„Was für eine gnadenlos witzige Identitätssuche, die nichts und niemanden schont. Man ist nach der Lektüre nicht bloß schlauer – sondern auch garantiert besser gelaunt.“ (Alina Bronsky)
Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit eine Jagd nach „echter“ Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendem Wissen. Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.
Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit eine Jagd nach „echter“ Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendem Wissen. Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch hat dieses Buch sehr gerne gelesen und sich an dieser Mischung aus Fakten und Fiktion gelabt, die sie "angenehm unbefangen" ausgeführt findet. Sehr überzeugt hat sie außerdem die Fiktion der Identität, wie sie die Autorin auch in anderen Zusammenhängen kritisiert hat, hier aufs Glatteis geführt anhand der Hauptfigur einer den Identitätsdiskurs jeder Minderheit brillant beherrschenden Professorin. Der begeisterten Kritikerin gefällt, dass sich hier eine "engagierte Literatur" zeigt, die zudem äußerst witzig und unterhaltsam ist: "Eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs" urteilt die hingerissene Kritikerin, die höchstens ein paar Längen genervt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2021Unangreifbar bleiben
Eine antirassistische Starprofessorin hat ihre weiße Herkunft
unterschlagen: Mithu Sanyals Romandebüt „Identitti“
VON TOBIAS KNIEBE
Das wichtigste Gefühl stellt sich hier früh und fast wie nebenbei ein, noch lange bevor irgendetwas Dramatisches passiert. Die Studentin Nivedita kommt gerade mit dem Zug in Düsseldorf an. Auf dem Bahnhofsvorplatz begrüßt sie ein warmer Nieselregen, und „hinter den Wolken räusperte sich ein kleinlauter Donner“. Dieser kleinlaute Donner, man mag ihn sofort, und man würde ihn gern ermutigen, ein bisschen mehr die Sau rauszulassen. Vor allem aber mag man dann auch gleich die Erzählerin, der man sich hier
anvertraut.
Nivedita, indischer Vater, deutsche Mutter, ist auf Twitter und ihrem Blog, wo sie zu Fragen von Feminismus und Identitätspolitik Stellung nimmt, unter dem Kampfnamen „Identitti“ bekannt. Sie wohnt in Düsseldorf-Oberbilk und studiert an der Heinrich-Heine-Universität, im Masterstudiengang Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie. Den indischen Vater, die Alma Mater, die Leidenschaft für Identitätspolitik und für den Stadtteil Oberbilk teilt sie mit ihrer Schöpferin Mithu Sanyal. Die ist Autorin für viele Medien, vom WDR über die taz bis zur Londoner Tageszeitung The Guardian. Ihre kulturwissenschaftlichen Sachbücher „Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ fanden große Beachtung.
In diesem Romandebüt geht es nun aber weniger ernst und sachlich zu, wie das etwas albern klingende „Identitti“ im Titel schon erfolgreich signalisiert. Nivedita führt zum Beispiel gern imaginäre Gespräche mit einer gewissen Kali und dokumentiert diese dann in ihrem Blog. Kali wird vorgestellt als „indische Göttin mit zu vielen Armen und einer Kette aus den abgerissenen Köpfen ihrer Feinde“, die bei genauerem Hinsehen alle Männer sind. Sie sagt Dinge wie: „Lass uns um die Wette ejakulieren. Wer am weitesten spritzt, hat gewonnen.“ Es geht also auch um Sex, wenn auch wirklich nur am Rande.
Sehr viel mehr geht es um ein Grundgefühl, das Nivedita seit ihrer Kindheit verfolgt und nie ganz loslässt – keinen Platz in der Gesellschaft zu haben, in der sie lebt. Nicht wirklich deutsch zu sein, aber auch nicht indisch genug, um sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Eine Schlüsselszene handelt etwa davon, wie Nivedita als Achtjährige bei ihrer Cousine in Birmingham zu Besuch ist und von den anderen Kindern indischer Eltern in der Straße als „Coconut“ ausgelacht wird, bis sie mit einer Glasscherbe in die Haut schneidet, um zu beweisen, dass sie innen genauso rot ist wie alle anderen.
Von diesem Leid wird Nivedita erst im Studium befreit, von eine Frau, die nicht nur eine berühmte, gefeierte und gefürchtete Professorin indischer Herkunft ist, sondern auch Ersatzmutter und Erlöserinnenfigur. Sie nennt sich Saraswati, nach der hinduistischen Göttin für Weisheit, einen bürgerlichen Namen braucht sie nicht. Als Autorin des Bestsellers „Decolonize your Soul“ ist sie der Star von Talkshows und Podiumsdiskussionen, selbst international weist sie Gegner wie Jordan Peterson in die Schranken. Ihre Studentinnen und Studenten, die allesamt People of Color sind – Weiße werden schon vom ersten Proseminar demonstrativ ausgeschlossen – lockt sie mit Charme und Empathie in eine verschworene Gemeinschaft. Und niemand ist enger an sie gebunden als Nivedita, ihre Lieblingsschülerin.
Ein sorgfältig konstruiertes Set-up, damit die angekündigte Bombe umso heftiger explodieren kann. Denn schon bald wird Saraswati als Schwindlerin enttarnt: Sie heißt eigentlich Sarah Vera Thielmann und stammt aus einer Zahnarztfamilie in Karlsruhe, ihre verstorbenen Eltern waren beide weiß und sehr deutsch. Nach dem Studium in Indien und vor dem ersten postkolonialen Bestseller – geleakte Fotos beweisen es – unterzog sie sich einer Hormonbehandlung für den Hautton und einem chirurgischen Eingriff für ihre majestätischen Augenlider. Twitter tobt, fassungslose und wütende Studenten demonstrieren, der Fall macht weltweit Schlagzeilen, und Nivedita ist im Innersten getroffen: Verraten von der Frau, der sie im Leben im meisten verdankt, und aufs Neue zurückgeworfen in ein Chaos der Identitäten.
Der Shitstorm-Aspekt des Buches funktioniert nun sehr gut. Mithu Sanyal hat selbst schon ein paar Stürme im Netz überstanden und auf Twitter viele Schlachten geschlagen. So hat sie nun Twitter-Freunde, Sparringspartner und Kritiker gebeten, den Fall Saraswati wie ein reales Ereignis zu behandeln und in Form von kommentierenden Tweets zu begleiten, die eingestreut werden wie ein griechischer Chor. Fatma Aydemir, Patrick Bahners, Meredith Haaf, Fatima Kahn, Ijoma Mangold, Jacinta Nandi, Ruprecht Polenz, Jörg Scheller, Hilal Sezgin, Minh Thu Tran, Hengameh Yaghoobifarah und viele weitere haben mitgemacht, nur wirkliche Hass-Kommentare sind fiktiven Sprechern zugeordnet. Das fühlt sich alles sehr echt an.
Und ganz absurd ist das Szenario des Romans ja wirklich nicht: Es erinnert an den Fall Rachel Dolezal in den USA, die 2015 ihre Posten als scheinbar afroamerikanische Bürgerrechtsaktivistin und Lehrbeauftragte räumen musste, als herauskam, dass ihre Eltern beide weiß waren. Im vergangenen September folgte die Entlassung von Jessica Krug, einer weißen Professorin an der George Washington University, die sich ihre ganze Karriere lang als Afrolatina „Jess La Bombera“ ausgegeben hatte. Und im Dezember kam heraus, dass die kanadische Regisseurin Michelle Latimer mit einer nur imaginierten Identität als Native American über Jahrzehnte hinweg Regieaufträge und Stipendien abgegriffen hatte, mit denen eigentlich den Nachfahren kanadischer Ureinwohner eine Stimme gegeben werden sollte.
Großes Entsetzen, Kündigung, Ächtung – angesichts der Folgen, die man real erlebt hat, geht der Roman mit seiner Übeltäterin nun aber äußerst milde um. Die empathische Nivedita beschließt, auf Twitter erst einmal zu schweigen und ihre Professorin persönlich zur Rede zu stellen. Was auch kein Problem ist, denn diese öffnet ihr willig die Tür zur Penthouse-Wohnung und gleich auch das Gästezimmer. Während draußen der Shitstorm tobt und Sprechchöre hallen, findet drinnen eine tagelange intime Diskussion in größter Sommerhitze statt.
Zur ihrer Verteidigung beginnt Saraswati erst einmal, die Konzepte von „race“ und „gender“ und einer an den Körper gebundenen Identität in der Luft zu zerpflücken, munitioniert mit allen berühmten Gewährsfrauen und -männern des Diskurses. Damit ist sie recht überzeugend, „Identitti“ will klüger sein als der nächstliegende, essentialistische Aufschrei der Empörung. Außerdem kann Saraswati darauf verweisen, dass sie die Welt für People of Color ganz real verbessert hat, was in der Sichtweise von Theoretikern wie Ibram X. Kendi sowieso die einzig valide Definition von Antirassismus ist.
Weiterhin rechtfertig sich die Enttarnte damit, bereits in den Neunzigerjahren „konvertiert“ zu sein, als das noch keine akademischen Vorteile versprach, und die Postcolonial Studies mit ihrer Eloquenz und Brillanz in Deutschland erst etabliert zu haben. Wäre sie eine reale Figur, ließen sich auch diese Argumente nicht so leicht vom Tisch wischen. Sie ist aber halt doch ein Konstrukt ihrer Autorin – sorgfältig entworfen, um trotz ihrer Lüge fast unangreifbar zu sein. Und da stellt sich dann die große Warum-Frage: Warum erfindet man im Jahr 2021 eine Protagonistin weißer Herkunft, die alles darf und allen anderen so überlegen ist, dass sie über Hunderte Seiten das letzte Wort hat, sich sogar nach der Erfahrung von Diskriminierung sehnt und nie einen Fehler eingestehen will?
Mithu Sanyal weiß natürlich selbst, dass derart besserwisserisch-dominante Charaktere Aversionen auslösen, egal welche Hautfarbe sie haben. In der gewählten Konstellation ist es besonders schwer zu ertragen, aber sie zieht es trotzdem unerschrocken durch. Der Grund könnte ironisch und auch ein bisschen frivol sein, eine Demonstration der Stärke – weil sie es als Autorin of Color, die mit allen Wassern des Diskurses gewaschen ist, eben kann. Wahrscheinlicher aber ist, dass sie ihr Publikum durch eine Art Exerzitium schicken will, an dessen Ende ein neues Gefühl von Einheit und eine kathartische Erkenntnis steht: Dass der progressive Teil der Gesellschaft einfach besser zusammenhalten sollte – zum Beispiel gegen den rechten Terror in Deutschland, der ganz real Menschenleben kostet.
Weiße werden
schon vom ersten Proseminar
demonstrativ ausgeschlossen
Sie stürzt den
deutschen Identitätsdiskurs
ins Chaos
Mithu M. Sanyal:
Identitti.
Roman Hanser,
München 2021.
432 Seiten, 22 Euro.
Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf-Oberbilk geboren. „Identitti“ ist ihr erster Roman.
Foto: Guido Schiefer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine antirassistische Starprofessorin hat ihre weiße Herkunft
unterschlagen: Mithu Sanyals Romandebüt „Identitti“
VON TOBIAS KNIEBE
Das wichtigste Gefühl stellt sich hier früh und fast wie nebenbei ein, noch lange bevor irgendetwas Dramatisches passiert. Die Studentin Nivedita kommt gerade mit dem Zug in Düsseldorf an. Auf dem Bahnhofsvorplatz begrüßt sie ein warmer Nieselregen, und „hinter den Wolken räusperte sich ein kleinlauter Donner“. Dieser kleinlaute Donner, man mag ihn sofort, und man würde ihn gern ermutigen, ein bisschen mehr die Sau rauszulassen. Vor allem aber mag man dann auch gleich die Erzählerin, der man sich hier
anvertraut.
Nivedita, indischer Vater, deutsche Mutter, ist auf Twitter und ihrem Blog, wo sie zu Fragen von Feminismus und Identitätspolitik Stellung nimmt, unter dem Kampfnamen „Identitti“ bekannt. Sie wohnt in Düsseldorf-Oberbilk und studiert an der Heinrich-Heine-Universität, im Masterstudiengang Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie. Den indischen Vater, die Alma Mater, die Leidenschaft für Identitätspolitik und für den Stadtteil Oberbilk teilt sie mit ihrer Schöpferin Mithu Sanyal. Die ist Autorin für viele Medien, vom WDR über die taz bis zur Londoner Tageszeitung The Guardian. Ihre kulturwissenschaftlichen Sachbücher „Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ fanden große Beachtung.
In diesem Romandebüt geht es nun aber weniger ernst und sachlich zu, wie das etwas albern klingende „Identitti“ im Titel schon erfolgreich signalisiert. Nivedita führt zum Beispiel gern imaginäre Gespräche mit einer gewissen Kali und dokumentiert diese dann in ihrem Blog. Kali wird vorgestellt als „indische Göttin mit zu vielen Armen und einer Kette aus den abgerissenen Köpfen ihrer Feinde“, die bei genauerem Hinsehen alle Männer sind. Sie sagt Dinge wie: „Lass uns um die Wette ejakulieren. Wer am weitesten spritzt, hat gewonnen.“ Es geht also auch um Sex, wenn auch wirklich nur am Rande.
Sehr viel mehr geht es um ein Grundgefühl, das Nivedita seit ihrer Kindheit verfolgt und nie ganz loslässt – keinen Platz in der Gesellschaft zu haben, in der sie lebt. Nicht wirklich deutsch zu sein, aber auch nicht indisch genug, um sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Eine Schlüsselszene handelt etwa davon, wie Nivedita als Achtjährige bei ihrer Cousine in Birmingham zu Besuch ist und von den anderen Kindern indischer Eltern in der Straße als „Coconut“ ausgelacht wird, bis sie mit einer Glasscherbe in die Haut schneidet, um zu beweisen, dass sie innen genauso rot ist wie alle anderen.
Von diesem Leid wird Nivedita erst im Studium befreit, von eine Frau, die nicht nur eine berühmte, gefeierte und gefürchtete Professorin indischer Herkunft ist, sondern auch Ersatzmutter und Erlöserinnenfigur. Sie nennt sich Saraswati, nach der hinduistischen Göttin für Weisheit, einen bürgerlichen Namen braucht sie nicht. Als Autorin des Bestsellers „Decolonize your Soul“ ist sie der Star von Talkshows und Podiumsdiskussionen, selbst international weist sie Gegner wie Jordan Peterson in die Schranken. Ihre Studentinnen und Studenten, die allesamt People of Color sind – Weiße werden schon vom ersten Proseminar demonstrativ ausgeschlossen – lockt sie mit Charme und Empathie in eine verschworene Gemeinschaft. Und niemand ist enger an sie gebunden als Nivedita, ihre Lieblingsschülerin.
Ein sorgfältig konstruiertes Set-up, damit die angekündigte Bombe umso heftiger explodieren kann. Denn schon bald wird Saraswati als Schwindlerin enttarnt: Sie heißt eigentlich Sarah Vera Thielmann und stammt aus einer Zahnarztfamilie in Karlsruhe, ihre verstorbenen Eltern waren beide weiß und sehr deutsch. Nach dem Studium in Indien und vor dem ersten postkolonialen Bestseller – geleakte Fotos beweisen es – unterzog sie sich einer Hormonbehandlung für den Hautton und einem chirurgischen Eingriff für ihre majestätischen Augenlider. Twitter tobt, fassungslose und wütende Studenten demonstrieren, der Fall macht weltweit Schlagzeilen, und Nivedita ist im Innersten getroffen: Verraten von der Frau, der sie im Leben im meisten verdankt, und aufs Neue zurückgeworfen in ein Chaos der Identitäten.
Der Shitstorm-Aspekt des Buches funktioniert nun sehr gut. Mithu Sanyal hat selbst schon ein paar Stürme im Netz überstanden und auf Twitter viele Schlachten geschlagen. So hat sie nun Twitter-Freunde, Sparringspartner und Kritiker gebeten, den Fall Saraswati wie ein reales Ereignis zu behandeln und in Form von kommentierenden Tweets zu begleiten, die eingestreut werden wie ein griechischer Chor. Fatma Aydemir, Patrick Bahners, Meredith Haaf, Fatima Kahn, Ijoma Mangold, Jacinta Nandi, Ruprecht Polenz, Jörg Scheller, Hilal Sezgin, Minh Thu Tran, Hengameh Yaghoobifarah und viele weitere haben mitgemacht, nur wirkliche Hass-Kommentare sind fiktiven Sprechern zugeordnet. Das fühlt sich alles sehr echt an.
Und ganz absurd ist das Szenario des Romans ja wirklich nicht: Es erinnert an den Fall Rachel Dolezal in den USA, die 2015 ihre Posten als scheinbar afroamerikanische Bürgerrechtsaktivistin und Lehrbeauftragte räumen musste, als herauskam, dass ihre Eltern beide weiß waren. Im vergangenen September folgte die Entlassung von Jessica Krug, einer weißen Professorin an der George Washington University, die sich ihre ganze Karriere lang als Afrolatina „Jess La Bombera“ ausgegeben hatte. Und im Dezember kam heraus, dass die kanadische Regisseurin Michelle Latimer mit einer nur imaginierten Identität als Native American über Jahrzehnte hinweg Regieaufträge und Stipendien abgegriffen hatte, mit denen eigentlich den Nachfahren kanadischer Ureinwohner eine Stimme gegeben werden sollte.
Großes Entsetzen, Kündigung, Ächtung – angesichts der Folgen, die man real erlebt hat, geht der Roman mit seiner Übeltäterin nun aber äußerst milde um. Die empathische Nivedita beschließt, auf Twitter erst einmal zu schweigen und ihre Professorin persönlich zur Rede zu stellen. Was auch kein Problem ist, denn diese öffnet ihr willig die Tür zur Penthouse-Wohnung und gleich auch das Gästezimmer. Während draußen der Shitstorm tobt und Sprechchöre hallen, findet drinnen eine tagelange intime Diskussion in größter Sommerhitze statt.
Zur ihrer Verteidigung beginnt Saraswati erst einmal, die Konzepte von „race“ und „gender“ und einer an den Körper gebundenen Identität in der Luft zu zerpflücken, munitioniert mit allen berühmten Gewährsfrauen und -männern des Diskurses. Damit ist sie recht überzeugend, „Identitti“ will klüger sein als der nächstliegende, essentialistische Aufschrei der Empörung. Außerdem kann Saraswati darauf verweisen, dass sie die Welt für People of Color ganz real verbessert hat, was in der Sichtweise von Theoretikern wie Ibram X. Kendi sowieso die einzig valide Definition von Antirassismus ist.
Weiterhin rechtfertig sich die Enttarnte damit, bereits in den Neunzigerjahren „konvertiert“ zu sein, als das noch keine akademischen Vorteile versprach, und die Postcolonial Studies mit ihrer Eloquenz und Brillanz in Deutschland erst etabliert zu haben. Wäre sie eine reale Figur, ließen sich auch diese Argumente nicht so leicht vom Tisch wischen. Sie ist aber halt doch ein Konstrukt ihrer Autorin – sorgfältig entworfen, um trotz ihrer Lüge fast unangreifbar zu sein. Und da stellt sich dann die große Warum-Frage: Warum erfindet man im Jahr 2021 eine Protagonistin weißer Herkunft, die alles darf und allen anderen so überlegen ist, dass sie über Hunderte Seiten das letzte Wort hat, sich sogar nach der Erfahrung von Diskriminierung sehnt und nie einen Fehler eingestehen will?
Mithu Sanyal weiß natürlich selbst, dass derart besserwisserisch-dominante Charaktere Aversionen auslösen, egal welche Hautfarbe sie haben. In der gewählten Konstellation ist es besonders schwer zu ertragen, aber sie zieht es trotzdem unerschrocken durch. Der Grund könnte ironisch und auch ein bisschen frivol sein, eine Demonstration der Stärke – weil sie es als Autorin of Color, die mit allen Wassern des Diskurses gewaschen ist, eben kann. Wahrscheinlicher aber ist, dass sie ihr Publikum durch eine Art Exerzitium schicken will, an dessen Ende ein neues Gefühl von Einheit und eine kathartische Erkenntnis steht: Dass der progressive Teil der Gesellschaft einfach besser zusammenhalten sollte – zum Beispiel gegen den rechten Terror in Deutschland, der ganz real Menschenleben kostet.
Weiße werden
schon vom ersten Proseminar
demonstrativ ausgeschlossen
Sie stürzt den
deutschen Identitätsdiskurs
ins Chaos
Mithu M. Sanyal:
Identitti.
Roman Hanser,
München 2021.
432 Seiten, 22 Euro.
Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf-Oberbilk geboren. „Identitti“ ist ihr erster Roman.
Foto: Guido Schiefer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2021Hautfarbe? Die kann sie ändern
Mithu Sanyals Roman "Identitti" erzählt von einer Professorin, die sich auf ihren Posten manipuliert hat
"Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit", erklärt Mithu Sanyal im Nachwort zu ihrem Romandebüt mit dem programmatischen Titel "Identitti". So nennt sich die weibliche Hauptfigur des Romans, wenn sie auf den einschlägigen Internetplattformen in Sachen Sexismus und Rassismus bloggt und tweetet. Nivedita, Tochter einer Deutschen und eines Inders, ist junge Feministin mit Race-Sex-Gender-Theoriegepäck. Und das hat sie sich draufgeschafft in den Seminaren einer charismatischen Professorin für Postkoloniale Theorie an der Universität Düsseldorf. Die Lehrstuhlinhaberin mit schicker Dachgeschosswohnung in Düsseldorf-Oberbilk nennt sich leicht prätentiös nach der hinduistischen Göttin der Gelehrsamkeit: Saraswati.
Als Professorin, die sich den People of Colour (PoC) zugehörig fühlt, ist Saraswati ein Stachel im weißen Fleisch der deutschen Universität. Das macht die Autorin des fiktiven Standardwerks "Decolonize your Soul" zu einer glaubhaften Vertreterin der Erfahrungen einer Gruppe von Menschen, die hierzulande vor ähnlichen Zugehörigkeitsproblemen steht wie in anderen Ländern mit kolonialer Vergangenheit.
Saraswati setzt aus pädagogischer Überzeugung in ihren Lehrveranstaltungen auf Drastik. Sie eröffnet sie gerne mit einer Provokation. Indem sie zum Beispiel alle weißen Studenten dazu auffordert, den Vorlesungssaal wieder zu verlassen. Nachher bestellt sie die Düpierten in ihre Sprechstunde ein, um zu erörtern, welche Gefühle, Motive und Mechanismen in den jeweiligen Akteuren am Werk sind. Saraswati ist damit eine Art Performance-Intellektuelle, die den Identitätshaushalt ihrer Studierenden gehörig durcheinanderbringt. Oder eben im Falle ihrer Lieblingsstudentin Nivedita zum ersten Mal so etwas wie eine gefestigte Identität überhaupt ermöglicht.
Während ihrer Arbeit an "Identitti" hätten sich die Anschläge von Hanau ereignet, schreibt Mithu Sanyal im Nachwort ihres Romans. Sie kommen im Buch ebenso vor wie diverse lebende Personen der Zeitgeschichte von Donald Trump über den Philosophen Kwame Anthony Appiah bis zum Radiojournalisten René Aguigah: als Menschen, die sie mit realen Äußerungen zu Rassismusfragen in die erfundenen Kontexte ihres Romans einwebt. Eine Methode, die angenehm unbefangen auf der Grenze zwischen Fakt und Fiktion eine wahrerfundene Geschichte erzählt.
Der Alltag in Deutschland bestehe natürlich nicht aus schrecklichen Gewaltverbrechen, schreibt die Autorin, aber schreckliche Verbrechen wie der Anschlag von Hanau sind Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. "Deshalb ist das Schweigen darüber in der deutschsprachigen Literatur eine nicht akzeptable Leerstelle."
Es ist eine engagierte Literatur, die sich hier anschickt, diese Leerstelle zu füllen. Mithu Sanyal, die bislang vor allem als Sachbuchautorin über die Vulva und über die Diskursgeschichte der Vergewaltigung von sich reden machte, hat ein ganz eigenes Genre für ihr Anliegen gefunden: eine Mischung aus Campusroman, intellektuellem Kammerspiel, Blogosphärenplateau und Identitätspolitiksatire. Auf jeder Seite kann man mindestens dreimal laut lachen. Denn Sanyal hat ein unerhörtes Talent, sowohl die Freiheiten des auf die Spitze getriebenen Denkens als auch die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen. Reden jedenfalls können alle Figuren, die diesen Roman bewohnen, ziemlich gut. Mitunter reden sie sich um Kopf und Kragen und stellen die Wahrheit von den Füßen auf den Kopf. Aber immer reden sie so, dass es dabei lustig knallt.
Allen voran Saraswati. Mithu Sanyal zeichnet das Bild einer spektakulär verführerischen Lichtgestalt, die nicht mal über ihren eigenen Lebensskandal wirklich zu Fall zu bringen ist. Nachdem sie ihre Studenten als Person of Colour zu einer identitätspolitischen Spürtruppe aufgepäppelt hat und besonders für Nivedita eine herausragende Identifikationsfigur geworden ist, erschüttert eine Enthüllung die akademische Welt. Irgendjemand hat Fotos von Saraswati geleakt. Darauf ist eine sehr deutsch aussehende junge Frau mit heller Haut zu sehen. Sie heißt Sarah Vera Thielmann, hat deutsche Eltern und einen indischstämmigen Adoptivbruder, der sich immer zurückgesetzt gefühlt hat und sich nun im Verbund mit Niveditas kesser Cousine Priti für den Skandal um die geblackfacete Schwester verantwortlich zeichnet.
Mithu Sanyal hat den realen Fall der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die sich als Schwarze ausgab, an eine deutsche Universität übertragen. Debunking Saraswati ist das Thema ihres Romans. Die Mehrheit der Studierenden fühlt sich massiv verraten. Die PoC-Community schäumt vor Wut. Die Universität denkt über die Suspendierung von Saraswatis Arbeitsvertrag nach. Eigentlich möchte man nur noch im Erdboden versinken. Doch Saraswati wäre nicht Saraswati, wenn sie es nicht auch noch verstünde, ihre gefakte Authentizität zum Teil des Lehrplans zu machen. Sanyal inszeniert hierfür eine Mischung aus Tribunal und Symposion in der professoralen Dachgeschosswohnung, wohin sich auch Nivedita, Priti sowie Saraswatis Liebhaberin, eine albinohafte Erscheinung, begeben, um Antworten zu erhalten. Was schwer genug ist, denn ",du weißt, dass es ganz schön rassistisch von dir ist, dass meine Hautfarbe einen Unterschied für dich macht', sagte Saraswati genüsslich".
Als dann der mephistophelische Bruder Saraswatis auftaucht und von einem Sitzsack aus giftige Kommentare in den Raum sprüht, liefert Mithu Sanyal ihren Lesern einen Rhetorikporno. Familienabgründe werden offengelegt und ad absurdum geführt. Täter- und Opferrollen wechseln munter ihren Wirt. Essentialistische Diskussionen über Authentizität, Blackness, Whiteness und andere binäre Zumutungen versanden in der Dauerdekonstruktion, die vor allem Saraswati perfektioniert hat. So jemanden bekommt man nie zu greifen. "Sobald etwas eindeutig oder offensichtlich erscheint, wissen wir, dass wir uns im Bereich der Ideologie befinden." Wie soll man mit so jemandem streiten?
So geht es dahin in diesem Aufschlagspiel, bei dem der Identitätsbegriff am Ende vollends verwischt. Gleiches gilt für pragmatische Institutionen wie "die Wahrheit", "das Reale" oder "Authentizität". "Saraswati sagte: ,Ah!', aber nicht Ah wie in Ah, da hast du mich erwischt, sondern eher Ah wie in: Ah, ich habe einen Fehler in deiner Argumentation entdeckt. ,Ganz im Gegenteil! Ich sehe Hautfarbe so klar, dass ich sie sogar ändern kann. Was ich tue, ist . . . racial drag.'" Saraswati, die viel für die PoC in Deutschland getan hat, will ihr Transracial-Experiment nicht als kulturelle "appropriation" verstanden wissen, sondern als "appreciation". Ist das genial oder einfach nur dreist?
Der Roman ist klug genug, diese Frage nicht zu beantworten, aber wie er sie zur Disposition stellt, ist schon die halbe Miete. Indem man über seine eigenen Kategorien nachdenkt, bringt man sie ins Wanken. Mit "Identitti" hat Mithu Sanyal eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben. Leider hat es Längen, die von einem entschlosseneren Lektorat leicht hätten vermieden werden können. So bleibt ein Buch, in dem unglaublich viel und pointiert geredet wird und in dem alles endlos gedreht und gewendet wird - analytische Therapiesitzung als Perpetuum mobile.
KATHARINA TEUTSCH
Mithu Sanyal: "Identitti". Roman.
Hanser Verlag, München 2021. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mithu Sanyals Roman "Identitti" erzählt von einer Professorin, die sich auf ihren Posten manipuliert hat
"Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit", erklärt Mithu Sanyal im Nachwort zu ihrem Romandebüt mit dem programmatischen Titel "Identitti". So nennt sich die weibliche Hauptfigur des Romans, wenn sie auf den einschlägigen Internetplattformen in Sachen Sexismus und Rassismus bloggt und tweetet. Nivedita, Tochter einer Deutschen und eines Inders, ist junge Feministin mit Race-Sex-Gender-Theoriegepäck. Und das hat sie sich draufgeschafft in den Seminaren einer charismatischen Professorin für Postkoloniale Theorie an der Universität Düsseldorf. Die Lehrstuhlinhaberin mit schicker Dachgeschosswohnung in Düsseldorf-Oberbilk nennt sich leicht prätentiös nach der hinduistischen Göttin der Gelehrsamkeit: Saraswati.
Als Professorin, die sich den People of Colour (PoC) zugehörig fühlt, ist Saraswati ein Stachel im weißen Fleisch der deutschen Universität. Das macht die Autorin des fiktiven Standardwerks "Decolonize your Soul" zu einer glaubhaften Vertreterin der Erfahrungen einer Gruppe von Menschen, die hierzulande vor ähnlichen Zugehörigkeitsproblemen steht wie in anderen Ländern mit kolonialer Vergangenheit.
Saraswati setzt aus pädagogischer Überzeugung in ihren Lehrveranstaltungen auf Drastik. Sie eröffnet sie gerne mit einer Provokation. Indem sie zum Beispiel alle weißen Studenten dazu auffordert, den Vorlesungssaal wieder zu verlassen. Nachher bestellt sie die Düpierten in ihre Sprechstunde ein, um zu erörtern, welche Gefühle, Motive und Mechanismen in den jeweiligen Akteuren am Werk sind. Saraswati ist damit eine Art Performance-Intellektuelle, die den Identitätshaushalt ihrer Studierenden gehörig durcheinanderbringt. Oder eben im Falle ihrer Lieblingsstudentin Nivedita zum ersten Mal so etwas wie eine gefestigte Identität überhaupt ermöglicht.
Während ihrer Arbeit an "Identitti" hätten sich die Anschläge von Hanau ereignet, schreibt Mithu Sanyal im Nachwort ihres Romans. Sie kommen im Buch ebenso vor wie diverse lebende Personen der Zeitgeschichte von Donald Trump über den Philosophen Kwame Anthony Appiah bis zum Radiojournalisten René Aguigah: als Menschen, die sie mit realen Äußerungen zu Rassismusfragen in die erfundenen Kontexte ihres Romans einwebt. Eine Methode, die angenehm unbefangen auf der Grenze zwischen Fakt und Fiktion eine wahrerfundene Geschichte erzählt.
Der Alltag in Deutschland bestehe natürlich nicht aus schrecklichen Gewaltverbrechen, schreibt die Autorin, aber schreckliche Verbrechen wie der Anschlag von Hanau sind Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. "Deshalb ist das Schweigen darüber in der deutschsprachigen Literatur eine nicht akzeptable Leerstelle."
Es ist eine engagierte Literatur, die sich hier anschickt, diese Leerstelle zu füllen. Mithu Sanyal, die bislang vor allem als Sachbuchautorin über die Vulva und über die Diskursgeschichte der Vergewaltigung von sich reden machte, hat ein ganz eigenes Genre für ihr Anliegen gefunden: eine Mischung aus Campusroman, intellektuellem Kammerspiel, Blogosphärenplateau und Identitätspolitiksatire. Auf jeder Seite kann man mindestens dreimal laut lachen. Denn Sanyal hat ein unerhörtes Talent, sowohl die Freiheiten des auf die Spitze getriebenen Denkens als auch die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen. Reden jedenfalls können alle Figuren, die diesen Roman bewohnen, ziemlich gut. Mitunter reden sie sich um Kopf und Kragen und stellen die Wahrheit von den Füßen auf den Kopf. Aber immer reden sie so, dass es dabei lustig knallt.
Allen voran Saraswati. Mithu Sanyal zeichnet das Bild einer spektakulär verführerischen Lichtgestalt, die nicht mal über ihren eigenen Lebensskandal wirklich zu Fall zu bringen ist. Nachdem sie ihre Studenten als Person of Colour zu einer identitätspolitischen Spürtruppe aufgepäppelt hat und besonders für Nivedita eine herausragende Identifikationsfigur geworden ist, erschüttert eine Enthüllung die akademische Welt. Irgendjemand hat Fotos von Saraswati geleakt. Darauf ist eine sehr deutsch aussehende junge Frau mit heller Haut zu sehen. Sie heißt Sarah Vera Thielmann, hat deutsche Eltern und einen indischstämmigen Adoptivbruder, der sich immer zurückgesetzt gefühlt hat und sich nun im Verbund mit Niveditas kesser Cousine Priti für den Skandal um die geblackfacete Schwester verantwortlich zeichnet.
Mithu Sanyal hat den realen Fall der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die sich als Schwarze ausgab, an eine deutsche Universität übertragen. Debunking Saraswati ist das Thema ihres Romans. Die Mehrheit der Studierenden fühlt sich massiv verraten. Die PoC-Community schäumt vor Wut. Die Universität denkt über die Suspendierung von Saraswatis Arbeitsvertrag nach. Eigentlich möchte man nur noch im Erdboden versinken. Doch Saraswati wäre nicht Saraswati, wenn sie es nicht auch noch verstünde, ihre gefakte Authentizität zum Teil des Lehrplans zu machen. Sanyal inszeniert hierfür eine Mischung aus Tribunal und Symposion in der professoralen Dachgeschosswohnung, wohin sich auch Nivedita, Priti sowie Saraswatis Liebhaberin, eine albinohafte Erscheinung, begeben, um Antworten zu erhalten. Was schwer genug ist, denn ",du weißt, dass es ganz schön rassistisch von dir ist, dass meine Hautfarbe einen Unterschied für dich macht', sagte Saraswati genüsslich".
Als dann der mephistophelische Bruder Saraswatis auftaucht und von einem Sitzsack aus giftige Kommentare in den Raum sprüht, liefert Mithu Sanyal ihren Lesern einen Rhetorikporno. Familienabgründe werden offengelegt und ad absurdum geführt. Täter- und Opferrollen wechseln munter ihren Wirt. Essentialistische Diskussionen über Authentizität, Blackness, Whiteness und andere binäre Zumutungen versanden in der Dauerdekonstruktion, die vor allem Saraswati perfektioniert hat. So jemanden bekommt man nie zu greifen. "Sobald etwas eindeutig oder offensichtlich erscheint, wissen wir, dass wir uns im Bereich der Ideologie befinden." Wie soll man mit so jemandem streiten?
So geht es dahin in diesem Aufschlagspiel, bei dem der Identitätsbegriff am Ende vollends verwischt. Gleiches gilt für pragmatische Institutionen wie "die Wahrheit", "das Reale" oder "Authentizität". "Saraswati sagte: ,Ah!', aber nicht Ah wie in Ah, da hast du mich erwischt, sondern eher Ah wie in: Ah, ich habe einen Fehler in deiner Argumentation entdeckt. ,Ganz im Gegenteil! Ich sehe Hautfarbe so klar, dass ich sie sogar ändern kann. Was ich tue, ist . . . racial drag.'" Saraswati, die viel für die PoC in Deutschland getan hat, will ihr Transracial-Experiment nicht als kulturelle "appropriation" verstanden wissen, sondern als "appreciation". Ist das genial oder einfach nur dreist?
Der Roman ist klug genug, diese Frage nicht zu beantworten, aber wie er sie zur Disposition stellt, ist schon die halbe Miete. Indem man über seine eigenen Kategorien nachdenkt, bringt man sie ins Wanken. Mit "Identitti" hat Mithu Sanyal eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs geschrieben. Leider hat es Längen, die von einem entschlosseneren Lektorat leicht hätten vermieden werden können. So bleibt ein Buch, in dem unglaublich viel und pointiert geredet wird und in dem alles endlos gedreht und gewendet wird - analytische Therapiesitzung als Perpetuum mobile.
KATHARINA TEUTSCH
Mithu Sanyal: "Identitti". Roman.
Hanser Verlag, München 2021. 432 S., geb., 22,- [Euro].
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"Dieser Roman wurde bislang literaturkritisch wirklich unterwürdigt. Er wurde immer wegen seiner Thematik hochgehalten, wurde immer gefeiert als 'genau zum richtigen Zeitpunkt'. Dieser Roman ist ja wirklich ein Crashkurs in Identitätspolitik ... Es ist aber gleichzeitig - und das ist das Schöne an diesem Debütroman - eine Screwball Comedy. ... Sanyal kann perfekt Dialoge, sie hat ein perfektes Gespür für Timing." Denis Scheck, SWR lesenswert Quartett, 08.07.21
"Die absolute Gegenwärtigkeit in diesem Buch ist brillant. Es kommen alle Mediengestalten der Jahre 2018 bis 2020 vor, Twitter ist eingebaut, die teilweise internationalen Reaktionen ... sind eingebaut und das ist alles handwerklich brillant gemacht. Es ist ein Vergnügen sich zu denken: Ist es das, was passieren würde?" Nele Pollatschek, SWR lesenswert Quartett, 08.07.21
"Das Buch entpuppt sich als instruktive wie wunderbare Lektüre, wenn es herzerfrischend frech, ehrlich, kritisch und doch empathisch all die Positionen und Stellungskriege um das, was man Postkolonialismus und Identitätspolitik nennt, auf's Korn nimmt. ... Sanyal ist nicht nur mutig und humorvoll, sondern außerdem noch mit einer gehörigen Portion Selbstironie begabt." Clemens Ruthner, Ö1 "Ex Libris", 09.05.21
"Mithu Sanyal treibt mit der Verwirrung aller Konzepte von Blackfacing, White Supremacy und Race ihren unendlichen Spaß. Sie fährt Achterbahn mit allen postkolonialen Theorien und Axiomen des Identitätsdiskurses und erfindet einen täuschend echten Shitstorm, gemixt aus realen und fiktiven Stimmen. Ihr Roman ist unverschämt - und unverschämt gut." Sigrid Löffler, Der Falter, 06.04.21
"Eine Mischung aus Campusroman, intellektuellem Kammerspiel, Blogosphärenplateau und Identitätspolitiksatire. Auf jeder Seite kann man mindestens drei mal laut lachen. Denn Sanyal hat ein unerhörtes Talent, sowohl die Freiheiten des auf die Spitze getriebenen Denkens als auch die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen. ... Eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs." Katharina Teutsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.21
"Furios, programmatisch, scharfzüngig, formenwandlerisch ... Man wünscht sich, dass Debatten über kulturelle Identität im Feuilleton öfter mal mit ähnlicher Lust und Selbstironie wie in "Identitti" geführt würden." Andreas Busche, Der Tagesspiegel, 01.03.21
"'Identitti': der Titel knallt. Und knallig, da so gewagt wie witzig zugleich, ist auch der Roman selbst. Denn in dem befördert die studierte Kulturwissenschaftlerin eine der gewichtigsten Debatten unserer Zeit in den Schleudergang." Claudia Kramatschek, Deutschlandfunk Kultur, 13.02.21
"Das Romandebüt greift mitten hinein in die aktuellen Diskurse über Identitätspolitik und Rassismus. ... Ein Coming-of-Age- und Campusroman, in dem Theorie-Collagen ins Märchen kippen, wobei die Handlung munter, unterhaltsam und sogar spannend ihrem schließlich versöhnlichen Ende entgegenstrebt." Ronald Düker, Die Zeit, 11.02.21
"Die absolute Gegenwärtigkeit in diesem Buch ist brillant. Es kommen alle Mediengestalten der Jahre 2018 bis 2020 vor, Twitter ist eingebaut, die teilweise internationalen Reaktionen ... sind eingebaut und das ist alles handwerklich brillant gemacht. Es ist ein Vergnügen sich zu denken: Ist es das, was passieren würde?" Nele Pollatschek, SWR lesenswert Quartett, 08.07.21
"Das Buch entpuppt sich als instruktive wie wunderbare Lektüre, wenn es herzerfrischend frech, ehrlich, kritisch und doch empathisch all die Positionen und Stellungskriege um das, was man Postkolonialismus und Identitätspolitik nennt, auf's Korn nimmt. ... Sanyal ist nicht nur mutig und humorvoll, sondern außerdem noch mit einer gehörigen Portion Selbstironie begabt." Clemens Ruthner, Ö1 "Ex Libris", 09.05.21
"Mithu Sanyal treibt mit der Verwirrung aller Konzepte von Blackfacing, White Supremacy und Race ihren unendlichen Spaß. Sie fährt Achterbahn mit allen postkolonialen Theorien und Axiomen des Identitätsdiskurses und erfindet einen täuschend echten Shitstorm, gemixt aus realen und fiktiven Stimmen. Ihr Roman ist unverschämt - und unverschämt gut." Sigrid Löffler, Der Falter, 06.04.21
"Eine Mischung aus Campusroman, intellektuellem Kammerspiel, Blogosphärenplateau und Identitätspolitiksatire. Auf jeder Seite kann man mindestens drei mal laut lachen. Denn Sanyal hat ein unerhörtes Talent, sowohl die Freiheiten des auf die Spitze getriebenen Denkens als auch die Grenzen des Diskurses aufzuzeigen. ... Eines der originellsten Bücher dieses Frühjahrs." Katharina Teutsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.21
"Furios, programmatisch, scharfzüngig, formenwandlerisch ... Man wünscht sich, dass Debatten über kulturelle Identität im Feuilleton öfter mal mit ähnlicher Lust und Selbstironie wie in "Identitti" geführt würden." Andreas Busche, Der Tagesspiegel, 01.03.21
"'Identitti': der Titel knallt. Und knallig, da so gewagt wie witzig zugleich, ist auch der Roman selbst. Denn in dem befördert die studierte Kulturwissenschaftlerin eine der gewichtigsten Debatten unserer Zeit in den Schleudergang." Claudia Kramatschek, Deutschlandfunk Kultur, 13.02.21
"Das Romandebüt greift mitten hinein in die aktuellen Diskurse über Identitätspolitik und Rassismus. ... Ein Coming-of-Age- und Campusroman, in dem Theorie-Collagen ins Märchen kippen, wobei die Handlung munter, unterhaltsam und sogar spannend ihrem schließlich versöhnlichen Ende entgegenstrebt." Ronald Düker, Die Zeit, 11.02.21