Die autonome Kunst der Moderne setzte auf Differenzerfahrung: das Kunstwerk als das Andere, Außeralltägliche, das verwirrt, aufrüttelt und bestenfalls zu Korrekturen am Entwurf von Selbst und Gesellschaft anregt. Doch in den letzten Jahren haben neue Formen des Umgangs mit Kunst international an Dominanz gewonnen: Viele Betrachter erwarten Verbindendes und Gemeinschaftsbildendes. Sie wünschen sich Bestärkung und Unterstützung, kurz: Identifikation und Empowerment. Immer häufiger verknüpft sich Kunst mit politischen, aktivistischen und auch konsumistischen Anliegen. Wird die Kunst so zum bloßen Energieriegel für den leichten Verzehr zwischendurch – oder doch zur Wegbereiterin einer gerechteren Gesellschaft? Und wer verteidigt noch die Autonomie der Kunst? Wolfgang Ullrich schärft das post-autonome Profil und führt die historisch vielleicht gar nicht so neue Kunst an die Triggerpunkte des gesellschaftlichen Diskurses: Debatten um die Documenta und kulturelle Aneignung, den Protest der Letzten Generation und die Sozialen Medien im Spannungsfeld von Bekenntnisdrang und Polarisierung.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen hochinteressanten kunsttheoretischen Entwurf legt Wolfgang Ullrich laut Rezensent Haziran Zeller in seinem neuen Buch vor. Großkünstlern wie Jeff Koons und Aktivistinnen wie dem Pussyhat-Kollektiv ist laut Ullrich gemein, dass ihre Kunst dem Publikum Identifikationsangebote macht und vom Betrachter keine Veränderungen erwarten. Was dabei verloren geht, ist der kritische Impetus von Kunst, womit die Argumentation an Moritz Baslers Rede von "Midcult" in der Gegenwartsliteratur anschließt, liest der Kritiker. Ullrichs Argument ist allerdings ambivalenter und komplizierter, stellt Zeller dar, da er einerseits die Geschichte des Begriffs Empowerment nachzeichnet, das einst auf kollektive Ermächtigung zielte, dann nur noch auf Selbstoptimierung, und inzwischen doch wieder auf Gruppenidentitäten. Andererseits legt das Buch dar, wie Kunst schon in früheren Zeiten mit Identifikationsprozessen zusammenhing, die mit Machtinteressen zu tun hatten, erfährt Zeller. Damit kommt eine politische Dimension ins Spiel, die abschließend die Frage stellt, ob der Unterschied zwischen autonomer Kunst und Affirmationskunst, wie Ullrich sie fasst, nicht im nächsten Schritt noch einmal anders, nämlich als eine "Theorie der Befreiung" diskutiert werden müsste, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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