Ein Blick ins Herz Amerikas. Der brave Bürger, der beim Aufmarsch des Ku-Klux-Klans von seinem Hund enttarnt wird. Die Urne mit der Asche der Mutter, erst gestohlen, dann durch Zufall wiedergefunden. Getrennte Geschwister, die jahrelang unwissentlich Tür an Tür wohnen - Paul Auster hat amerikanische Radiohörer gebeten, ihm Geschichten zu schicken. Ohne Vorgabe, nur kurz und wahr sollten sie sein. 4000 Hörer antworteten. Sie erzählten von Liebe und Erfolg, Armut, Krieg und Tod, Angehörigen, Haustieren, Freunden und Fremden. Knapp 200 der lustigsten, tragischsten, schauerlichsten und bewegendsten Geschichten hat Auster zu einem faszinierenden Ganzen gebündelt. «Ein beglückendes Buch.» (Tages-Anzeiger)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2002Ein Land, das an seinen Familien leidet
„Ich glaubte, mein Vater sei Gott”: Es hat nicht nur mit Faulheit zu tun, wenn Paul Auster die Geschichten von Nicht-Schriftstellern sammelt
In dem Film „Smoke”, der nach einem Buch von Paul Auster entstand, ist Harvey Keitel ein zerknautschter Mann, der jeden Tag um dieselbe Zeit eine Fotografie derselben New Yorker Straßenecke macht. Er will die Zeit anhalten und ihr auf der Spur bleiben, er reiht nur Ausschnitte aneinander und abstrahiert von ihrem Zusammenhang, aber wenn das Täuschungsmanöver des Mannes gelingt, hat der Betrachter den Eindruck, diesen Teil New Yorks zu kennen. Keitel und die Jagd des Künstlers nach den Gewöhnlichkeiten des Lebens wirken wie ein Bild für den mainstream der amerikanischen Literatur. Sie ist, ob im Kleinbürgertum, in der lower, middle, upper middle class oder gar unter Intellektuellen unterwegs, ob bei Raymond Carver, Stewart O’Nan, John Updike oder Harold Brodkey, ein vielstimmiger Chor gegen den amerikanischen Traum. Statt idealistisch zu phantasieren, möchte sie „nur” das Leben zeigen. Allerdings selten das Leben der Straßenecken, der Dinge. Das menschliche Kämpfen und Scheitern steht im Mittelpunkt, und wenn Präsidenten und Mythen noch heute von großen Möglichkeiten der Menschen erzählen, so malt die amerikanische Literatur schon seit langem das Bild eines Landes, in dem sich wenig bewegt.
Doch was bleibt, bei all der programmatischen Alltäglichkeit eines Großteils der Literatur, dann noch den Geschichten, die Männer und Frauen „von der Straße” erzählen? Was hier erst einmal alle meint, die sich nicht als Schriftsteller verstehen. Die Sammlung „Ich glaubte, mein Vater sei Gott”, die Paul Auster herausgegeben hat und die jetzt auf Deutsch erschienen ist, gibt eine erste Vorstellung davon. Das Buch heißt im Untertitel „Wahre Geschichten aus Amerika” und verweist damit auf die hoch dotierte Kategorie der Authentizität. Die aber ist, obwohl autobiographisch grundierte Texte aus der Ich-Perspektive überwiegen, auch in diesem Buch nicht einfach zu klären: Alles Geschehene verändert sich, sobald man es in eine Erzählform bringt. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen einer Novelle und dem Tagesbericht eines Ehepaars.
Doch wie kommt gerade Paul Auster dazu, Geschichten von Nicht- Schriftstellern zu sammeln? Es hat, wenn man ihm glauben kann, mit Faulheit und mit einer Idee seiner Frau Siri Hustvedt zu tun. Ein Journalist des National Public Radio hatte Auster gefragt, ob er jeden Monat ein paar Geschichten schreiben und am Radio vorlesen könne. Auster hätte beinahe abgelehnt, da sagte Hustvedt: „Du musst die Geschichten doch nicht selber erzählen.” Er solle sie sich von den Hörern schicken lassen, die besten könne er dann im Radio präsentieren. So sei, schreibt Auster in seinem Vorwort, das „National Story Project” entstanden. Dieses große Wort für das aus einem simplen Einfall geborene Vorhaben zeigt an: Auster hatte die geistige Essenz jenes Landes im Blick, das noch nicht vom 11. September 2001 getroffen war. Er wollte einen Querschnitt durch das amerikanische Leben präsentieren, ja, als Dichter-Sammler ein Medium des Volkes sein.
Humanität und Charme
Auster legt in seiner Einleitung Wert darauf, dass die Teilnehmer des NSP aus zweiundvierzig Staaten stammen, dass der jüngste Teilnehmer des Story-Projekts zwanzig und der älteste neunzig Jahre alt ist, dass nur die Hälfte der Geschichten von Männern eingeschickt wurde, dass ein Postbote, ein Gas- und Stromableser und Hausfrauen dabei sind. Die Auswahl, der sich Auster als Leser zu stellen hatte, war recht groß: Immerhin viertausend Texte wurden ihm zugeschickt, davon blieben in seinem Buch hundertsechsundzwanzig übrig. Dabei habe er, so Auster, nie an demographische Kriterien gedacht, sondern die Geschichten nach „Humanität, Wahrheit oder Charme beurteilt”. Nicht Perfektion habe er angestrebt, die Faszination liege „in dem Rohen, Ungeschliffenen, Unverfälschten”. Auch wenn das beinahe schon kitschig klingt und außerdem untertrieben ist, denn einige dieser kurzen Geschichten sind brillant geschrieben, stellt sich vorrangig die Frage: Wie sieht nach Meinung der im „National Story Project” mitschreibenden Amerikaner die Nation aus?
Das Buch ist nach Themen und Motiven geordnet, die häufiger zur Sprache kamen. Eines der problematischsten ist, nicht unüberraschend, „die Familie”. Sie dominiert trotz aller Veränderungen der Sozialstruktur ganz selbstverständlich noch immer die Entwicklung des Individuums, das ihr gegenüber am eindringlichsten und unnachgiebigsten auf seinem persönlichen Glück oder Unglück beharrt. Mit lapidarer Direktheit erzählt in „Tausend Dollar” eine Frau vom Verrat ihrer Eltern an ihren Wünschen, von den Schwierigkeiten, in die sie diese Wünsche selber gebracht haben. Es ist die klassische Geschichte vom einfachen Mädchen, das auszieht, um in Hollywood Filmstar, Drehbuchautorin oder etwas ähnlich Großartiges zu werden, dort zunächst von Kreditkarten lebt und sich schließlich als Porno-Darstellerin verdingt: „Ich kam nach Los Angeles, weil ich in der Filmbranche groß rauskommen wollte. Ich fing als Schauspielerin an und rutschte dann langsam nach unten.” Geschickt und ohne Wehleidigkeit ist die Geschichte auf den persönlichen Skandal hin erzählt, dass die Eltern der Autorin in einer entscheidenden Situation kein Geld gaben, obwohl sie es hatten, wie sie nachträglich erfuhr.
Neigen die Autoren bei der Thematisierung des eigenen Lebens zur Bevorzugung des Tiefgehenden, Schwerwiegenden, muten die Tiergeschichten der Hörer des National Public Radio oft wie befreiend leichte Phantasien an. Ein Schmetterling heilt ein kaputtes Auto; ein Huhn trabt durch Portland, klopft mit seinem Schnabel an eine Eisentür und wird eingelassen. Ein kleiner Hund springt seinen Herrn, der gerade vermummt an der Spitze des Ku Klux Klan marschiert, begeistert an und macht ihn dadurch unmöglich: Die unfreiwillige Komik der Entlarvung durch „Strolch” nimmt den wichtigtuerisch-gefährlichen Brüdern in der Kleinstadt Broken Bow jede Macht.
Ein Thema vieler Geschichten ist der Krieg, wobei erstaunlicherweise der Erste Weltkrieg, jener der Väter und Großväter, dreimal vertreten ist, der siegreiche Zweite dominiert und das berühmte amerikanische Trauma-Thema Vietnam nur einmal schüchtern sich zeigt. Wie zur Strafe kehrt das Vergessene an anderem Ort wieder, im Kapitel „Traum” in der Geschichte „Lang ist`s her”, die von den flash backs einer ganzen Generation erzählt. Locker und rotzig heruntergeschrieben ist die Kriegserzählung „Ein Marsch in der Sonne”, in der eine Gruppe amerikanischer Sanitäter, Nachfahren Schweijks im Zweiten Weltkrieg, statt einen Strafmarsch durch den sommerlichen Triestiner Karst zu unternehmen, zusammenhält und in einem schattigen Tal Volleyball spielt. Eindringlich und dramaturgisch gut aufgebaut wirkt auch „Die Siegesfeier”, ein makabres Kurzdrama aus der Nacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Sioux Falls, South Dakota: Im Alkoholrausch gibt die Feier Gelegenheit zu Straßenschlachten und zur Jagd auf einen Schwarzen, dem auch der Erzähler nicht hilft, wofür er sich sein Leben lang schämt.
Jeder hat sein eigenes Radio
Auffällig ist, dass der Band kaum Beiträge der viel erwähnten „ethnischen Minderheiten” enthält. Eine Latino-Frau erzählt eine mexikanische Tanz-Geschichte, ein Text ist mit dem Namen Hsu unterzeichnet, ansonsten dominiert die amerikanisch-jüdisch-deutsche Kultur. Das heißt vielleicht nur, dass das National Public Radio eben doch kein wirklich nationales, sondern ein Radio der weissen Nation ist und dass die anderen Amerikaner ihre eigenen Radiosender haben. Doch gerade hierin bestätigt Austers Auswahl das stets von neuem überraschende Bild der amerikanischen Gegenwartsliteratur, die, anders als die englische in Europa, trotz beflissener correctness von ihren (inneren) Kolonien bisher kaum profitieren konnte. Eines der zehn von Auster ausgewählten Themen heißt „Fremde”. Es bezieht sich nicht nur auf Erfahrungen mit „fremden” Völkern, aber die Geschichte eines Mädchens aus Nebraska, das nachmittags in Manhattan eine unkomplizierte karibische Straßenparty erlebt, wirkt wie eine Vision dessen, was möglich wäre. Was in der Musik längst akzeptiert wird, ist für die Literatur noch ferne Zukunft.
Zu „Liebe” und „Tod” fällt auch den Amerikanern offenbar wenig Neues ein, nur dass die Liebe hier kurioserweise beinahe durchgängig gelingt, aber um wirklich Repräsentatives feststellen und folgern zu können, möchte und müsste man alle viertausend eingereichten Geschichten lesen, nicht nur die vom Herausgeber subjektiv ausgewählten. Das Bild der Nation, das sich aus dem umfangreichen Torso des „National Story Projects” ergibt, ist dennoch partiell erstaunlich: Ein Land, in dem die wichtigsten Kriege solche sind, bei denen das Land nur am Rande und siegreich beteiligt war; ein „Schmelztiegel”-Land, das beinahe ausschließlich weiße Autoren kennt; ein Land, das an seinen Familien leidet und Trost in romantischer Liebe und gescheiten Tieren findet. Eine der besten aller Geschichten, da hat Paul Auster recht, redet übrigens gar nicht von der Nation. Nur vom Medium Radio und von der Einsamkeit, die es hörbar zu machen vermag, die den Hörer leise und sanft am Arm nimmt: Immer wenn die Autorin mit dem schönen Namen Ameni Roszas nach einer Liebesgeschichte wieder allein ist, wenn die Wände wieder kalt werden und näher rücken, manchmal nach Jahren, dreht sie auf einmal wieder am Knopf.
HANS-PETER KUNISCH
PAUL AUSTER (Hrsg.): Ich glaubte, mein Vater sei Gott. Wahre Geschichten aus Amerika. Deutsch von Thomas Gunkel, Volker Oldenburg, Kathrin Razum und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 408 Seiten, 19, 90 Euro.
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„Ich glaubte, mein Vater sei Gott”: Es hat nicht nur mit Faulheit zu tun, wenn Paul Auster die Geschichten von Nicht-Schriftstellern sammelt
In dem Film „Smoke”, der nach einem Buch von Paul Auster entstand, ist Harvey Keitel ein zerknautschter Mann, der jeden Tag um dieselbe Zeit eine Fotografie derselben New Yorker Straßenecke macht. Er will die Zeit anhalten und ihr auf der Spur bleiben, er reiht nur Ausschnitte aneinander und abstrahiert von ihrem Zusammenhang, aber wenn das Täuschungsmanöver des Mannes gelingt, hat der Betrachter den Eindruck, diesen Teil New Yorks zu kennen. Keitel und die Jagd des Künstlers nach den Gewöhnlichkeiten des Lebens wirken wie ein Bild für den mainstream der amerikanischen Literatur. Sie ist, ob im Kleinbürgertum, in der lower, middle, upper middle class oder gar unter Intellektuellen unterwegs, ob bei Raymond Carver, Stewart O’Nan, John Updike oder Harold Brodkey, ein vielstimmiger Chor gegen den amerikanischen Traum. Statt idealistisch zu phantasieren, möchte sie „nur” das Leben zeigen. Allerdings selten das Leben der Straßenecken, der Dinge. Das menschliche Kämpfen und Scheitern steht im Mittelpunkt, und wenn Präsidenten und Mythen noch heute von großen Möglichkeiten der Menschen erzählen, so malt die amerikanische Literatur schon seit langem das Bild eines Landes, in dem sich wenig bewegt.
Doch was bleibt, bei all der programmatischen Alltäglichkeit eines Großteils der Literatur, dann noch den Geschichten, die Männer und Frauen „von der Straße” erzählen? Was hier erst einmal alle meint, die sich nicht als Schriftsteller verstehen. Die Sammlung „Ich glaubte, mein Vater sei Gott”, die Paul Auster herausgegeben hat und die jetzt auf Deutsch erschienen ist, gibt eine erste Vorstellung davon. Das Buch heißt im Untertitel „Wahre Geschichten aus Amerika” und verweist damit auf die hoch dotierte Kategorie der Authentizität. Die aber ist, obwohl autobiographisch grundierte Texte aus der Ich-Perspektive überwiegen, auch in diesem Buch nicht einfach zu klären: Alles Geschehene verändert sich, sobald man es in eine Erzählform bringt. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen einer Novelle und dem Tagesbericht eines Ehepaars.
Doch wie kommt gerade Paul Auster dazu, Geschichten von Nicht- Schriftstellern zu sammeln? Es hat, wenn man ihm glauben kann, mit Faulheit und mit einer Idee seiner Frau Siri Hustvedt zu tun. Ein Journalist des National Public Radio hatte Auster gefragt, ob er jeden Monat ein paar Geschichten schreiben und am Radio vorlesen könne. Auster hätte beinahe abgelehnt, da sagte Hustvedt: „Du musst die Geschichten doch nicht selber erzählen.” Er solle sie sich von den Hörern schicken lassen, die besten könne er dann im Radio präsentieren. So sei, schreibt Auster in seinem Vorwort, das „National Story Project” entstanden. Dieses große Wort für das aus einem simplen Einfall geborene Vorhaben zeigt an: Auster hatte die geistige Essenz jenes Landes im Blick, das noch nicht vom 11. September 2001 getroffen war. Er wollte einen Querschnitt durch das amerikanische Leben präsentieren, ja, als Dichter-Sammler ein Medium des Volkes sein.
Humanität und Charme
Auster legt in seiner Einleitung Wert darauf, dass die Teilnehmer des NSP aus zweiundvierzig Staaten stammen, dass der jüngste Teilnehmer des Story-Projekts zwanzig und der älteste neunzig Jahre alt ist, dass nur die Hälfte der Geschichten von Männern eingeschickt wurde, dass ein Postbote, ein Gas- und Stromableser und Hausfrauen dabei sind. Die Auswahl, der sich Auster als Leser zu stellen hatte, war recht groß: Immerhin viertausend Texte wurden ihm zugeschickt, davon blieben in seinem Buch hundertsechsundzwanzig übrig. Dabei habe er, so Auster, nie an demographische Kriterien gedacht, sondern die Geschichten nach „Humanität, Wahrheit oder Charme beurteilt”. Nicht Perfektion habe er angestrebt, die Faszination liege „in dem Rohen, Ungeschliffenen, Unverfälschten”. Auch wenn das beinahe schon kitschig klingt und außerdem untertrieben ist, denn einige dieser kurzen Geschichten sind brillant geschrieben, stellt sich vorrangig die Frage: Wie sieht nach Meinung der im „National Story Project” mitschreibenden Amerikaner die Nation aus?
Das Buch ist nach Themen und Motiven geordnet, die häufiger zur Sprache kamen. Eines der problematischsten ist, nicht unüberraschend, „die Familie”. Sie dominiert trotz aller Veränderungen der Sozialstruktur ganz selbstverständlich noch immer die Entwicklung des Individuums, das ihr gegenüber am eindringlichsten und unnachgiebigsten auf seinem persönlichen Glück oder Unglück beharrt. Mit lapidarer Direktheit erzählt in „Tausend Dollar” eine Frau vom Verrat ihrer Eltern an ihren Wünschen, von den Schwierigkeiten, in die sie diese Wünsche selber gebracht haben. Es ist die klassische Geschichte vom einfachen Mädchen, das auszieht, um in Hollywood Filmstar, Drehbuchautorin oder etwas ähnlich Großartiges zu werden, dort zunächst von Kreditkarten lebt und sich schließlich als Porno-Darstellerin verdingt: „Ich kam nach Los Angeles, weil ich in der Filmbranche groß rauskommen wollte. Ich fing als Schauspielerin an und rutschte dann langsam nach unten.” Geschickt und ohne Wehleidigkeit ist die Geschichte auf den persönlichen Skandal hin erzählt, dass die Eltern der Autorin in einer entscheidenden Situation kein Geld gaben, obwohl sie es hatten, wie sie nachträglich erfuhr.
Neigen die Autoren bei der Thematisierung des eigenen Lebens zur Bevorzugung des Tiefgehenden, Schwerwiegenden, muten die Tiergeschichten der Hörer des National Public Radio oft wie befreiend leichte Phantasien an. Ein Schmetterling heilt ein kaputtes Auto; ein Huhn trabt durch Portland, klopft mit seinem Schnabel an eine Eisentür und wird eingelassen. Ein kleiner Hund springt seinen Herrn, der gerade vermummt an der Spitze des Ku Klux Klan marschiert, begeistert an und macht ihn dadurch unmöglich: Die unfreiwillige Komik der Entlarvung durch „Strolch” nimmt den wichtigtuerisch-gefährlichen Brüdern in der Kleinstadt Broken Bow jede Macht.
Ein Thema vieler Geschichten ist der Krieg, wobei erstaunlicherweise der Erste Weltkrieg, jener der Väter und Großväter, dreimal vertreten ist, der siegreiche Zweite dominiert und das berühmte amerikanische Trauma-Thema Vietnam nur einmal schüchtern sich zeigt. Wie zur Strafe kehrt das Vergessene an anderem Ort wieder, im Kapitel „Traum” in der Geschichte „Lang ist`s her”, die von den flash backs einer ganzen Generation erzählt. Locker und rotzig heruntergeschrieben ist die Kriegserzählung „Ein Marsch in der Sonne”, in der eine Gruppe amerikanischer Sanitäter, Nachfahren Schweijks im Zweiten Weltkrieg, statt einen Strafmarsch durch den sommerlichen Triestiner Karst zu unternehmen, zusammenhält und in einem schattigen Tal Volleyball spielt. Eindringlich und dramaturgisch gut aufgebaut wirkt auch „Die Siegesfeier”, ein makabres Kurzdrama aus der Nacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Sioux Falls, South Dakota: Im Alkoholrausch gibt die Feier Gelegenheit zu Straßenschlachten und zur Jagd auf einen Schwarzen, dem auch der Erzähler nicht hilft, wofür er sich sein Leben lang schämt.
Jeder hat sein eigenes Radio
Auffällig ist, dass der Band kaum Beiträge der viel erwähnten „ethnischen Minderheiten” enthält. Eine Latino-Frau erzählt eine mexikanische Tanz-Geschichte, ein Text ist mit dem Namen Hsu unterzeichnet, ansonsten dominiert die amerikanisch-jüdisch-deutsche Kultur. Das heißt vielleicht nur, dass das National Public Radio eben doch kein wirklich nationales, sondern ein Radio der weissen Nation ist und dass die anderen Amerikaner ihre eigenen Radiosender haben. Doch gerade hierin bestätigt Austers Auswahl das stets von neuem überraschende Bild der amerikanischen Gegenwartsliteratur, die, anders als die englische in Europa, trotz beflissener correctness von ihren (inneren) Kolonien bisher kaum profitieren konnte. Eines der zehn von Auster ausgewählten Themen heißt „Fremde”. Es bezieht sich nicht nur auf Erfahrungen mit „fremden” Völkern, aber die Geschichte eines Mädchens aus Nebraska, das nachmittags in Manhattan eine unkomplizierte karibische Straßenparty erlebt, wirkt wie eine Vision dessen, was möglich wäre. Was in der Musik längst akzeptiert wird, ist für die Literatur noch ferne Zukunft.
Zu „Liebe” und „Tod” fällt auch den Amerikanern offenbar wenig Neues ein, nur dass die Liebe hier kurioserweise beinahe durchgängig gelingt, aber um wirklich Repräsentatives feststellen und folgern zu können, möchte und müsste man alle viertausend eingereichten Geschichten lesen, nicht nur die vom Herausgeber subjektiv ausgewählten. Das Bild der Nation, das sich aus dem umfangreichen Torso des „National Story Projects” ergibt, ist dennoch partiell erstaunlich: Ein Land, in dem die wichtigsten Kriege solche sind, bei denen das Land nur am Rande und siegreich beteiligt war; ein „Schmelztiegel”-Land, das beinahe ausschließlich weiße Autoren kennt; ein Land, das an seinen Familien leidet und Trost in romantischer Liebe und gescheiten Tieren findet. Eine der besten aller Geschichten, da hat Paul Auster recht, redet übrigens gar nicht von der Nation. Nur vom Medium Radio und von der Einsamkeit, die es hörbar zu machen vermag, die den Hörer leise und sanft am Arm nimmt: Immer wenn die Autorin mit dem schönen Namen Ameni Roszas nach einer Liebesgeschichte wieder allein ist, wenn die Wände wieder kalt werden und näher rücken, manchmal nach Jahren, dreht sie auf einmal wieder am Knopf.
HANS-PETER KUNISCH
PAUL AUSTER (Hrsg.): Ich glaubte, mein Vater sei Gott. Wahre Geschichten aus Amerika. Deutsch von Thomas Gunkel, Volker Oldenburg, Kathrin Razum und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 408 Seiten, 19, 90 Euro.
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