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Durch Katastrophen hindurch und an den Büchern entlang: Der Lebensrückblick des jüdischen Antiquars und Verlegers Joseph Melzer.
Von Kai Spanke
Im Sommer 1954 erschien in Paris ein Buch, das in literarisch-intellektuellen Zirkeln ein Rätselraten in Gang setzte. Diese "Histoire d'O", ein offensichtlich hervorstechender Text erotischer Literatur, in dem Erfüllung sich mit einem durchgestalteten Regime sexueller Unterwerfung verknüpft, wurde unter einem Pseudonym veröffentlicht - in einem kleinen Verlag, für den sich damals gerade die juristischen Scharmützel wegen einer schon recht weit gediehenen Ausgabe der Werke des Marquis de Sade abzuzeichnen begannen. Wer also verbarg sich hinter "Pauline Réage"?
Vermutungen kam einige in Umlauf. Albert Camus steuerte zwar keinen konkreten Verdacht bei, hielt aber immerhin fest, dass der Text unmöglich von einer Frau geschrieben sein konnte. Worin ihm noch fast dreißig Jahre später die deutsche Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Literatur zustimmte, die in ihm mit Bestimmtheit das Produkt einer männlichen Phantasie erkannte. Was bekanntlich nicht stimmte, obwohl sich Anne Desclos alias Dominique Aury erst 1994 als alte Dame ganz offiziell als Autorin zu erkennen gab (und dabei Amüsantes zu erzählen hatte).
Erstaunlich ist, wie lange das Pseudonym hielt, und aufschlussreich ist überhaupt manches an der Geschichte der "Geschichte der O", die nicht nur in Frankreich Epoche machte. Eine erste englische Ausgabe kam noch im gleichen Jahr in der in Paris ansässigen Olympia Press heraus (wo im Jahr darauf auch Nabokovs "Lolita" Unterschlupf fand). Doch bis zu einer ersten deutschen Ausgabe brauchte es, trotz des Erfolgs des Buchs, ziemlich lange.
Wie es zu ihr kam, kann man nun auch in den Lebenserinnerungen von Joseph Melzer nachlesen, in dessen Verlag sie 1967 erschien, obwohl sie dort eigentlich niemand erwarten durfte. Der Melzer Verlag war damals schließlich immer noch hauptsächlich für seine Judaica bekannt oder vielmehr zum Leidwesen seines passionierten Verlegers: über einen eher kleinen Kreis von Kennern und Käufern hinaus kaum bekannt.
Melzers Erinnerungen erscheinen, herausgegeben von seinem Sohn, über drei Jahrzehnte nach dem Ableben ihres Autors, der, an Krebs erkrankt, seinen Tod vor Augen hatte, als er sie niederschrieb. Damals war er nicht mehr Verleger, sondern wieder Antiquar, wie ziemlich am Anfang seiner Berufslaufbahn. Einer Laufbahn, in der es allerdings bis in die späten vierziger Jahre keine berufliche wie existentielle Normalität gegeben hatte, denn geprägt wurde sie von der Gewaltgeschichte des vorigen Jahrhunderts.
Geboren 1907 in einem ostgalizischen Städtchen, muss er 1914 das erste Mal mit seiner Familie flüchten. Zwei Jahre nach Kriegsende führt ihn der Weg schließlich nach Berlin, wo er in einer zionistischen Buchgroßhandlung, später in der jüdischen Arbeiterbuchhandlung das Metier lernt. Noch später arbeitet er in Antiquariaten, gibt 1931 auch ein halbes Jahr lang eine "Freie Jüdische Monatsschrift" heraus und flüchtet 1933, ausgestattet mit Agenden als Verlagsreisender, nach Wien, um von dort aus zum ersten Mal nach Palästina aufzubrechen.
Doch dort, wo er wieder als Buchhändler sein Auskommen sucht, nimmt er immer mehr Anstoß - dieses Thema durchzieht die Erinnerungen - an der Verdrängung der Araber durch die zionistische Bewegung. 1936 kehrt er nach Europa zurück, baut sich in Paris eine Existenz als Antiquar auf - begünstigt durch einen äußerst günstig erworbenen Schatz von hebräischen Büchern -, die dann mit dem Kriegsausbruch wieder zerstört wird.
Der nunmehr knapp dreißigjährige Melzer befindet sich da gerade, weil es die Verlängerung seines polnischen Passes unumgänglich machte, in Warschau. "Die Falle war zugeschnappt", und die nächste Flucht, auf sowjetisches Gebiet, führt nicht in die Freiheit, sondern in ein sibirisches Arbeitslager, aus dem er erst 1941 wieder freikommt, um sich in elenden Verhältnissen bis zum Kriegsende durchzuschlagen. 1948 schließlich, nach dem Aufenthalt in verschiedenen Lagern für "displaced persons", unterdessen mit Frau und Kindern, geht er wieder nach Palästina und bleibt dort bei seinem Metier.
Im Jahr 1958 kehrt er doch nach Deutschland zurück. Mit einer Entschädigung für das in Paris 1940 beschlagnahmte Bücherlager wird in Köln der später nach Darmstadt verlegte Melzer Verlag gegründet. Und knapp ein Jahrzehnt darauf ist dort neben Hermann Cohen und Martin Buber, aber mittlerweile auch LeRoi Jones, Jack Kerouac, und den wie Blei das Lager füllenden Bänden einer Gesamtausgabe von Ludwig Börne, die "Geschichte der O" im Programm.
Ein Kuriosum, aber ein bezeichnendes. Auch deshalb, weil gar nicht der grundsolide Melzer auf die Idee kam, auf diese Weise vielleicht den drohenden Konkurs abzuwenden, indem man die schon vorliegende Übersetzung von einem anderen Verlag übernahm, dem die Sache - Deutschland in den Sechzigern - zu heikel geworden war. Die Idee hatte vielmehr sein sehr beweglicher Geschäftsführer Jörg Schröder (dem sich Autoren wie Kerouac und LeRoi Jones im Programm verdankten). Er setzte später noch auf die Querfinanzierung eines literarisch wie politisch engagierten Programms mit Erotika, wenn auch nicht mehr mit so beispielgebendem Erfolg.
Denn diese Rettungsaktion ging auf, nachdem die Verkäufe durch eine Rezension im "Spiegel" - unter dem Titel "O, la la" - in Fahrt gekommen waren. Der voriges Jahr verstorbene Schröder schrieb in seinem eigenen Bericht von diesen Jahren, Aurys Buch hätte der Erotikwelle in Deutschland den Weg gebahnt. Also nicht erst das einschlägige Segment der Olympia Press, das er im Rausch des Erfolgs zuerst für Melzer übernehmen wollte, um es dann als Finanzierungsinstrument für den 1969 von ihm gegründeten März Verlag zu benutzen, was allerdings nicht aufging.
In der nun erschienenen Autobiographie kann man Melzers Sicht auf Schröders geschickte, wenn auch nicht besonders langlebige Neugründung zu Lasten seines eigenen Verlags nachlesen. Und die damit berührte unabhängige Verlagsszene, die damals erstaunliche Programme auf die Beine stellte, den Konkurs meist im Genick und mit den Feinheiten des "Modernen Antiquariats", vulgo des Verramschens, notwendigerweise gut vertraut, hat einiges an Einsichten zu bieten.
Da mitzuspielen war Melzer allerdings nicht gegeben, der den Verlag an den Sohn abgab - der sich mehr schlecht als recht durchschlug, bevor er als eigenständiger Verleger aufgab - und zum Antiquariatsgeschäft zurückkehrte. Es war wohl das neunte der Leben, von dem der Titel dieses gegen die Zeit geschriebenen Lebensrückblicks spricht, der nicht nur durch Katastrophen des vorigen Jahrhunderts führt, sondern auch durch schon historisch gewordene Bücherwelten.
Joseph Melzer: "Ich habe neun Leben gelebt". Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert.
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2021. 336 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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