Nichts trifft Viel Jecinta, 15, unauffällig, angepasst, kein Alleinstellungsmerkmal, das mittlere Kind, Eltern aus zwei Kontinenten, Afrobeat und Deutschrap, weder glücklich noch unglücklich, Kleidung am liebsten unisex, keine Klimaaktivistin aber gegen Plastikflaschen, kurz: ein einziges Dazwischen. So kann das nicht weitergehen. Wenn sich schon nichts im Leben tut, dann gleich ordentlich nichts. So lautet der Entschluss, selbst der Name muss dran glauben, wird zu einem Buchstaben verkürzt. J., englisch Jay also. Als Nichts tut sich auch nicht viel mehr im Leben, bis auf ein paar anstrengende Gespräche mit Eltern und Lehrenden. Aber mit einer knallgelben Jacke und einer Person darin, die seit Kurzem in der Klasse ist, ändert sich alles: Leo, kurz für Leonie. Eine Person, die überallhin zu passen scheint, die bestimmte Fragen stellt und andere nicht, die in der einen Situation erschrickt und in einer ähnlichen ein anderes Mal nicht. Eine Person, die Vieles in sich zu vereinen scheint – und dies auch tatsächlich tut, in einer WG lebt, Betreuer:innen hat, so einiges schon erlebt und überlebt hat. Ein Nichts trifft also auf ein Viel. Währenddessen zerbröselt zuhause ein für immer fix geglaubtes Gefüge – Trennung der Eltern, die ältere Schwester verkrümelt sich, der jüngere Bruder versucht auf seine Art, damit klarzukommen. Aus Nichts wird also Viel. Ein intensiver Jugendroman über Identität, Gemeinschaft, Familienfragen, Freundschaft und Liebe. Stell dir vor, du holst die Sterne vom Himmel und dann weißt du nicht, was du mit ihnen machen sollst
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Roswitha Budeus-Budde scheint selbst als erwachsene Frau die ungewöhnliche Entscheidung von Lilly Axsters ungewöhnlicher Heldin nachvollziehen zu können - weil Axster sie nachvollziehbar macht. Vor allem Jugendliche, glaubt Budeus-Budde, werden in der trotzigen Konsequenz, die Jecinta aus ihren Erfahrungen zieht, ihre eigenen Sehnsüchte wiederfinden. Es sind dies Erfahrungen mit der Familie, in der Schule, die Jecinta zu ihrer Entscheidung führen. Sie fühlt sich übersehen. Aber es ist auch die "hyperindividualisierte Gesellschaft" im Allgemeinen - der Druck, etwas Besonderes zu sein, dem Jecinta sich verweigert, indem sie beschließt, ein Niemand zu sein. Dann jedoch taucht die rätselhafte Leo in Jecintas Klasse auf und gibt Jay neuen Mut, ein "Jemand", heißt erwachsen zu werden. Dass Axster eigentlich aus dem Theater kommt, merkt man ihrem Roman an - auf positive Weise, findet die Rezensentin. Vor allem in ihrer Sprache ist Axster experimentierfreudig, was diesen Roman zu einem ganz besonderen Lesevergnügen macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2024Alles auf null
In ihrem Jugendroman „Ich sage Hallo und dann NICHTS“ erzählt Lilly Axster von der Totalverweigerung einer 14-Jährigen.
Jeden Morgen die gleiche Szene beim Frühstück. Kim, die große Schwester, und Cliff, der kleine Bruder, haben die Aufmerksamkeit der Mutter. Nur sie, Jecinta, 14 Jahre alt und die scheinbar Pflegeleichte, Angepasste, die keine Probleme macht, sitzt stumm dazwischen. Wie zwischen den Kulturen ihrer Eltern, die von zwei Kontinenten stammen. Jecinta fühlt sich nur genervt von den Fragen der Schwester, wann es endlich bei ihr losgeht – sie meint die monatliche Periode –, und auch von den Kommentaren der Eltern: „Kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen.“
Es muss sich etwas ändern, findet Jecinta. Als sie sich in der Schule auch von ihrer besten Freundin vernachlässigt fühlt, beschließt sie, nun wirklich zu jenem Nichts zu werden, das alle anderen offenbar in ihr sehen. Sie räumt ihren Kleiderschrank aus, wirft ihre angesagten Jeans weg, sucht sich Kleidung aus der Altkleidertonne, geht nicht mehr in die Schule, nennt sich nur noch „J“, also „Jay“. Ihre Eltern verzweifeln.
Jays Projekt ist radikal, die absolute Negation von allem, was eine hyperindividualisierte Gesellschaft mit ihrem Originalitätsanspruch an jeden und jede ausmacht: „Sei du selbst! Du bist etwas Besonderes!“ Jay spielt da nicht mehr mit. Sie setzt ihre Identität, ihr Leben auf null. Vielleicht auch, um noch einmal ganz neu anfangen zu können mit der Ich-Werdung, die Jugend bedeutet. In diesem harten „Nein“ zu all dem Druck, der damit einhergeht, wenn man zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden will, werden viele jugendliche Leser ihre eigene Sehnsucht wiedererkennen, einfach nicht mehr mitzuspielen.
Lilly Axster setzt als originelles Spannungselement immer wieder To-do-Listen ein, für die Jay eine Vorliebe pflegt. Wie in einem Storybook führen sie als literarische Wegweiser durch die Handlung und durch das Gefühlschaos des Mädchens. Eine dieser Listen liest sich so: „NICHTS = 100 % Zufallskleidung / Drüberstehen / Freiheit / Kein Druck / No jeans / No label / Nie mehr (?) Hausaufgaben machen / Nicht auf Z warten / Nichts Besonderes mehr mögen (Pommes ???)“.
Lilly Axster ist als Theaterautorin bekannt geworden, ihre besondere Sprache im Jugendbuch rührt hörbar von der Arbeit für die Bühne. Sie ist unkonventionell und experimentell, und manches Problem wird mit Nonsens nur angedeutet in den kurzen, pointierten Auftritten der Protagonisten.
Aber um Nonsens geht es hier überhaupt nicht. Lily Axster, 2023 mit dem österreichischen Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet, engagiert sich neben ihrem Schreiben gegen sexualisierte Gewalt an jungen Menschen und für den Schutz davor. Um das Thema kreist auch oft ihr Werk. Und auch, wenn es nie explizit gemacht wird – es schwingt mit in den Gesprächen zwischen Jay und Leo.
Leo, eigentlich Leonie, erscheint plötzlich neu in der Klasse, ein rätselhaftes Wesen, das Jay verwirrt und anzieht. Zusammen schwänzen die Mädchen die Schule, streunen durch die Stadt, Aktionen, an die sich Leo am nächsten Tag nicht mehr erinnert. Als wäre Jay mit einer anderen Person unterwegs gewesen.
Es dauert eine Zeit, bis Jay erfährt, dass sie in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft lebt und unter einer Persönlichkeitsstörung leidet. Aber diese schwierige Freundschaft bleibt, auch als Leo in die Psychiatrie kommt und Jay sie oft besucht. Leo hilft ihr, ihr Nichts zu verlassen, und damit auch die Angst zu verlieren, erwachsen zu werden.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Lilly Axster:
Ich sage Hallo und dann NICHTS.
Tyrolia Verlag,
Innsbruck 2023.
200 Seiten, 18 Euro.
Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Jugendroman „Ich sage Hallo und dann NICHTS“ erzählt Lilly Axster von der Totalverweigerung einer 14-Jährigen.
Jeden Morgen die gleiche Szene beim Frühstück. Kim, die große Schwester, und Cliff, der kleine Bruder, haben die Aufmerksamkeit der Mutter. Nur sie, Jecinta, 14 Jahre alt und die scheinbar Pflegeleichte, Angepasste, die keine Probleme macht, sitzt stumm dazwischen. Wie zwischen den Kulturen ihrer Eltern, die von zwei Kontinenten stammen. Jecinta fühlt sich nur genervt von den Fragen der Schwester, wann es endlich bei ihr losgeht – sie meint die monatliche Periode –, und auch von den Kommentaren der Eltern: „Kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen.“
Es muss sich etwas ändern, findet Jecinta. Als sie sich in der Schule auch von ihrer besten Freundin vernachlässigt fühlt, beschließt sie, nun wirklich zu jenem Nichts zu werden, das alle anderen offenbar in ihr sehen. Sie räumt ihren Kleiderschrank aus, wirft ihre angesagten Jeans weg, sucht sich Kleidung aus der Altkleidertonne, geht nicht mehr in die Schule, nennt sich nur noch „J“, also „Jay“. Ihre Eltern verzweifeln.
Jays Projekt ist radikal, die absolute Negation von allem, was eine hyperindividualisierte Gesellschaft mit ihrem Originalitätsanspruch an jeden und jede ausmacht: „Sei du selbst! Du bist etwas Besonderes!“ Jay spielt da nicht mehr mit. Sie setzt ihre Identität, ihr Leben auf null. Vielleicht auch, um noch einmal ganz neu anfangen zu können mit der Ich-Werdung, die Jugend bedeutet. In diesem harten „Nein“ zu all dem Druck, der damit einhergeht, wenn man zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden will, werden viele jugendliche Leser ihre eigene Sehnsucht wiedererkennen, einfach nicht mehr mitzuspielen.
Lilly Axster setzt als originelles Spannungselement immer wieder To-do-Listen ein, für die Jay eine Vorliebe pflegt. Wie in einem Storybook führen sie als literarische Wegweiser durch die Handlung und durch das Gefühlschaos des Mädchens. Eine dieser Listen liest sich so: „NICHTS = 100 % Zufallskleidung / Drüberstehen / Freiheit / Kein Druck / No jeans / No label / Nie mehr (?) Hausaufgaben machen / Nicht auf Z warten / Nichts Besonderes mehr mögen (Pommes ???)“.
Lilly Axster ist als Theaterautorin bekannt geworden, ihre besondere Sprache im Jugendbuch rührt hörbar von der Arbeit für die Bühne. Sie ist unkonventionell und experimentell, und manches Problem wird mit Nonsens nur angedeutet in den kurzen, pointierten Auftritten der Protagonisten.
Aber um Nonsens geht es hier überhaupt nicht. Lily Axster, 2023 mit dem österreichischen Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet, engagiert sich neben ihrem Schreiben gegen sexualisierte Gewalt an jungen Menschen und für den Schutz davor. Um das Thema kreist auch oft ihr Werk. Und auch, wenn es nie explizit gemacht wird – es schwingt mit in den Gesprächen zwischen Jay und Leo.
Leo, eigentlich Leonie, erscheint plötzlich neu in der Klasse, ein rätselhaftes Wesen, das Jay verwirrt und anzieht. Zusammen schwänzen die Mädchen die Schule, streunen durch die Stadt, Aktionen, an die sich Leo am nächsten Tag nicht mehr erinnert. Als wäre Jay mit einer anderen Person unterwegs gewesen.
Es dauert eine Zeit, bis Jay erfährt, dass sie in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft lebt und unter einer Persönlichkeitsstörung leidet. Aber diese schwierige Freundschaft bleibt, auch als Leo in die Psychiatrie kommt und Jay sie oft besucht. Leo hilft ihr, ihr Nichts zu verlassen, und damit auch die Angst zu verlieren, erwachsen zu werden.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Lilly Axster:
Ich sage Hallo und dann NICHTS.
Tyrolia Verlag,
Innsbruck 2023.
200 Seiten, 18 Euro.
Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Im Gespräch von Deutschlandfunk-Moderatorin Ute Wegmann und 3sat-Kulturzeit-Redakteur Michael Schmitt wird das Buch ganz wunderbar vorgestellt und analysiert (ab min. 11:30): https://www.deutschlandfunk.de/die-besten-7-im-september-dlf-9d3fbb96-100.html