichen Spezies und immer wieder Lebensgefahr - in den dystopischen USA dieses Romans passiert einfach zu viel, findet Rezensent Burkhard Müller, den die ständige Atemlosigkeit irgendwann ermüdet hat. Was die Dramaturgie vermissen lässt, gleicht aber die Protagonistin aus, wie er versichert: Der Autorin ist es dem Kritiker zufolge gelungen, ihr eine schwarze Sprache der Zukunft in den Mund zu legen, die er in ihrer Authentizität höchst beeindruckend findet. Umso ehrfürchtiger verneigt er sich vor der Leistung der jungen Übersetzerin Milena Adam, die den innovativen Zukunftsslang seines Erachtens grandios ins Deutsche übertragen hat. Adam zeigt hier gar, wie die deutsche Sprache von Fremdeinflüssen profitieren könnte, staunt der Kritiker, der dem Buch Übersetzungen wie "fettes Glück" verdankt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2019Wir kämpfen wie
zwanzig Knarrn
„Ice Cream Star“ – ein außergewöhnlicher Roman
in außergewöhnlicher Übersetzung
In einer Welt, in der niemand älter als zwanzig wird, hat auch eine Fünfzehnjährige alle Optionen und Pflichten einer Erwachsenen. Sie heißt Ice Cream Star und ist die titelgebende Erzählerin im Roman der 1965 geborenen Amerikanerin Sandra Newman. An einer nicht näher bestimmten Pandemie ist der größte Teil der Weltbevölkerung gestorben, und die Überlebenden haben sich in kleinen Stämmen organisiert. Alle sind schwarz, und alle jung, denn mit dem Ende ihrer Teenagerzeit schlagen die Posies zu, eine rätselhafte degenerative Krankheit, die in wenigen Monaten zum Tod führt. Die Mädchen kriegen sehr früh Kinder, denn wenigstens in den ersten drei, vier Jahren möchten sie ihre Kleinen beschützen können, weil ungewiss ist, wer es später tut.
Ice Cream Star gehört zum Clan der Sengles, die sich halbnomadisch und unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen durch eine Gegend bewegen, die einmal Massachusetts war, jetzt aber nur noch Massa heißt. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt, indem sie die Häuser der Schläfer plündern, der früheren Bewohner des Landes. Außer ihnen gibt es auch andere Gruppen, die frommen Christlinge, die praktischen Lowells, die räuberischen Armies, mit denen sie je nachdem in freundlichen oder feindlichen Beziehungen stehen. Die Globalisierung hat definitiv ihr Ende erreicht und mit ihr jegliche Tradition. Viel Lebenszeit hat keiner, und diese verkürzt sich oft genug durch die allgegenwärtige Gewalt.
Diese lokale Szenerie wird aufgesprengt, als eine größere Drohung am Horizont auftaucht, die Rous, eine ganz komische Art von Menschen mit einer rosa Haut wie Schweine und gelbem Haar, das aussieht wie Fell. Alle miteinander, Sengles, Christlinge, Lowells und Armies, fliehen vor ihnen nach Süden und landen in Marias, dem früheren New York, in dem eine katholisch inspirierte Sekte die Macht an sich gerissen hat. Sie kürt Ice Cream Star zu ihrer neuen Madonna, eine ehrenvolle, aber gefährliche Position; nur knapp entrinnt sie bei ihrer Amtseinführung, als sie zwölf heilige Kelche leeren muss, dem Giftanschlag eines missgünstigen Kardinals. Von dort verlagert sich das Aktionsfeld nach Quantico, dem alten Washington D.C., wo sich nun wiederum die bis an die Zähne bewaffneten Marines verschanzt haben.
Was weiter passiert, lässt sich hier nicht wiedergeben, wenn man sich nicht hoffnungslos verzetteln will. Immer mehr gleicht das Buch einem Actionfilm, in dem ständig was explodiert, das Blut spritzt und eine halsbrecherische Situation die nächste jagt. Auch strengt die Menge der handelnden Personen, die Vielzahl von Verrat und Meta-Verrat, den sie aneinander begehen, den Leser, der sich das alles merken soll, gewaltig an. Gerade die Fülle des Atemraubenden bewirkt Ermüdung. Selbst das unerwartete Ende findet da nicht mehr die Kraft zur echten Überraschung. Das Buch, einfallsreich in den Wendungen seines Plots, aber konventionell innerhalb der Genregrenzen postapokalyptischer Dystopien entworfen, weiß nichts von erzählerischer Ökonomie; man hätte es sich um ein Drittel kürzer und um die Hälfte weniger verwickelt gewünscht.
Hier liegen seine Qualitäten also nicht. Diese haben vielmehr alle mit der Heldin zu tun. Sämtliche Energien des Romans bündeln sich in der Heldin Ice Cream Star; denn eine Heldin, das ist sie wirklich, zäh, mutig, empathisch. Einmal rettet sie ganz allein und unter Einsatz ihres Lebens zwei Dutzend Kinder aus einem brennenden Haus. Die vielen anderen Figuren scheinen nur dazu erschaffen, ihr Gelegenheit zum Handeln und Reagieren zu geben. Dass man ihr aber diese emotionale Kraft und sprühende Lebendigkeit glaubt, liegt an ihrer Sprache.
Dass auch die Sprache die Katastrophe nicht unverwandelt überstanden haben kann, versteht sich von selbst. Doch wie würde sie klingen? Sandra Newman macht dafür einen Vorschlag, der vom heutigen afro-amerikanischen Idiom der USA ausgeht (schließlich haben nur Schwarze überlebt), doch es kraftvoll in Richtung Zukunft überschreitet. Es hört sich so an: „Fat luck been the story of this year. Snares ever struggling full, and every arrow find a turkey. Any a sleeper street we did maraud, that street give food. We war like twenty guns, but no one injure. Sling our hammocks in the crown of sycamores like secret birds, and rest there, chattering and smoking, noses to the stars. Children forgot the taste of hunger and the touch of fear.“
Der schwarze amerikanische Slang ist immer die Verzweiflung seiner deutschen Übersetzer gewesen. Im deutschen Sprachraum existiert keine separate Sprechergemeinschaft mit einer vergleichbar düsteren Vorgeschichte der Sklaverei. So mussten die deutschen Schwarzen entweder wie Idioten reden (etwa so wie die Piraten bei Asterix und Obelix) oder gewissermaßen wie Weiße ehrenhalber, das heißt, unkenntlich in ihrer Besonderheit. Es gab und gibt hier keine guten Lösungen. Aber das Zukunftsschwarz in Newmans Roman bietet einem beherzten Übersetzer eine echte Chance. Milena Adam, erst 28 Jahre alt, sehr jung also in einer Branche, in der es vor allem auf Erfahrung ankommt, ergreift sie und schreibt:
„Fettes Glück war die Geschichte von diesem Jahr. Die Fallen immer rackenvoll, und jeder Pfeil findet nen Truthahn. Jede Schläferstraße, die wir marodiern, gibt uns Essen. Wir kämpfen wie zwanzig Knarrn, aber keiner is verletzt. Schling unsere Hängematten in die Kronen der Platanen wie geheime Vögel und ruhn da, plappern und rauchen, Nase zu den Sternen. Die Kinder hatten den Geschmack von Hunger und den Griff der Angst vergessen.“
Die Sprache muss anders klingen als das, was heute üblich ist, und sich doch von Willkür freihalten. Man sehe sich an, was Milena Adam hier geleistet hat. Zunächst einmal nützt sie die geläufigen Nachlässigkeiten der deutschen Umgangssprache, die es sonst selten in die Schriftform schaffen, „nen“, „is“, „schling“, „Knarrn“ „marodiern“. „Marodiern“ könnte zum Problem werden, denn dieses Fremdwort, das aus dem Dreißigjährigen Krieg stammt, hat Staub angesetzt. Aber hier findet die Übersetzerin den Mut, es dem Original nachzutun, im Vertrauen darauf, dass eine unbekannte Zukunft auch abgewelkte Wörter wieder zum Leben erweckt, sofern sie zur neuen Lage passen. Auch im Übrigen folgt sie dem Amerikanischen so eng wie es möglich ist, ohne dem Deutschen Gewalt anzutun: „Fettes Glück“ – man sagt das hierzulande nicht so, versteht es aber sofort. „Geheime Vögel“ für „secret birds“ erfasst nicht alle Implikationen des Englischen, wo „secret“ nicht nur geheim, sondern auch versteckt heißt; und doch klingt dieses „geheim“ viel besser, als es „versteckt“ je könnte. „Rackenvoll“ ist eine Neuprägung, die aber sofort dasteht, als hätte es sie von jeher gegeben. „Nase in den Sternen“: eine solche absolute Nominalgruppe, im Englischen problemlos, kratzt im Deutschen eben noch die Kurve, und zwar mit Glück. Solches Glücken enthält eine Aufforderung an uns native speakers: Probiert es doch auch mal! So könnte die deutsche Sprache vorankommen: indem sie, angeleitet von einer klugen Übersetzung, ihre Möglichkeiten aus Mitteln der fremden Sprache erweitert.
Nur an einer Stelle seien Zweifel angemeldet: Ist es wirklich nötig, das Präteritum „forgot“ durch „hatten … vergessen“ zu ersetzen? Die Sprache der Zukunft wird hier womöglich keine Geduld mehr haben, weder mit dem Plusquamperfekt noch mit dem gespaltenen deutschen Prädikat. Adams übersetzerische Lösungen, auch wo man ihnen nicht zustimmt, verdienen in jedem Fall Diskussion. Kaum zu glauben, dass sie dieses Buch ins Deutsche geholt hat!
BURKHARD MÜLLER
Die Globalisierung hat ihr
Ende erreicht, viel Lebenszeit
bleibt keinem
Die Sprache kann die
Katastrophe nicht unverwandelt
überstanden haben
Sandra Newman: Ice Cream Star. Roman.
Aus dem Englischen von Milena Adams. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 667 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
zwanzig Knarrn
„Ice Cream Star“ – ein außergewöhnlicher Roman
in außergewöhnlicher Übersetzung
In einer Welt, in der niemand älter als zwanzig wird, hat auch eine Fünfzehnjährige alle Optionen und Pflichten einer Erwachsenen. Sie heißt Ice Cream Star und ist die titelgebende Erzählerin im Roman der 1965 geborenen Amerikanerin Sandra Newman. An einer nicht näher bestimmten Pandemie ist der größte Teil der Weltbevölkerung gestorben, und die Überlebenden haben sich in kleinen Stämmen organisiert. Alle sind schwarz, und alle jung, denn mit dem Ende ihrer Teenagerzeit schlagen die Posies zu, eine rätselhafte degenerative Krankheit, die in wenigen Monaten zum Tod führt. Die Mädchen kriegen sehr früh Kinder, denn wenigstens in den ersten drei, vier Jahren möchten sie ihre Kleinen beschützen können, weil ungewiss ist, wer es später tut.
Ice Cream Star gehört zum Clan der Sengles, die sich halbnomadisch und unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen durch eine Gegend bewegen, die einmal Massachusetts war, jetzt aber nur noch Massa heißt. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt, indem sie die Häuser der Schläfer plündern, der früheren Bewohner des Landes. Außer ihnen gibt es auch andere Gruppen, die frommen Christlinge, die praktischen Lowells, die räuberischen Armies, mit denen sie je nachdem in freundlichen oder feindlichen Beziehungen stehen. Die Globalisierung hat definitiv ihr Ende erreicht und mit ihr jegliche Tradition. Viel Lebenszeit hat keiner, und diese verkürzt sich oft genug durch die allgegenwärtige Gewalt.
Diese lokale Szenerie wird aufgesprengt, als eine größere Drohung am Horizont auftaucht, die Rous, eine ganz komische Art von Menschen mit einer rosa Haut wie Schweine und gelbem Haar, das aussieht wie Fell. Alle miteinander, Sengles, Christlinge, Lowells und Armies, fliehen vor ihnen nach Süden und landen in Marias, dem früheren New York, in dem eine katholisch inspirierte Sekte die Macht an sich gerissen hat. Sie kürt Ice Cream Star zu ihrer neuen Madonna, eine ehrenvolle, aber gefährliche Position; nur knapp entrinnt sie bei ihrer Amtseinführung, als sie zwölf heilige Kelche leeren muss, dem Giftanschlag eines missgünstigen Kardinals. Von dort verlagert sich das Aktionsfeld nach Quantico, dem alten Washington D.C., wo sich nun wiederum die bis an die Zähne bewaffneten Marines verschanzt haben.
Was weiter passiert, lässt sich hier nicht wiedergeben, wenn man sich nicht hoffnungslos verzetteln will. Immer mehr gleicht das Buch einem Actionfilm, in dem ständig was explodiert, das Blut spritzt und eine halsbrecherische Situation die nächste jagt. Auch strengt die Menge der handelnden Personen, die Vielzahl von Verrat und Meta-Verrat, den sie aneinander begehen, den Leser, der sich das alles merken soll, gewaltig an. Gerade die Fülle des Atemraubenden bewirkt Ermüdung. Selbst das unerwartete Ende findet da nicht mehr die Kraft zur echten Überraschung. Das Buch, einfallsreich in den Wendungen seines Plots, aber konventionell innerhalb der Genregrenzen postapokalyptischer Dystopien entworfen, weiß nichts von erzählerischer Ökonomie; man hätte es sich um ein Drittel kürzer und um die Hälfte weniger verwickelt gewünscht.
Hier liegen seine Qualitäten also nicht. Diese haben vielmehr alle mit der Heldin zu tun. Sämtliche Energien des Romans bündeln sich in der Heldin Ice Cream Star; denn eine Heldin, das ist sie wirklich, zäh, mutig, empathisch. Einmal rettet sie ganz allein und unter Einsatz ihres Lebens zwei Dutzend Kinder aus einem brennenden Haus. Die vielen anderen Figuren scheinen nur dazu erschaffen, ihr Gelegenheit zum Handeln und Reagieren zu geben. Dass man ihr aber diese emotionale Kraft und sprühende Lebendigkeit glaubt, liegt an ihrer Sprache.
Dass auch die Sprache die Katastrophe nicht unverwandelt überstanden haben kann, versteht sich von selbst. Doch wie würde sie klingen? Sandra Newman macht dafür einen Vorschlag, der vom heutigen afro-amerikanischen Idiom der USA ausgeht (schließlich haben nur Schwarze überlebt), doch es kraftvoll in Richtung Zukunft überschreitet. Es hört sich so an: „Fat luck been the story of this year. Snares ever struggling full, and every arrow find a turkey. Any a sleeper street we did maraud, that street give food. We war like twenty guns, but no one injure. Sling our hammocks in the crown of sycamores like secret birds, and rest there, chattering and smoking, noses to the stars. Children forgot the taste of hunger and the touch of fear.“
Der schwarze amerikanische Slang ist immer die Verzweiflung seiner deutschen Übersetzer gewesen. Im deutschen Sprachraum existiert keine separate Sprechergemeinschaft mit einer vergleichbar düsteren Vorgeschichte der Sklaverei. So mussten die deutschen Schwarzen entweder wie Idioten reden (etwa so wie die Piraten bei Asterix und Obelix) oder gewissermaßen wie Weiße ehrenhalber, das heißt, unkenntlich in ihrer Besonderheit. Es gab und gibt hier keine guten Lösungen. Aber das Zukunftsschwarz in Newmans Roman bietet einem beherzten Übersetzer eine echte Chance. Milena Adam, erst 28 Jahre alt, sehr jung also in einer Branche, in der es vor allem auf Erfahrung ankommt, ergreift sie und schreibt:
„Fettes Glück war die Geschichte von diesem Jahr. Die Fallen immer rackenvoll, und jeder Pfeil findet nen Truthahn. Jede Schläferstraße, die wir marodiern, gibt uns Essen. Wir kämpfen wie zwanzig Knarrn, aber keiner is verletzt. Schling unsere Hängematten in die Kronen der Platanen wie geheime Vögel und ruhn da, plappern und rauchen, Nase zu den Sternen. Die Kinder hatten den Geschmack von Hunger und den Griff der Angst vergessen.“
Die Sprache muss anders klingen als das, was heute üblich ist, und sich doch von Willkür freihalten. Man sehe sich an, was Milena Adam hier geleistet hat. Zunächst einmal nützt sie die geläufigen Nachlässigkeiten der deutschen Umgangssprache, die es sonst selten in die Schriftform schaffen, „nen“, „is“, „schling“, „Knarrn“ „marodiern“. „Marodiern“ könnte zum Problem werden, denn dieses Fremdwort, das aus dem Dreißigjährigen Krieg stammt, hat Staub angesetzt. Aber hier findet die Übersetzerin den Mut, es dem Original nachzutun, im Vertrauen darauf, dass eine unbekannte Zukunft auch abgewelkte Wörter wieder zum Leben erweckt, sofern sie zur neuen Lage passen. Auch im Übrigen folgt sie dem Amerikanischen so eng wie es möglich ist, ohne dem Deutschen Gewalt anzutun: „Fettes Glück“ – man sagt das hierzulande nicht so, versteht es aber sofort. „Geheime Vögel“ für „secret birds“ erfasst nicht alle Implikationen des Englischen, wo „secret“ nicht nur geheim, sondern auch versteckt heißt; und doch klingt dieses „geheim“ viel besser, als es „versteckt“ je könnte. „Rackenvoll“ ist eine Neuprägung, die aber sofort dasteht, als hätte es sie von jeher gegeben. „Nase in den Sternen“: eine solche absolute Nominalgruppe, im Englischen problemlos, kratzt im Deutschen eben noch die Kurve, und zwar mit Glück. Solches Glücken enthält eine Aufforderung an uns native speakers: Probiert es doch auch mal! So könnte die deutsche Sprache vorankommen: indem sie, angeleitet von einer klugen Übersetzung, ihre Möglichkeiten aus Mitteln der fremden Sprache erweitert.
Nur an einer Stelle seien Zweifel angemeldet: Ist es wirklich nötig, das Präteritum „forgot“ durch „hatten … vergessen“ zu ersetzen? Die Sprache der Zukunft wird hier womöglich keine Geduld mehr haben, weder mit dem Plusquamperfekt noch mit dem gespaltenen deutschen Prädikat. Adams übersetzerische Lösungen, auch wo man ihnen nicht zustimmt, verdienen in jedem Fall Diskussion. Kaum zu glauben, dass sie dieses Buch ins Deutsche geholt hat!
BURKHARD MÜLLER
Die Globalisierung hat ihr
Ende erreicht, viel Lebenszeit
bleibt keinem
Die Sprache kann die
Katastrophe nicht unverwandelt
überstanden haben
Sandra Newman: Ice Cream Star. Roman.
Aus dem Englischen von Milena Adams. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 667 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de