Ganz selten einmal höre ich Musik beim Lesen. Meistens stört sie meinen Lesefluss.
Obwohl also auch beim Lesen dieses Werks keine physische Musik um mich herum lief, hörte ich trotzdem beim Lesen Stevie Nicks kraftvolle Stimme "You can go your own way..." in meinem Innenohr singen, weil Mary
MacLanes Stimme ebenso kraftvoll, selbstbestimmt und voller Leben ist, voller Hunger nach…mehrGanz selten einmal höre ich Musik beim Lesen. Meistens stört sie meinen Lesefluss.
Obwohl also auch beim Lesen dieses Werks keine physische Musik um mich herum lief, hörte ich trotzdem beim Lesen Stevie Nicks kraftvolle Stimme "You can go your own way..." in meinem Innenohr singen, weil Mary MacLanes Stimme ebenso kraftvoll, selbstbestimmt und voller Leben ist, voller Hunger nach Leben.
Dieser Text ist tatsächlich 111 Jahre alt? Unglaublich, wie zeitgeistig und heutig er wirkt, wie frisch und wütend und aufbegehrend. Besser als dieser passt kaum einer in die heutige Zeit der laut werdenden Jugendkulturen.
Wenn Mary MacLane wütet: "Wäre ich als Mann geboren worden, hätte ich bereits einen tiefen Eindruck in der Welt hinterlassen..." und "Oh, es ist hart und bitter, eine Frau zu sein! [...] Ist eine Frau eine so abscheuliche Kreatur, dass sie durch diesen endlosen Schmerz geläutert werden muss?" und "Eine Menschenfrau wird [...] geboren, mit einem seltsamen, verpesteten Namen gebrandmarkt und in die Natur losgelassen; [...] Der Name [...] heißt Frau.", sagt das mehr über die immer noch notwendige Aktualität der Frauenbewegung aus, als vermutlich manch alter, weißer Mann wahrhaben möchte. Sie kritisiert die Art von Leuten, "die die Figur einer Frau ihre 'Form' nennen" ebenso, wie "Romanheldinnen", die sich methodisch in einen Mann verlieben, und tut genau das. Sie schwärmt für Bildnisse Napoleons, aber verzehrt sich nach seinem Gegenteil: einem charismatischen Teufel, eine Art Ur-Bad-Boy, dessen Ankunft sie mit all ihren Sinnen ersehnt.
Ihr niemals kindlich-staunendes, sondern sehr reifes, fast verstörend abgeklärtes, literarisches Ich schafft sprachgewaltige, wunderschöne Sätze, die man sich auf's innere Handgelenk ziselieren lassen möchte: "Ich mag mich strecken und recken, bis nur noch ein abgezehrter Nerv von mir übrig bleibt. [...] Aber ich werde mir ein Atom des Glaubens bewahren.", "Nimm irgendetwas, egal an welchem Punkt, und betrüge dich, indem du denkst, dass du damit glücklich bist...".
Ein erstaunliches Werk, das der Reclam-Verlag kompositorisch (allein die rötliche Farbgebung des Einbands passt ganz wunderbar zur mantraartigen Wiederholung von Rot im Text) hervorragend herausgegeben hat.
Ich könnte noch mehr Stellen zitieren (ich kam zum ersten Mal fast nicht hinterher mit dem Markieren beim Lesen), aber bitte: Wer sich noch an seine eigene Adoleszenz erinnert, an das schmerzvolle Sehnen, das Gefühl, allein und unverstanden und sonderlich zu sein, aber auch ein wenig größenwahnsinnig in seiner eigenen Abgeklärtheit, der lese dieses Buch!!