Die Geschichte spielt in Wien, nach dem Ende der Belle Époque: Die große Zeit des einst glorreichen k. k. Wiener Klavier-Unternehmens Friedrich Ehrbar ist vorbei und der letzte Erbe der Gründerfamilie, der Komponist Hannes Gall, behauptet, der "unbekannte Sohn Gustav Mahlers" zu sein. War es ein von der Familie Ehrbar gehütetes und schlussendlich von Galls Mutter eröffnetes Geheimnis? Oder bloß der anmaßende Versuch eines Epigonen, den Adel der großen Musik im eigenen Blut wiedererstehen zu lassen und in die postmoderne Gesellschaft herüberzuretten? Der Komponist und Musikwissenschaftler Hubert Stuppner untersucht die Umstände dieses bislang der Mahler-Forschung verborgen gebliebenen Falls anhand von unveröffentlichten Dokumenten und Interviews mit Nachgeborenen und legt mit diesem Band gleichzeitig eine Mahler- und Wiener-Klavierbau-Rezeptionsgeschichte vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2020Das Klavier als Streicheltier
Hubert Stuppner rückt die weißen und schwarzen Tasten ins Zentrum einer leicht irrwitzigen Familiengeschichte
Wenn die "Erlösung des Eros im Physischen" nicht stattfinden kann, weil, "ehe dessen Pulsationen zur letzten fleischlichen Konkretion führten", die "Entladungsenergie" vielmehr "in Dynamik umgewandelt und zur Klangentfaltung genutzt" wurde - dann führt die Lesereise unüberhörbar auf psychoanalytisches Terrain. Im Fall Hubert Stuppners sogar direkt nach Sigmund Freuds Wien. Es sind allerdings keine zeitgenössischen Quellen, die der Autor zitiert, sondern er formuliert in solcher Weise auf eigene Rechnung. Er beschränkt sich nicht darauf, den Komponisten Gustav Mahler auf die Couch zu legen, sondern greift weit darüber hinaus, schlägt einen Bogen von der Zeit der Wiener Klassik bis ins Jahr 1983. In jenem Jahr nämlich starb der 1908 geborene Hannes Gall, ein eher randständiger, aber gesellschaftlich gut integrierter Komponist, Lehrer und Musikschriftsteller, der in seinen späten Lebensjahren behauptete, ein illegitimer, seinerzeit durch eine Notehe legalisierter Spross Gustav Mahlers zu sein.
Die Aufarbeitung dieses Familiengeheimnisses führt dann, mit Stuppner als Chefaufklärer, bis in die unmittelbare Gegenwart. Freilich würde der kriminologisch-genealogische Aspekt der Sache kaum mehr als dreißig Seiten füllen und erweist sich letztlich nur als Vehikel für einen amüsanten, über weite Strecken auch frohgemut durchgeknallten und ständig mit steilen, manchmal auch schrägen Thesen aufwartenden kultur- und geistesgeschichtlichen Streifzug. In dessen Mittelpunkt steht das Klavier als Vehikel der Triebsublimierung und -abfuhr, äußerlich begründet dadurch, dass die von Gall für seine eigene Existenz ins Spiel gebrachte Frau aus der Dynastie Ehrbar stammte, deren Instrumente neben denen der konkurrierenden Firma Bösendorfer den Wiener Klavierklang über Jahrzehnte prägten. Auch agierten beide Firmen als Komponistenmäzene mit eigenen, prächtigen Konzertsälen.
Ob jeder Leser die Geschichten von der "Potenz des Anschlages" und jenem "imaginären Liebesspiel", das "seine Libido in langen, gefühlsgeladenen Gesängen aufstaute, bis sie orgiastisch an den Höhepunkten explodierte", goutiert, steht zwar dahin. Der Autor wartet in seiner feinziseliert-altväterischen Sprache jedenfalls auch mit originellen Wendungen auf, etwa wenn er Schönbergs "Pierrot Lunaire" beschreibt, in dem "über einem vollkommen ausgetrockneten Klavierklang nur noch mit verdorrten Zungen gesungen" werde, mit "Melodien, die wie dürre Stängel abbrachen (. . .) blass, bleich und fahl wie erkaltetes Wachs".
Um strenge Beweisführung geht es in diesem Buch nicht, was sich schon durch eine Zitiertechnik offenbart, bei der manches nur indirekt oder gar nicht belegt wird. Ein wenig Mystifikation und Doppelspiel gehören hier nicht nur zur Geschichte, sondern auch zum Umgang des Autors mit ihr. Die kühnsten Diagnosen einer neurotisierten Wiener Gesellschaft und des Klaviers als sexuellen Streicheltiers werden dabei einem immer rechtzeitig auftauchenden Gesprächspartner namens Süßmayr-Castelli in den Mund gelegt. Von ihm darf mit Fug und Recht angenommen werden, dass er ein Alter Ego des Autors ist.
Weil der Held des Buches, jener Hannes Gall, ein ganz ähnliches professionelles Profil hat wie Hubert Stuppner - auch der ist hauptberuflich Komponist -, liegt die Versuchung nahe, nun womöglich dem einen wie den anderen bloß eine fiktive Existenz beizulegen. Zumal, wenn man bedenkt, dass der Autor als gebürtiger Südtiroler ein Landsmann Herbert Rosendorfers ist, der vor Jahrzehnten den legendären fiktiven Komponisten Otto Jägermeier in die Welt setzte.
Doch das ginge zu weit: Gall und Stuppner scheint es, den einen im vergangenen Jahrhundert, den anderen mitten unter uns, tatsächlich gegeben zu haben beziehungsweise immer noch zu geben. Ihr Zusammentreffen im Zeichen der "Tasten zum Antasten" aber hat eine sanft irrwitzige Familien- und Kulturverfallsgeschichte hervorgetrieben, in der Fakten und Spekulationen eine ziemlich wilde, doch unterhaltsame Liaison eingehen.
GERALD FELBER
Hubert Stuppner: "Ich, der unbekannte Sohn Gustav Mahlers". Die Geschichte eines Hochstaplers aus Wien, der Stadt der Klaviere.
Hollitzer Verlag, Wien 2019. 280 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hubert Stuppner rückt die weißen und schwarzen Tasten ins Zentrum einer leicht irrwitzigen Familiengeschichte
Wenn die "Erlösung des Eros im Physischen" nicht stattfinden kann, weil, "ehe dessen Pulsationen zur letzten fleischlichen Konkretion führten", die "Entladungsenergie" vielmehr "in Dynamik umgewandelt und zur Klangentfaltung genutzt" wurde - dann führt die Lesereise unüberhörbar auf psychoanalytisches Terrain. Im Fall Hubert Stuppners sogar direkt nach Sigmund Freuds Wien. Es sind allerdings keine zeitgenössischen Quellen, die der Autor zitiert, sondern er formuliert in solcher Weise auf eigene Rechnung. Er beschränkt sich nicht darauf, den Komponisten Gustav Mahler auf die Couch zu legen, sondern greift weit darüber hinaus, schlägt einen Bogen von der Zeit der Wiener Klassik bis ins Jahr 1983. In jenem Jahr nämlich starb der 1908 geborene Hannes Gall, ein eher randständiger, aber gesellschaftlich gut integrierter Komponist, Lehrer und Musikschriftsteller, der in seinen späten Lebensjahren behauptete, ein illegitimer, seinerzeit durch eine Notehe legalisierter Spross Gustav Mahlers zu sein.
Die Aufarbeitung dieses Familiengeheimnisses führt dann, mit Stuppner als Chefaufklärer, bis in die unmittelbare Gegenwart. Freilich würde der kriminologisch-genealogische Aspekt der Sache kaum mehr als dreißig Seiten füllen und erweist sich letztlich nur als Vehikel für einen amüsanten, über weite Strecken auch frohgemut durchgeknallten und ständig mit steilen, manchmal auch schrägen Thesen aufwartenden kultur- und geistesgeschichtlichen Streifzug. In dessen Mittelpunkt steht das Klavier als Vehikel der Triebsublimierung und -abfuhr, äußerlich begründet dadurch, dass die von Gall für seine eigene Existenz ins Spiel gebrachte Frau aus der Dynastie Ehrbar stammte, deren Instrumente neben denen der konkurrierenden Firma Bösendorfer den Wiener Klavierklang über Jahrzehnte prägten. Auch agierten beide Firmen als Komponistenmäzene mit eigenen, prächtigen Konzertsälen.
Ob jeder Leser die Geschichten von der "Potenz des Anschlages" und jenem "imaginären Liebesspiel", das "seine Libido in langen, gefühlsgeladenen Gesängen aufstaute, bis sie orgiastisch an den Höhepunkten explodierte", goutiert, steht zwar dahin. Der Autor wartet in seiner feinziseliert-altväterischen Sprache jedenfalls auch mit originellen Wendungen auf, etwa wenn er Schönbergs "Pierrot Lunaire" beschreibt, in dem "über einem vollkommen ausgetrockneten Klavierklang nur noch mit verdorrten Zungen gesungen" werde, mit "Melodien, die wie dürre Stängel abbrachen (. . .) blass, bleich und fahl wie erkaltetes Wachs".
Um strenge Beweisführung geht es in diesem Buch nicht, was sich schon durch eine Zitiertechnik offenbart, bei der manches nur indirekt oder gar nicht belegt wird. Ein wenig Mystifikation und Doppelspiel gehören hier nicht nur zur Geschichte, sondern auch zum Umgang des Autors mit ihr. Die kühnsten Diagnosen einer neurotisierten Wiener Gesellschaft und des Klaviers als sexuellen Streicheltiers werden dabei einem immer rechtzeitig auftauchenden Gesprächspartner namens Süßmayr-Castelli in den Mund gelegt. Von ihm darf mit Fug und Recht angenommen werden, dass er ein Alter Ego des Autors ist.
Weil der Held des Buches, jener Hannes Gall, ein ganz ähnliches professionelles Profil hat wie Hubert Stuppner - auch der ist hauptberuflich Komponist -, liegt die Versuchung nahe, nun womöglich dem einen wie den anderen bloß eine fiktive Existenz beizulegen. Zumal, wenn man bedenkt, dass der Autor als gebürtiger Südtiroler ein Landsmann Herbert Rosendorfers ist, der vor Jahrzehnten den legendären fiktiven Komponisten Otto Jägermeier in die Welt setzte.
Doch das ginge zu weit: Gall und Stuppner scheint es, den einen im vergangenen Jahrhundert, den anderen mitten unter uns, tatsächlich gegeben zu haben beziehungsweise immer noch zu geben. Ihr Zusammentreffen im Zeichen der "Tasten zum Antasten" aber hat eine sanft irrwitzige Familien- und Kulturverfallsgeschichte hervorgetrieben, in der Fakten und Spekulationen eine ziemlich wilde, doch unterhaltsame Liaison eingehen.
GERALD FELBER
Hubert Stuppner: "Ich, der unbekannte Sohn Gustav Mahlers". Die Geschichte eines Hochstaplers aus Wien, der Stadt der Klaviere.
Hollitzer Verlag, Wien 2019. 280 S., geb., 39,- [Euro].
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