„ich bin in der Anstalt“ nennt Friederike Mayröcker, die »Grande Dame der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Süddeutsche Zeitung), ihre neue Prosaschrift – ein Buch der Betrachtungen von Körperlichkeit und Körperempfinden, ein Tasten nach den ständig sich verschiebenden Grenzen von Innen und Außen, ein Versuch ihrer Auflösung im Moment des Schreibens, radikal und schonungslos.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2010Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?
Posaunenseligkeit: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier denkt Friederike Mayröcker in ihren jüngsten Notaten über den körperlichen Verfall nach - und setzt ihm die Erinnerungen und die Freundschaften entgegen.
Tränen werden in diesen Aufzeichnungen häufig vergossen, Tränen der Sehnsucht, der Trauer, der Entbehrung und der Liebe. Als kritische Beobachterin ihrer selbst gibt Friederike Mayröcker gewissenhaft Zeugnis von Tränenströmen, die in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahr geflossen sind. Dass dieses Zeugnis trotz der Vielzahl von Tränen aber niemals larmoyant oder wehleidig wird, ist der Sprachkraft und der unbestechlichen Selbstbeobachtung dieser großen Dichterin zu verdanken.
In ihrem jüngsten Buch versammelt Friederike Mayröcker Notate aus dem Zeitraum von Dezember 2008 bis November 2009, die sie so experimentierfreudig und stilsicher wie nur immer als "Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk" verstanden wissen will. Es ist nichts Geringeres als das Leben selbst, worauf sich diese zweihundertdreiundvierzig Miniaturen beziehen, aber es ist zugleich auch die Literatur, und wie eigentlich immer bei Friederike Mayröcker kann man das eine nicht wirklich vom anderen trennen. So sind es längst nicht nur ihre eigenen Tränen, von denen sie in diesen Aufzeichnungen berichtet. Vielmehr reflektiert sie stets auch die Frage, ob überhaupt eine authentische, angemessene Sprache für Persönlichstes möglich ist.
Gewährsmänner für ihr Projekt einer schonungslosen Selbsterkundung findet sie bei dem Kirchenvater Augustin und seinen "Bekenntnissen" sowie dem französischen Philosophen Jacques Derrida, dessen Texte, insbesondere seine autobiographischen Schriften, Friederike Mayröcker faszinieren. Gleich zu Beginn zitiert sie eine Frage Derridas, die sich leitmotivisch durch das gesamte Buch zieht: "Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?"
Ja, nur zu gern will Friederike Mayröcker darüber sprechen, aber auch noch über so vieles andere, über ihre Kindheit, die Erinnerung an die Mutter und das "tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau", über die fortdauernde Liebe zu ihrem Lebenspartner Ernst Jandl, dessen Tod mittlerweile zehn Jahre zurückliegt, über Begegnungen mit Freunden, über ihre Lektüre und über die verstörenden Erfahrungen des Alterns.
Mehrfach muss Friederike Mayröcker während dieses Jahres zur Behandlung ins Krankenhaus. "Ich bin in der Anstalt" lautet der Refrain, den sie programmatisch als Titel für dieses Buch gewählt hat. Doch ob im Krankenhausbett oder daheim bei ihren Büchern, Zetteln und Erinnerungsstücken: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier notiert Friederike Mayröcker die körperlichen Veränderungen, die sie an sich wahrnimmt, den "stallartigen" eigenen Geruch beim morgendlichen Aufwachen, die zunehmenden Flecken auf der Haut, die anhaltende "Hartleibigkeit" und die Schwierigkeiten beim Wasserlassen, "Körperquälereien" das alles.
Vor allem das eigene Gesicht unter den schwarzen Ponyfransen wird zum Feld unerbittlicher Reflexionen: "mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham. Was war geschehen was hatten die Jahre mit meinem Gesicht gemacht, die ALTERSBÄCKCHEN der unfreie Gang, übriggeblieben nur der triste Blick, ich rühre mich nicht mehr an, wie beschämend: ich umgebe mich mit Stofftieren, Spiele übelriechender Einsamkeit". Man wird lange suchen müssen, um vergleichbare literarische Selbsterkundungen des Alters zu finden.
Dem Selbstekel setzt Friederike Mayröcker ihre Erinnerungen entgegen und die vielfältigen Erfahrungen gegenwärtiger Freundschaften. Zum Altern gehört aber auch die Erfahrung, dass die Zahl der "lieben Verstorbenen" immer größer wird. Ihrer österreichischen Kollegin, der acht Jahre jüngeren Elfriede Gerstl, die im April 2009 starb, gedenkt Friederike Mayröcker mit dem Eingeständnis, Versäumtes nicht mehr nachholen zu können: "Bodo Hell sagt, sie hat den 1. Frühlingsvollmond nicht mehr erlebt, wir hatten das Blumengeschäft an der Ecke der Kleeblattgasse übersehen, und wollten ihr so gern ganze Sträusze vorbeibringen."
Friederike Mayröcker notiert den Tod weiterer Weggefährten und Freunde. Dass ihre Aufzeichnungen dennoch nicht zu einer andauernden Totenklage werden, versteht die Dichterin selbst als eine Form der Immunität, der auch das Alter nichts anhaben kann: "und doch so glühend meine Lebens Gläubigkeit und Lebens Wachsamkeit und POSAUNEN SELIGKEIT und dieses Gebet: ,nur nicht im Sommer sterben".
Die Wurzeln dieser "Gläubigkeit" und "Wachsamkeit" aber, so teilt es Friederike Mayröcker mit, reichen tief in ihre Kindheit zurück. Anrührend ist der kurze Lebenslauf, in dem sie die frühen Prägungen zusammenfasst: "Ich schlüpfte. Wie 1 Jungvogel, immense Neugier auf Welt und Zeit, dann die Hierarchie der Triebe, die grosze Distanz zum Elternpaar, eigentlich zum Vater, den mein Verhalten schmerzte: 1 x sah ich ihn weinen, ich hatte mich abgewandt von ihnen: meine Art der pubertären Revolte, alles in friedvoller Weise kein liebloses Wort . . . aber die Leberblümchenhügel unter unseren Füszen in jedem Frühling, Jahr für Jahr, die blauen Hänge so wuchs ich auf."
Hölderlins Gedicht "Da ich ein Knabe war" klingt in diesem Resümee an, heißt es doch dort in ruhiger Gewissheit: "Im Arme der Götter wuchs ich groß." Friederike Mayröcker ist mit Hölderlins Werk vertraut, wie erst unlängst ihr Gedichtband "Scardanelli" gezeigt hat, mit dem sie dem kranken Dichter im Turm am Neckar liebevolle Reverenz erweist. Anders als ihr Tübinger Vorgänger beruft sich Friederike Mayröcker freilich auf keine Götter, wenn sie ihre glückliche Kindheit und die anhaltende Liebe zur Natur beschreibt. Doch schildert sie immer wieder, dass sie in einsamen schlaflosen Nächten die Gebete ihrer Kinderjahre aufsagt, auch wenn sie sich nur noch lückenhaft an sie erinnert. Die Macht der Sprache vermag offenbar noch immer Trost zu spenden und elementare Ängste zu bändigen. Und Literatur, das demonstrieren diese Aufzeichnungen eindringlich, bleibt für Friederike Mayröcker das Medium, in dem sich ihr Leben manifestiert und das ihr zugleich elementares Lebensmittel ist.
SABINE DOERING
Friederike Mayröcker: "ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk." Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Posaunenseligkeit: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier denkt Friederike Mayröcker in ihren jüngsten Notaten über den körperlichen Verfall nach - und setzt ihm die Erinnerungen und die Freundschaften entgegen.
Tränen werden in diesen Aufzeichnungen häufig vergossen, Tränen der Sehnsucht, der Trauer, der Entbehrung und der Liebe. Als kritische Beobachterin ihrer selbst gibt Friederike Mayröcker gewissenhaft Zeugnis von Tränenströmen, die in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahr geflossen sind. Dass dieses Zeugnis trotz der Vielzahl von Tränen aber niemals larmoyant oder wehleidig wird, ist der Sprachkraft und der unbestechlichen Selbstbeobachtung dieser großen Dichterin zu verdanken.
In ihrem jüngsten Buch versammelt Friederike Mayröcker Notate aus dem Zeitraum von Dezember 2008 bis November 2009, die sie so experimentierfreudig und stilsicher wie nur immer als "Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk" verstanden wissen will. Es ist nichts Geringeres als das Leben selbst, worauf sich diese zweihundertdreiundvierzig Miniaturen beziehen, aber es ist zugleich auch die Literatur, und wie eigentlich immer bei Friederike Mayröcker kann man das eine nicht wirklich vom anderen trennen. So sind es längst nicht nur ihre eigenen Tränen, von denen sie in diesen Aufzeichnungen berichtet. Vielmehr reflektiert sie stets auch die Frage, ob überhaupt eine authentische, angemessene Sprache für Persönlichstes möglich ist.
Gewährsmänner für ihr Projekt einer schonungslosen Selbsterkundung findet sie bei dem Kirchenvater Augustin und seinen "Bekenntnissen" sowie dem französischen Philosophen Jacques Derrida, dessen Texte, insbesondere seine autobiographischen Schriften, Friederike Mayröcker faszinieren. Gleich zu Beginn zitiert sie eine Frage Derridas, die sich leitmotivisch durch das gesamte Buch zieht: "Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?"
Ja, nur zu gern will Friederike Mayröcker darüber sprechen, aber auch noch über so vieles andere, über ihre Kindheit, die Erinnerung an die Mutter und das "tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau", über die fortdauernde Liebe zu ihrem Lebenspartner Ernst Jandl, dessen Tod mittlerweile zehn Jahre zurückliegt, über Begegnungen mit Freunden, über ihre Lektüre und über die verstörenden Erfahrungen des Alterns.
Mehrfach muss Friederike Mayröcker während dieses Jahres zur Behandlung ins Krankenhaus. "Ich bin in der Anstalt" lautet der Refrain, den sie programmatisch als Titel für dieses Buch gewählt hat. Doch ob im Krankenhausbett oder daheim bei ihren Büchern, Zetteln und Erinnerungsstücken: Nüchtern und mit geradezu klinischer Neugier notiert Friederike Mayröcker die körperlichen Veränderungen, die sie an sich wahrnimmt, den "stallartigen" eigenen Geruch beim morgendlichen Aufwachen, die zunehmenden Flecken auf der Haut, die anhaltende "Hartleibigkeit" und die Schwierigkeiten beim Wasserlassen, "Körperquälereien" das alles.
Vor allem das eigene Gesicht unter den schwarzen Ponyfransen wird zum Feld unerbittlicher Reflexionen: "mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham. Was war geschehen was hatten die Jahre mit meinem Gesicht gemacht, die ALTERSBÄCKCHEN der unfreie Gang, übriggeblieben nur der triste Blick, ich rühre mich nicht mehr an, wie beschämend: ich umgebe mich mit Stofftieren, Spiele übelriechender Einsamkeit". Man wird lange suchen müssen, um vergleichbare literarische Selbsterkundungen des Alters zu finden.
Dem Selbstekel setzt Friederike Mayröcker ihre Erinnerungen entgegen und die vielfältigen Erfahrungen gegenwärtiger Freundschaften. Zum Altern gehört aber auch die Erfahrung, dass die Zahl der "lieben Verstorbenen" immer größer wird. Ihrer österreichischen Kollegin, der acht Jahre jüngeren Elfriede Gerstl, die im April 2009 starb, gedenkt Friederike Mayröcker mit dem Eingeständnis, Versäumtes nicht mehr nachholen zu können: "Bodo Hell sagt, sie hat den 1. Frühlingsvollmond nicht mehr erlebt, wir hatten das Blumengeschäft an der Ecke der Kleeblattgasse übersehen, und wollten ihr so gern ganze Sträusze vorbeibringen."
Friederike Mayröcker notiert den Tod weiterer Weggefährten und Freunde. Dass ihre Aufzeichnungen dennoch nicht zu einer andauernden Totenklage werden, versteht die Dichterin selbst als eine Form der Immunität, der auch das Alter nichts anhaben kann: "und doch so glühend meine Lebens Gläubigkeit und Lebens Wachsamkeit und POSAUNEN SELIGKEIT und dieses Gebet: ,nur nicht im Sommer sterben".
Die Wurzeln dieser "Gläubigkeit" und "Wachsamkeit" aber, so teilt es Friederike Mayröcker mit, reichen tief in ihre Kindheit zurück. Anrührend ist der kurze Lebenslauf, in dem sie die frühen Prägungen zusammenfasst: "Ich schlüpfte. Wie 1 Jungvogel, immense Neugier auf Welt und Zeit, dann die Hierarchie der Triebe, die grosze Distanz zum Elternpaar, eigentlich zum Vater, den mein Verhalten schmerzte: 1 x sah ich ihn weinen, ich hatte mich abgewandt von ihnen: meine Art der pubertären Revolte, alles in friedvoller Weise kein liebloses Wort . . . aber die Leberblümchenhügel unter unseren Füszen in jedem Frühling, Jahr für Jahr, die blauen Hänge so wuchs ich auf."
Hölderlins Gedicht "Da ich ein Knabe war" klingt in diesem Resümee an, heißt es doch dort in ruhiger Gewissheit: "Im Arme der Götter wuchs ich groß." Friederike Mayröcker ist mit Hölderlins Werk vertraut, wie erst unlängst ihr Gedichtband "Scardanelli" gezeigt hat, mit dem sie dem kranken Dichter im Turm am Neckar liebevolle Reverenz erweist. Anders als ihr Tübinger Vorgänger beruft sich Friederike Mayröcker freilich auf keine Götter, wenn sie ihre glückliche Kindheit und die anhaltende Liebe zur Natur beschreibt. Doch schildert sie immer wieder, dass sie in einsamen schlaflosen Nächten die Gebete ihrer Kinderjahre aufsagt, auch wenn sie sich nur noch lückenhaft an sie erinnert. Die Macht der Sprache vermag offenbar noch immer Trost zu spenden und elementare Ängste zu bändigen. Und Literatur, das demonstrieren diese Aufzeichnungen eindringlich, bleibt für Friederike Mayröcker das Medium, in dem sich ihr Leben manifestiert und das ihr zugleich elementares Lebensmittel ist.
SABINE DOERING
Friederike Mayröcker: "ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk." Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2010Vergiszmeinnicht
Friederike Mayröcker führt in „ich bin in der Anstalt“ telepathische Gespräche mit ihren wuselnden Hausgeistern
Es ist den Tränen nicht gut bekommen, dass sie in der Literatur der Empfindsamkeit so reichlich flossen und wie ein Adelsdiplom die Gefühle der schönen Seelen zu beglaubigen hatten. In der Moderne wurden sie wie der Schmerz, der sich auf Herz reimt, misstrauischen Echtheitsproben unterzogen und dem schwer zu beschwichtigenden Kitschverdacht ausgesetzt. Im jüngsten Buch der österreichischen Autorin Friederike Mayröcker ist es anders. Darin gehören die Tränen, ohne je Misstrauen zu erregen, von der ersten Seite an zur beschriebenen Welt wie das Wetter, die Kleidung, der Parfumflakon, die vielen Zettel in der Wohnung, das Treppenhaus und der Zeitungsverkäufer mit Alpenhut, der verlässlich auf den Stufen des Supermarktes steht.
Das Buch hat einen seltsamen Titel: „ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“. Es wäre müßig, über die Rätsel, die ein solcher Titel aufgibt, und die logischen Paradoxien, in die er den Leser verstrickt, allzu lange nachzugrübeln. Vielleicht verbirgt sich hinter dem „sz“, das die Fußnoten übergeworfen haben, nur ein verlorengegangenes „ß“ auf der Schreibmaschine der Autorin. Und was macht es schon, wenn das Buch, in dem diese 243 Fußnoten versammelt sind, seinen Werkcharakter dementiert? Hauptsache, die Fußnoten, denen ihr Werk abhanden gekommen ist, sind da.
In den Fußnoten pflegen Wissenschaftler ihre Zitate zu belegen, ihre Quellen zu nennen, die Verfasser der Zitate zu loben oder mit ihnen zu streiten. So ist es auch hier. Während die Autorin von Dezember 2008 bis November 2009 ihren Alltag ins Fußnotenformat rutschen lässt, sucht sie die Nähe zu den Autoren der Werke, aus denen sie beim eigenen Schreiben schöpft. So begegnet dem Leser gleich in der ersten Fußnote der im Jahr 2004 verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida. Der erste Satz des Buches von Friederike Mayröcker zitiert eine seiner Einsichten: „Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun.“
Als subtiler Leser, als Meister der „Dekonstruktion“, der allen Begriffen ablauscht, was sie verschweigen, um sich zu behaupten, ist Jacques Derrida in der akademischen Welt berühmt geworden. Hier, in den Fußnoten seiner Leserin aus Wien, ist er eine Art Hausfreund, dessen Werke – etwa die Schrift „Glas: Totenglocke“ (1974) – zur eigenen Welt gehören, weil darin ein gemeinsames Lebensthema berührt ist.
Dieses Lebensthema ist der Tod der Mutter. Jacques Derrida hat darüber in dem autobiographischen Essay „Circonfessions“ (1991) geschrieben, im Dialog mit dem neunten Buch der „Confessiones“ des Augustinus. Darin ist die Geschichte vom Tod der Mutter eine Geschichte der während der Grablegung zurückgehaltenen Tränen, die sich am Ende doch Bahn brechen, als Augustinus allein und nur Gott Zeuge des Weinens ist – und der Leser.
Derrida und Augustinus sind vor allem dort, wo diese „Fusznoten“ vom Tod der Mutter Friederike Mayröckers und den Erinnerungen an deren Leben handelt, die im Hintergrund anwesenden Schutzgeister. Bei beiden sind die Tränen nicht Metaphern, sondern irdisch-physische Flüssigkeiten, die das Verhältnis nicht nur von Auge und Innenwelt, sondern von Auge und Welt insgesamt nachhaltig imprägnieren.
Darum ist die Feuerbestattung, die Friederike Mayröckers Mutter für sich verfügt hatte, nicht anders als der Tod selbst ein Anlass der Trauer: „was das ausgebrannte Auge angeht was meiner Mutter geschah als sie, wie es ihr letzter Wille war, verbrannt wurde, welche Vorstellung ich nie werde verwinden werde können, war es das tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau das in Flammen aufging, bei diesem Brausen der Orgel, und was ich heute, nach 14 Jahren immer noch nicht wahrhaben will und indem alle, die sie gekannt hatten, bewundert hatten oder in ihrer Jugend verehrt und geliebt hatten, etc.“.
Jacques Derrida tritt dem Dichter und geliebten Lebenspartner Ernst Jandl an die Seite, mit dem Friederike Mayröcker in dem fünf Jahre nach seinem Tod erschienenen Prosabuch „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005). Jandl geistert auch durch dieses Buch; an ihn, der unter dem Namen Ely auftritt, ist die letzte ausgeschriebene Fußnote adressiert: „ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der reise sei nahe“.
Gelegentlich blickt die Autorin, die 1924 in Wien geboren wurde, über die Zeit, in der sie die Schwelle zum Alter überschritten hat, zurück in die Kindheit. Aber die Anstalt, die sie in den Titel des Buches gesetzt hat, ist vielleicht nicht nur das Krankenhaus, in dem sie wegen dieser oder jener Beschwerden sporadisch zu Gast ist, sondern das Alter insgesamt, das ihren Alltag bis in die Träume hinein prägt, mit den allgegenwärtigen Tabletten, den Beerdigungen von Freunden und den Besuchen von Gräbern, den Eigenwilligkeiten des Körpers: „ich bin in der Anstalt, es wird eng, sagt der Arzt – ich weisz was er meint, immer mehr ähneln meine Füsze und Arme jenen meiner Mutter in ihrem Alter, mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham.“
Der vorherrschende Eindruck aber, den dieses Altersbuch macht, ist der eines überaus lebendigen, kaum je zur Ruhe kommenden Gewusels der Gedanken, Gespräche, Geräusche, ein Kaleidoskop aus gesehenen und erinnerten Bildern. Statt eine Geschichte zu erzählen, erzählt es en passant von seiner eigenen Entstehung, von der um das Schreiben herumgebauten Welt, aus der es hervorgegangen ist. Der Beipackzettel zur Medikamentenschachtel mag pünktliche Einnahme der Substanzen verlangen, aber nicht minder dringlich fordert die Literatur ihr Recht: „ich kam auch nicht dazu mein Frühstück einzunehmen weil am Morgen Satz um Satz andrängte aufgeschrieben zu werden (wie Flugmaschinen die sich an die Startbahn drängen) als hätte ich noch nie 1 Haselnuszstrauch gesehen.“
Die Fußnoten nehmen Musik von John Dowland über Johann Sebastian Bach und Billie Holiday und Miles Davis auf, Gespräche, auch telefonische, mit chiffrierten und unchiffrierten Freunden aus Literatur und bildender Kunst, das Geraschel der umgeblätterten Seiten in den Büchern von Kafka bis Genet, der Kaskaden von Zetteln und Papieren im Schreibzimmer und in der Wohnung überhaupt. So entsteht im Voranrücken der Ziffern von 1 bis 243 ein Porträt der Autorin als alter Dame. Man betrachtet es gern.
LOTHAR MÜLLER
FRIEDERIKE MAYRÖCKER: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 Seiten, 19,80 Euro.
„Ich war ratlos und stützte den linken Ellbogen während des Schreibens auf die verkrustete Tischplatte und hatte die beklemmende Empfindung den Sessel auf dem ich hockte nie wieder verlassen zu können“: Friederike Mayröcker.
Foto: Peter
Rigaud/laif
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Friederike Mayröcker führt in „ich bin in der Anstalt“ telepathische Gespräche mit ihren wuselnden Hausgeistern
Es ist den Tränen nicht gut bekommen, dass sie in der Literatur der Empfindsamkeit so reichlich flossen und wie ein Adelsdiplom die Gefühle der schönen Seelen zu beglaubigen hatten. In der Moderne wurden sie wie der Schmerz, der sich auf Herz reimt, misstrauischen Echtheitsproben unterzogen und dem schwer zu beschwichtigenden Kitschverdacht ausgesetzt. Im jüngsten Buch der österreichischen Autorin Friederike Mayröcker ist es anders. Darin gehören die Tränen, ohne je Misstrauen zu erregen, von der ersten Seite an zur beschriebenen Welt wie das Wetter, die Kleidung, der Parfumflakon, die vielen Zettel in der Wohnung, das Treppenhaus und der Zeitungsverkäufer mit Alpenhut, der verlässlich auf den Stufen des Supermarktes steht.
Das Buch hat einen seltsamen Titel: „ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“. Es wäre müßig, über die Rätsel, die ein solcher Titel aufgibt, und die logischen Paradoxien, in die er den Leser verstrickt, allzu lange nachzugrübeln. Vielleicht verbirgt sich hinter dem „sz“, das die Fußnoten übergeworfen haben, nur ein verlorengegangenes „ß“ auf der Schreibmaschine der Autorin. Und was macht es schon, wenn das Buch, in dem diese 243 Fußnoten versammelt sind, seinen Werkcharakter dementiert? Hauptsache, die Fußnoten, denen ihr Werk abhanden gekommen ist, sind da.
In den Fußnoten pflegen Wissenschaftler ihre Zitate zu belegen, ihre Quellen zu nennen, die Verfasser der Zitate zu loben oder mit ihnen zu streiten. So ist es auch hier. Während die Autorin von Dezember 2008 bis November 2009 ihren Alltag ins Fußnotenformat rutschen lässt, sucht sie die Nähe zu den Autoren der Werke, aus denen sie beim eigenen Schreiben schöpft. So begegnet dem Leser gleich in der ersten Fußnote der im Jahr 2004 verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida. Der erste Satz des Buches von Friederike Mayröcker zitiert eine seiner Einsichten: „Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun.“
Als subtiler Leser, als Meister der „Dekonstruktion“, der allen Begriffen ablauscht, was sie verschweigen, um sich zu behaupten, ist Jacques Derrida in der akademischen Welt berühmt geworden. Hier, in den Fußnoten seiner Leserin aus Wien, ist er eine Art Hausfreund, dessen Werke – etwa die Schrift „Glas: Totenglocke“ (1974) – zur eigenen Welt gehören, weil darin ein gemeinsames Lebensthema berührt ist.
Dieses Lebensthema ist der Tod der Mutter. Jacques Derrida hat darüber in dem autobiographischen Essay „Circonfessions“ (1991) geschrieben, im Dialog mit dem neunten Buch der „Confessiones“ des Augustinus. Darin ist die Geschichte vom Tod der Mutter eine Geschichte der während der Grablegung zurückgehaltenen Tränen, die sich am Ende doch Bahn brechen, als Augustinus allein und nur Gott Zeuge des Weinens ist – und der Leser.
Derrida und Augustinus sind vor allem dort, wo diese „Fusznoten“ vom Tod der Mutter Friederike Mayröckers und den Erinnerungen an deren Leben handelt, die im Hintergrund anwesenden Schutzgeister. Bei beiden sind die Tränen nicht Metaphern, sondern irdisch-physische Flüssigkeiten, die das Verhältnis nicht nur von Auge und Innenwelt, sondern von Auge und Welt insgesamt nachhaltig imprägnieren.
Darum ist die Feuerbestattung, die Friederike Mayröckers Mutter für sich verfügt hatte, nicht anders als der Tod selbst ein Anlass der Trauer: „was das ausgebrannte Auge angeht was meiner Mutter geschah als sie, wie es ihr letzter Wille war, verbrannt wurde, welche Vorstellung ich nie werde verwinden werde können, war es das tiefe Blau ihrer Augen Vergiszmeinnicht Stiefmütterchen Blau das in Flammen aufging, bei diesem Brausen der Orgel, und was ich heute, nach 14 Jahren immer noch nicht wahrhaben will und indem alle, die sie gekannt hatten, bewundert hatten oder in ihrer Jugend verehrt und geliebt hatten, etc.“.
Jacques Derrida tritt dem Dichter und geliebten Lebenspartner Ernst Jandl an die Seite, mit dem Friederike Mayröcker in dem fünf Jahre nach seinem Tod erschienenen Prosabuch „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005). Jandl geistert auch durch dieses Buch; an ihn, der unter dem Namen Ely auftritt, ist die letzte ausgeschriebene Fußnote adressiert: „ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der reise sei nahe“.
Gelegentlich blickt die Autorin, die 1924 in Wien geboren wurde, über die Zeit, in der sie die Schwelle zum Alter überschritten hat, zurück in die Kindheit. Aber die Anstalt, die sie in den Titel des Buches gesetzt hat, ist vielleicht nicht nur das Krankenhaus, in dem sie wegen dieser oder jener Beschwerden sporadisch zu Gast ist, sondern das Alter insgesamt, das ihren Alltag bis in die Träume hinein prägt, mit den allgegenwärtigen Tabletten, den Beerdigungen von Freunden und den Besuchen von Gräbern, den Eigenwilligkeiten des Körpers: „ich bin in der Anstalt, es wird eng, sagt der Arzt – ich weisz was er meint, immer mehr ähneln meine Füsze und Arme jenen meiner Mutter in ihrem Alter, mein massives derbes Gesicht im Spiegel, ich empfinde Abscheu und Scham.“
Der vorherrschende Eindruck aber, den dieses Altersbuch macht, ist der eines überaus lebendigen, kaum je zur Ruhe kommenden Gewusels der Gedanken, Gespräche, Geräusche, ein Kaleidoskop aus gesehenen und erinnerten Bildern. Statt eine Geschichte zu erzählen, erzählt es en passant von seiner eigenen Entstehung, von der um das Schreiben herumgebauten Welt, aus der es hervorgegangen ist. Der Beipackzettel zur Medikamentenschachtel mag pünktliche Einnahme der Substanzen verlangen, aber nicht minder dringlich fordert die Literatur ihr Recht: „ich kam auch nicht dazu mein Frühstück einzunehmen weil am Morgen Satz um Satz andrängte aufgeschrieben zu werden (wie Flugmaschinen die sich an die Startbahn drängen) als hätte ich noch nie 1 Haselnuszstrauch gesehen.“
Die Fußnoten nehmen Musik von John Dowland über Johann Sebastian Bach und Billie Holiday und Miles Davis auf, Gespräche, auch telefonische, mit chiffrierten und unchiffrierten Freunden aus Literatur und bildender Kunst, das Geraschel der umgeblätterten Seiten in den Büchern von Kafka bis Genet, der Kaskaden von Zetteln und Papieren im Schreibzimmer und in der Wohnung überhaupt. So entsteht im Voranrücken der Ziffern von 1 bis 243 ein Porträt der Autorin als alter Dame. Man betrachtet es gern.
LOTHAR MÜLLER
FRIEDERIKE MAYRÖCKER: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 190 Seiten, 19,80 Euro.
„Ich war ratlos und stützte den linken Ellbogen während des Schreibens auf die verkrustete Tischplatte und hatte die beklemmende Empfindung den Sessel auf dem ich hockte nie wieder verlassen zu können“: Friederike Mayröcker.
Foto: Peter
Rigaud/laif
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ergreifend fand Otto A. Böhmer diesen Lyrikband über die Angst vor der Hinfälligkeit des Körpers, dem Verlöschen des Geistes im Alter. Auch sei dieses Buch ein Zeugnis dafür, dass das beste Instrument gegen die Angst das Schreiben sei. Mit Hochgenuss zitiert der Kritiker Verse und Sentenzen, malt Mayröckers Denkmuster nach und zieht auch den Hut vor ihrer lyrischen Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der vorherrschende Eindruck aber, den dieses Altersbuch macht, ist der eines überaus lebendigen, kaum je zur Ruhe kommenden Gewusels der Gedanken, Gespräche, Geräusche, ein Kaleidoskop aus gesehenen und erinnerten Bildern. Statt eine Geschichte zu erzählen, erzählt es en passant von seiner eigenen Entstehung, von der um das Schreiben herumgebauten Welt, aus der es hervorgegangen ist.« Lothar Müller Süddeutsche Zeitung