»Kaum mit Worten zu sagen, wie überragend gut dieses Buch ist.« Washington Post
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Vivian Gornicks ebenso hellsichtige wie ermutigende Memoiren "Ich und meine Mutter"
Vivian und ihre Mutter gehen spazieren. Sie laufen und laufen und laufen, sie durchkämmen New York und ihr vergangenes Leben. "Erinnerst du dich?", fragt die eine die andere, und schon sind sie und die Lesenden mittendrin im New York der vierziger und fünfziger Jahre. In einem Haus in der Bronx, einem Haus voller Migranten, einem "Haus voller Frauen".
"Ich und meine Mutter" heißen die Memoiren der New Yorker Schriftstellerin und Journalistin Vivian Gornick auf Deutsch. 1935 geboren und als Jüdin in der Bronx aufgewachsen, beschreibt Gornick darin den lebhaften Alltag ihrer Kindheit, in dem Männer zwar am Rande auftauchen, aber eigentlich keine Rolle spielen. Viel prägender ist dagegen die eine Beziehung in ihrem Leben, deren Natur "Fierce Attachments", der Titel der Originalausgabe, so genau beschreibt: das komplizierte, konfliktbeladene Verhältnis zu ihrer Mutter. Wie zwei sich lieben und hassen zugleich, sich verletzen und abkapseln, ohne je ganz voneinander loszukommen.
Die Mutter ist eine selbstbewusste Frau, die stets arbeiten wollte, ihrem Mann zuliebe aber darauf verzichtet, bis dieser stirbt und sie die Familie versorgen muss. Die Tochter ist eine Feministin, die nicht verstehen kann, warum ihre Mutter die Ehe idealisiert. Gemeinsam symbolisieren sie die beiden Pole, zwischen denen Frauen sich zumindest lange Zeit immer wieder entscheiden mussten: Familie und Beruf. Was die eine nicht hat, hat die andere. Und obwohl die Mutter es kaum erträgt, ihre Tochter alleinstehend zu sehen, ist ihr deren Bildung doch wichtig. Dem Onkel, der sich darüber wundert, warum Vivian, eine Frau aus der Arbeiterklasse, denn bitte aufs College gehen soll, erklärt sie resolut: "Junge Mädchen sind keine Kühe auf der Weide, die nur darauf warten, dass ein Bulle sie bespringt."
Die direkte Art der Mutter ist lebhaft und einzigartig. Und doch wird genau diese Eigenschaft für Vivian oft zur Qual. Als der Vater stirbt, vergeht die Mutter vor Schmerz. Dass auch ihre Tochter mit diesem Verlust umgehen muss, ist ihr gleich, und anstatt sich mit ihr zu verbünden, greift sie sie an: "Du bist nicht die Richtige. Du kannst mir weder Trost noch Heilung bringen. Aber du bist meine nächste Angehörige. Es ist deine ausdrückliche Pflicht zu verstehen, es ist dein Schicksal, mit der täglichen Gewissheit zu leben, dass du nicht dazu taugst, mir über den Verlust in meinem Leben hinwegzuhelfen." Die Tochter ist allerdings nicht weniger zimperlich. So unerbittlich streiten sich die beiden, dass Vivian eines Nachmittags denkt: "Eine von uns beiden wird an dieser Beziehung zugrunde gehen." So kommt es dann aber doch nicht, und sie spazieren und streiten weiter, sie erinnern sich: "Ich bin jetzt das Archiv deines Lebens, Ma."
Schon 1987 ist "Ich und meine Mutter" in den Vereinigten Staaten erschienen und gilt dort als Klassiker des Feminismus. Beim Lesen wundert man sich zuweilen, wie wenig das Buch gealtert ist. Das liegt sicher an Gornicks wunderbarer Erzählweise, mit der sie das, was zwischen zwei Menschen, einer Mutter und einer Tochter, aber auch einem Mann und einer Frau passieren kann, treffend beschreibt. Vielleicht aber auch daran, dass viele der Konflikte zeitlos oder immer noch aktuell sind. Nein, Frauen, die arbeiten gehen, sind nicht mehr ",neu', ,emanzipiert' oder ,exzentrisch'", Frauen, die lieber allein sind, anstatt in einer Beziehung zu leben, vielleicht schon. "Du interessierst dich wirklich bemerkenswert wenig für Männer", bekommt Vivian einmal von einem Freund zu hören, der ehrlich verwundert ist. Ob das nun stimmt oder nicht - sie weiß es selbst nicht.
Im Vergleich zu ihrer Mutter liebt Vivian nicht den einen, dem sie den Rest ihres Lebens nachtrauert. Verliebt ist sie manchmal trotzdem. Ihre Erfahrungen mit Männern sind oft schmerzhaft, teilweise grotesk - und sehr, sehr lustig. "Ich bin das Universum!", sagt der eine und rät ihr, Kinder mit ihm zu bekommen, denn die würden dann "männlich sein, stark, Dichter und Musiker, voller Würde und Anmut". Der andere sprengt Konversationen gern mit endlosen Monologen und ist überzeugt, besser zu wissen, was sein Gegenüber will: ",Doch, du möchtest', gab Joe zurück, ,du traust dich nur nicht.'" Mansplaining mag ein neuer Begriff sein, ein neues Phänomen ist es nicht.
Vielleicht auch deshalb bezeichnete die Zeitschrift "The New Yorker" Vivian Gornick einmal als "feministisches Orakel". Nahm doch "Ich und meine Mutter" schon in den achtziger Jahren viele Themen vorweg, die uns heute beschäftigen. Aber nicht nur in dieser Hinsicht sind Gornicks Erinnerungen ein lohnendes Buch. Es ist auch ein Buch über Beziehungen, ein Buch über das Schreiben und nicht zuletzt ein Buch über New York, die Stadt, die Vivian und ihre Mutter immer wieder durchstreifen.
ANNA VOLLMER
Vivian Gornick:
"Ich und meine Mutter".
Aus dem Englischen von
pociao. Penguin Verlag,
München 2019. 224 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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