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Bekenntnisse mit neunzig Jahren: Marguerite Andersens "Ich, eine schlechte Mutter"
In den vergangenen Jahren sind auffallend viele Bücher über das Muttersein und das Mutterwerden erschienen. Essays vor allem, die geschrieben wurden aus der Perspektive weißer Frauen mit kleinen Kindern, die sich von dem Schrecken über das plötzlich so veränderte Leben zu Gedanken über den Körper, über Beziehungen, Konventionen, Freiheit, Müdigkeit, Schönheit und so fort inspirieren ließen. Maggie Nelsons "Die Argonauten" ist so ein Buch. Von Jenny Offill stammt "Amt für Mutmaßungen", von Anne Enright "Ein Geschenk des Himmels" und von Rachel Cusk "Lebenswerk", das zwar schon vor gut zwanzig Jahren im englischen Original, aber erst vor kurzem in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Bislang allein im Englischen sind außerdem Anna Prushinskayas "A Woman Is a Woman Until She Is a Mother" zu notieren, "Little Labors" von Rivka Galchen und die wunderbare Kurzgeschichte "A Love Story" von Samantha Hunt. Genannt werden muss natürlich auch das Buch "Mutterschaft" von Sheila Heti, das sich von den anderen allerdings durch seine Perspektive unterscheidet. Denn Heti denkt über das Kinderkriegen nach, bevor sie sich dagegen entscheidet (oder dafür).
Zu dieser keineswegs vollständigen Liste gesellt sich nun ein Buch, das die Perspektive abermals erweitert. Marguerite Andersen ist fast neunzig Jahre alt, als sie ihre "Bekenntnisse" vorlegt - so lautet die explizit an Rousseau sich orientierende Genrebezeichnung des Werks, in dem sich die in Magdeburg geborene Autorin über ihr Dasein als Mutter beugt. Sie hat drei Kinder. Zwei Söhne aus einer ersten Ehe mit einem französischen Soldaten, den sie am Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin kennenlernte und dem sie nach Tunesien folgte. Und eine später geborene Tochter, die aus einer zweiten Ehe mit einem Dänen stammt, dem sie in Kanada begegnet war. Alle drei sind längst erwachsen, als Andersen ihre Selbstbefragung beginnt. Einer, der mittlere, erteilt ihr umgehend Absolution. "Aber nein, Marguerite, mach dir deswegen doch keine Sorgen. Warum soll es plötzlich heißen, wir hätten unter diesem . . . wie soll ich sagen . . . bewegten . . . Leben gelitten, das du uns beschert hast?" Das ist der erste Satz des Buches.
Er nimmt ihm sofort die Schärfe. Was soll schiefgegangen sein, wenn die Kinder gelungen und zufrieden sind? Wozu sich bekennen? "Michel", sagt Marguerite Andersen zu ihrem Sohn, "lass mich ausreden, damit ich es dir sage, es dir zeige, du wirst erkennen, dass ich recht habe, fall mir nicht ins Wort, ich habe das Bedürfnis all meine Fehler zu bekennen, all das, was mir leidtut, genauer hinzusehen, durch dieses Nadelöhr muss ich durch." Andersen erzählt chronologisch, wie sie in Tunis zwei Kinder großzog, die Jauchegrube leerte, auf einem Gaskocher das Essen zubereitete und einen prügelnden Ehemann ertrug. Wie sie die Scheidung einreichte und anderthalb Jahre von ihren Söhnen getrennt wurde. Wie sie dann, mit ihnen wieder vereint, im Berlin der fünfziger Jahre studierte, zum Geldverdienen unterrichtete und ihre Söhne hütete. Wie sie ihre Söhne dann wieder dem Exmann anvertraute, der sie prompt behalten wollte. "Wie konnte ich nur so naiv sein?"
In abgewandelter Form stellt sich Marguerite Andersen diese Frage immer wieder. Als sie mit dem älteren Sohn nach Kanada zieht und den jüngeren abermals in Frankreich zurücklässt. Als sie den älteren in ein Internat schickt, um mehr Zeit zu zweit mit ihrem neuen Geliebten verbringen zu können. Und ihn dann in Kanada zurücklässt, um mit dem neuen Ehemann und dem wiedergefundenen jüngeren Sohn nach Addis Abeba umzuziehen. Marguerite Andersen lebt auf drei Kontinenten, sie studiert, wird promoviert und schreibt im Laufe ihres Lebens zwanzig Bücher, für die sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet wird. Aber in ihren Bekenntnissen beugt sie sich ausschließlich über das, was sie falsch gemacht haben könnte. "Ich, eine schlechte Mutter" heißt der Titel ihres Buches. Es ist eine Lebensbeichte, ein Rechenschaftsbericht, geschrieben in dem Wunsch, sich selbst zu prüfen.
Darin liegt der große Unterschied zu den meisten anderen Büchern über das Muttersein aus den vergangenen Jahren. Marguerite Andersen versucht nicht, sich schreibend einen Reim auf Erfahrungen zu machen, die sie als umstürzend erlebte. Eher ist es umgekehrt, und sie fragt sich im hohen Alter, warum sie das Grundstürzende in vielen ihrer Entscheidungen als junge Mutter nicht gesehen hat. Ob sie deswegen eine "schlechte Mutter" war? Ihr Buch lässt diesen Schluss durchaus zu, aber wer wollte den Stab über ihr brechen außer ihr selbst.
Dass darin ihr Ziel liegt, unterstreicht auch die Form ihres Textes, der in kurzen Sätzen gehalten ist, die sich immer weiter reduzieren, bis sie nur noch aus drei, zwei Wörtern bestehen, die wie Zeilen eines Gedichtes angeordnet sind. Genau darin ähnelt ihr Buch zwar wiederum jenen der jüngeren Mütter, deren Essays ebenfalls oft in Form von Prosaminiaturen und Fragmenten daherkommen. Was von Spöttern auf die Umstände ihrer Entstehung zurückgeführt wurde - die Nickerchen der Kinder ließen eben keine längeren Kapitel zu. Aber das ist natürlich Blödsinn, und nicht nur bei Marguerite Andersen geht die Reduktion mit Konzentration einher. Sie konzentriert sich auf das Wesentliche, von dem es im Leben einer Mutter so vieles gibt.
LENA BOPP.
Marguerite Andersen: "Ich, eine schlechte Mutter". Bekenntnisse.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Secession Verlag, Berlin 2020. 186 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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