Die junge Nia ist verliebt in einen alteren Jungen, der gegenuber ihrer Wohnung in Tiflis wohnt. Er erhort sie nicht, doch sie richtet ihre Sehnsucht ganz auf ihn. Jahrzehnte spater erhalt sie erneut Kontakt zu dem Mann, und nun erinnert sie sich an den Gefuhlssturm der ersten Liebe. So tritt die lebenserfahrene Nia mit ihrem jungen, ungestumen Ich in einen Dialog. Mit groem Raffinement gelingt es Naira Gelaschwili, die Gedanken der Pubertierenden ebenso lebhaft zu schildern wie die Gefuhle der gealterten Frau, die sich zuruckerinnert. "e;Ich bin sie"e; war ein Bucherfolg in Georgien und noch immer schenken sich Liebespaare den Roman dort gegenseitig. 2013 wurde er als bester Roman des Jahres mit dem SABA-Preis, dem renommiertesten georgischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Im Verbrecher Verlag erscheint er nun erstmals in deutscher bersetzung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2016Wiedergeliebt zu werden ist auch keine Lösung
Wenn Blicke küssen könnten: Naira Gelaschwili trifft im Roman "Ich bin sie" ihr dreizehnjähriges Ich
Einmal hat er ihr übers Haar gestrichen, mit einer Bewegung, die vielleicht nur abwesend, vielleicht väterlich, vielleicht auch liebevoll gemeint war, die aber in ihrer Intensität nie und nimmer an das herankam, was die Empfängerin dieser Geste damit verband. In den kommenden Stunden und Tagen wird sich ihr der Moment ins Gedächtnis brennen, sie wird die Berührung hundertfach mit der eigenen Hand wiederholen, sich aufspalten also in den, der die Geste ausführt, und diejenige, die diese Berührung bis in die kleinste Nuance registriert. Und die Haare wird sie sich so lange nicht waschen, bis ihre entnervte Familie sie schließlich dazu zwingt.
Nia, die Protagonistin des georgischen Romans "Ich bin sie", ist verliebt. Sie starrt auf das Fenster und den Balkon gegenüber in einem Nobelviertel der georgischen Hauptstadt Tiflis, in der Hoffnung, einen Blick auf den jungen Medizinstudenten zu erhaschen, und der starrt zurück. Allerdings gibt er nicht zu erkennen, wem sein Starren gilt, der Dreizehnjährigen oder einer anderen in Nias Haus, und bis zum Schluss des Romans wird dies ein Rätsel bleiben. Was der Student sagt, denkt oder empfindet, dringt kaum zu Nia durch und daher auch nicht zum Leser, es ist dennoch paradoxerweise Anlass zu gewaltigen Reaktionen des Mädchens. Denn das Buch richtet seinen Fokus mit großer Entschiedenheit auf das Erleben der zwölf- bis dreizehnjährigen Nia, ihrer Autorin wohl nicht nur durch den ähnlichen Vornamen verwandt, auf diesen amour fou von elementarer Wucht, der ohne große Begegnungen mit dem Angeschwärmten auskommt und gerade dadurch seine Intensität erhält.
Weit spannt sich der Bogen dieses Romans der georgischen Schriftstellerin Naira Gelaschwili, erzählt wird schlaglichtartig aus den Jahren 1975, 2005 oder 2010, vor allem aber aus einer kurzen Zeit rund um 1960, in welche die ältere Nia zurückkehrt, um ihr dreizehnjähriges Ich zu beobachten. "Ich bin sie", der Titel des Romans, ist daher zugleich als Feststellung wie als Frage zu verstehen: Denn obwohl die sechzigjährige Frau das Mädchen naturgemäß versteht wie keine andere, betont Gelaschwili mit einigem Recht auch den Abstand zwischen den beiden Protagonisten. Und wenn die Alte die Junge anspricht, wenn sie ihre unfassbare Energie registriert, ihr ewiges Laufen, Rennen, Zappeln, das umstandslos in eine völlige Lähmung übergehen kann, dann scheint ihr bisweilen das Mädchen mit all seinen Ausbrüchen so fremd zu sein, wie es das auch der übrigen Umgebung ist. Was ist das für ein Kind, das wochenlang die Schule schwänzt, um den Studenten, der sich eine Weile nicht in seiner Wohnung blicken lässt, durch Tiflis zu verfolgen? Das sich im Kohlenkeller vor der besorgten Familie versteckt, das sich einer hilfreichen zwanzigjährigen Verwandten anvertraut und diese trotzdem in den Wahnsinn treibt, weil sich über das Eigentliche nicht reden lässt?
Es sind Gedichte, georgische und später deutsche, die Naira dazu verhelfen, über den eigenen Zustand zu reflektieren. Dies wird sich dann in den 1975 angesiedelten Episoden spiegeln, wenn die mittlerweile 28 Jahre alte Naira mit einem Kurs junger Studenten Liebesgedichte von Rilke auslegt und die Entsagungsbotschaft des Deutschen gegen die allen georgischen Kindern von der Schule her bestens vertrauten Verse des Nationaldichters Schota Rusthaweli hält: "Diese Höhe der Liebe, derjenige fasst sie nicht, der nicht liebebesessen. / Uns wird matt unsre Zunge, die Ohren der Hörer ermüden; / Sprechen will ich vom irdischen Wahnsinn, dem Wahnsinn des Körpers", so steht es in Rusthawelis mittelalterlichem Versepos "Der Recke im Tigerfell", während Rilke die "heilige Einsamkeit" besingt und die "Leiber, welche nichts gefunden" nun "enttäuscht und traurig von einander lassen".
Dass das Übersetzen zwischen dem Deutschen und dem Georgischen nicht ohne Tücken ist, thematisiert der Roman selbst im Moment der Rilke-Exegese im Seminar, und auch die deutsche Fassung dieses Romans ist sprachlich mitunter kein Vergnügen. Manches liest sich geradezu gekünstelt, gerade wenn es um den Alltag und seine Gespräche geht, die dem aufgewühlten inneren Erleben des Mädchens gegenüberstehen.
Sehr viel mehr überzeugt der Roman aber als Studie eines Mädchens, das die Liebe zu einem Zwanzigjährigen, mit dem sie kaum drei Worte wechselt, zum Lebensinhalt wählt, mit einem Furor und einer Unbedingtheit, die keine Fortsetzung im gewachsenen Alter verträgt, keinen Versuch, die für immer bewahrte schüchterne Geste des Studenten durch neue Zärtlichkeiten von ihm zu ergänzen.
Stattdessen wird Nia heiraten und sich wieder scheiden lassen, sie wird den Studenten, der mittlerweile als Arzt praktiziert, suchen und nie finden wollen. Und als sie ihn dann doch zufällig aufspürt, nach fünf Jahrzehnten und beinahe in unserer Gegenwart, geht das Gespräch der beiden Alten nicht ohne Vermittlung ab.
"Sag ihm, ich habe an ihn gedacht", sagt Nia am Telefon zu ihrer Freundin, seiner Patientin. Und er lässt ihr dasselbe ausrichten.
TILMAN SPRECKELSEN
Naira Gelaschwili: "Ich bin sie". Roman.
Aus dem Georgischen von Lia Wittek. Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 176 S.,
geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Blicke küssen könnten: Naira Gelaschwili trifft im Roman "Ich bin sie" ihr dreizehnjähriges Ich
Einmal hat er ihr übers Haar gestrichen, mit einer Bewegung, die vielleicht nur abwesend, vielleicht väterlich, vielleicht auch liebevoll gemeint war, die aber in ihrer Intensität nie und nimmer an das herankam, was die Empfängerin dieser Geste damit verband. In den kommenden Stunden und Tagen wird sich ihr der Moment ins Gedächtnis brennen, sie wird die Berührung hundertfach mit der eigenen Hand wiederholen, sich aufspalten also in den, der die Geste ausführt, und diejenige, die diese Berührung bis in die kleinste Nuance registriert. Und die Haare wird sie sich so lange nicht waschen, bis ihre entnervte Familie sie schließlich dazu zwingt.
Nia, die Protagonistin des georgischen Romans "Ich bin sie", ist verliebt. Sie starrt auf das Fenster und den Balkon gegenüber in einem Nobelviertel der georgischen Hauptstadt Tiflis, in der Hoffnung, einen Blick auf den jungen Medizinstudenten zu erhaschen, und der starrt zurück. Allerdings gibt er nicht zu erkennen, wem sein Starren gilt, der Dreizehnjährigen oder einer anderen in Nias Haus, und bis zum Schluss des Romans wird dies ein Rätsel bleiben. Was der Student sagt, denkt oder empfindet, dringt kaum zu Nia durch und daher auch nicht zum Leser, es ist dennoch paradoxerweise Anlass zu gewaltigen Reaktionen des Mädchens. Denn das Buch richtet seinen Fokus mit großer Entschiedenheit auf das Erleben der zwölf- bis dreizehnjährigen Nia, ihrer Autorin wohl nicht nur durch den ähnlichen Vornamen verwandt, auf diesen amour fou von elementarer Wucht, der ohne große Begegnungen mit dem Angeschwärmten auskommt und gerade dadurch seine Intensität erhält.
Weit spannt sich der Bogen dieses Romans der georgischen Schriftstellerin Naira Gelaschwili, erzählt wird schlaglichtartig aus den Jahren 1975, 2005 oder 2010, vor allem aber aus einer kurzen Zeit rund um 1960, in welche die ältere Nia zurückkehrt, um ihr dreizehnjähriges Ich zu beobachten. "Ich bin sie", der Titel des Romans, ist daher zugleich als Feststellung wie als Frage zu verstehen: Denn obwohl die sechzigjährige Frau das Mädchen naturgemäß versteht wie keine andere, betont Gelaschwili mit einigem Recht auch den Abstand zwischen den beiden Protagonisten. Und wenn die Alte die Junge anspricht, wenn sie ihre unfassbare Energie registriert, ihr ewiges Laufen, Rennen, Zappeln, das umstandslos in eine völlige Lähmung übergehen kann, dann scheint ihr bisweilen das Mädchen mit all seinen Ausbrüchen so fremd zu sein, wie es das auch der übrigen Umgebung ist. Was ist das für ein Kind, das wochenlang die Schule schwänzt, um den Studenten, der sich eine Weile nicht in seiner Wohnung blicken lässt, durch Tiflis zu verfolgen? Das sich im Kohlenkeller vor der besorgten Familie versteckt, das sich einer hilfreichen zwanzigjährigen Verwandten anvertraut und diese trotzdem in den Wahnsinn treibt, weil sich über das Eigentliche nicht reden lässt?
Es sind Gedichte, georgische und später deutsche, die Naira dazu verhelfen, über den eigenen Zustand zu reflektieren. Dies wird sich dann in den 1975 angesiedelten Episoden spiegeln, wenn die mittlerweile 28 Jahre alte Naira mit einem Kurs junger Studenten Liebesgedichte von Rilke auslegt und die Entsagungsbotschaft des Deutschen gegen die allen georgischen Kindern von der Schule her bestens vertrauten Verse des Nationaldichters Schota Rusthaweli hält: "Diese Höhe der Liebe, derjenige fasst sie nicht, der nicht liebebesessen. / Uns wird matt unsre Zunge, die Ohren der Hörer ermüden; / Sprechen will ich vom irdischen Wahnsinn, dem Wahnsinn des Körpers", so steht es in Rusthawelis mittelalterlichem Versepos "Der Recke im Tigerfell", während Rilke die "heilige Einsamkeit" besingt und die "Leiber, welche nichts gefunden" nun "enttäuscht und traurig von einander lassen".
Dass das Übersetzen zwischen dem Deutschen und dem Georgischen nicht ohne Tücken ist, thematisiert der Roman selbst im Moment der Rilke-Exegese im Seminar, und auch die deutsche Fassung dieses Romans ist sprachlich mitunter kein Vergnügen. Manches liest sich geradezu gekünstelt, gerade wenn es um den Alltag und seine Gespräche geht, die dem aufgewühlten inneren Erleben des Mädchens gegenüberstehen.
Sehr viel mehr überzeugt der Roman aber als Studie eines Mädchens, das die Liebe zu einem Zwanzigjährigen, mit dem sie kaum drei Worte wechselt, zum Lebensinhalt wählt, mit einem Furor und einer Unbedingtheit, die keine Fortsetzung im gewachsenen Alter verträgt, keinen Versuch, die für immer bewahrte schüchterne Geste des Studenten durch neue Zärtlichkeiten von ihm zu ergänzen.
Stattdessen wird Nia heiraten und sich wieder scheiden lassen, sie wird den Studenten, der mittlerweile als Arzt praktiziert, suchen und nie finden wollen. Und als sie ihn dann doch zufällig aufspürt, nach fünf Jahrzehnten und beinahe in unserer Gegenwart, geht das Gespräch der beiden Alten nicht ohne Vermittlung ab.
"Sag ihm, ich habe an ihn gedacht", sagt Nia am Telefon zu ihrer Freundin, seiner Patientin. Und er lässt ihr dasselbe ausrichten.
TILMAN SPRECKELSEN
Naira Gelaschwili: "Ich bin sie". Roman.
Aus dem Georgischen von Lia Wittek. Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 176 S.,
geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main