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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von Natalia Wenzel-Warkentin
Es muss voriges Jahr um diese Zeit herum gewesen sein, als ich meinen ersten Stephen-King-Band aus dem Regal der örtlichen Bibliothek zog, einfach um mal wieder einen richtig guten Roman zu lesen. Ein Roman, der mich abtauchen lassen würde. Damals hatte ich die Nase voll von der Flut neuer Sachbücher und anderer autofiktionaler Neuerscheinungen. Stephen King, den ich bis dahin nur aus den "Es"-Verfilmungen kannte, schien auf den ersten Blick eine sichere Wahl. Ein bisschen spät dran vielleicht, aber Dinge erst nach ihrem großen Hype zu entdecken hat ja auch seinen Reiz. Wie andere Kinder der Neunzigerjahre war auch ich wie selbstverständlich mit der Angst vor Clowns, tollwütigen Hunden und Irren mit telekinetischen Kräften aufgewachsen. Dass sie allesamt Kings Horror-Universum entsprungen sind, war mir lange nicht bewusst.
Natürlich blieb es nicht bei diesem einem Buch - ich glaube, es muss "Billy Summers", erschienen 2021, gewesen sein. Und es sollte mir auch bald nicht mehr genügen, die Bücher bloß auszuleihen. Ich wollte sie besitzen. Inzwischen stapelt sich ein beachtlicher Teil seines Gesamtwerks in meinem Regal. Nur durch Zufall öffnete ich die Tür zu einem Kosmos, der mehr als sechzig Romane und Hunderte Geschichten birgt - ein Langzeitprojekt, das auch fünfzig Jahre nach Erscheinen des Erstlings "Carrie" kein Ende findet. Ende Mai veröffentlichte King einen neuen Band mit zwölf Erzählungen, "Ihr wollt es dunkler". Ein Fest für alle, die noch dabei sind, alle Punkte des King-Universums zu identifizieren und zu einem Gesamtbild zu verknüpfen.
So ähnlich wie die junge Journalistin Ruth Crawford, die in der ersten dieser zwölf Erzählungen, "Zwei begnadete Burschen", herauszufinden versucht, warum es zwei befreundete Männer aus demselben kleinen Nest beinahe zeitgleich und erst in mittlerem Alter zu großem Erfolg und Ruhm gebracht haben - der eine als Künstler, der andere als Schriftsteller. Erfahren wird es schließlich erst der Sohn des Schriftstellers, und auch erst dann, als sein Vater dahinscheidet und sein unglaubliches Geheimnis offenbart.
Wenn die Welt von Stephen King ein Spektrum ist, dann befinden wir uns in "Zwei begnadete Burschen" am hinteren Ende der Skala, die sich irgendwo zwischen Kriminalroman und Fantasy auftut, denn King hat sich dazu entschieden, sein neues Buch mit einer erstklassigen Science-Fiction-Geschichte aufzumachen. Es geht um außerordentliches Talent und die Frage, ob man es von selbst aus der Mittelmäßigkeit hin zur Exzellenz schaffen kann, oder ob es dafür einen kleinen Schubs von außen (hier: oben) braucht.
Natürlich spielt auch diese Geschichte in Maine, und zwar in den Siebzigerjahren in den Kleinstädten des fiktiven Castle County. Und wie so oft bei King sind es auch hier ganz durchschnittliche Menschen, denen etwas Außerordentliches, ja Übersinnliches widerfährt. "Pick-up fahrende, Countrymusic liebende, Kaffeelikör trinkende, zu den Republikanern tendierende Hinterwäldler", wie King sie ganz unironisch benennt. Ein Jagdausflug soll das Leben dieser ganz gewöhnlichen Männer für immer verändern. Und anders als vermutet, hat das weniger mit einem Unfall als mit einer sonderbaren Entdeckung zu tun, die sie bei Mondschein im 30-Meilen-Wald machen und die auch einem Fiebertraum entsprungen sein könnte. Einem Fiebertraum mit einer wenig hoffnungsvollen Botschaft: "Das Universum ist kalt. Intelligentes Leben ist selten."
So einen Traum hat auch Danny Coughlin, wenngleich mit unheilvolleren Konsequenzen. Danny träumt in der vierten Geschichte des Bandes von einem Mord an einer jungen Frau, die zuvor sexuell missbraucht und anschließend verscharrt wurde. Im Traum sieht er die Szenerie genau vor sich und beschließt, an diesen Ort zu fahren. Er tut das gerade noch rechtzeitig, bevor ein streunender Hund die Beweise des Verbrechens vernichten kann. Dannys Plan, die Polizei anonym zu informieren, geht nicht auf. Die Cops enttarnen ihn - und glauben Danny natürlich kein Wort, als er beteuert, dass er bloß von der Frau geträumt habe. Es folgt eine Hetzjagd, bei der Coughlin ins Visier eines psychisch kranken Ermittlers gerät, der seine Methoden damit rechtfertigt, für die Rechte der Frauen zu kämpfen.
Ganz klar lässt sich in dieser Geschichte ein Amerika wiedererkennen, das mit der Corona-Pandemie zum Einen und den Konsequenzen aus #MeToo zum anderen kämpft. Inspektor Franklin Jalbert hält Danny für schuldig, noch bevor er ihn mit den Vorwürfen konfrontiert hat. Statt sachlich zu ermitteln, sucht er nach Wegen, um ihm die Tat nachzuweisen - immer unter der Prämisse, das Richtige zu tun, denn er glaubt Frauen. Für Jalbert gibt es keine Zweifel, er verrennt sich immer weiter, während sich seine Zwangsstörung offensichtlich verschlimmert. Am Ende wird Danny ein weiterer Traum retten. Er besitzt wohl so etwas wie das Shining - ähnlich wie Namensvetter Dan Torrance aus einem der berühmtesten Romane Kings. Aber dieser Traum endet nicht ohne Opfer, ganz anders, als King zu Beginn prognostiziert hatte: "Das Gute an bösen Träumen ist, dass sie nie lange dauern. Träume sind wie Zuckerwatte: Sie schmelzen einfach dahin."
Stephen Kings Repertoire an bösen Träumen scheint unerschöpflich, sein Output ist gigantisch. Zu meinem großen Glück, denn während ich mich noch durch Werke wühle, die lange vor meiner Geburt erschienen sind, produziert er fleißig neue. Was mir an King - neben seiner Erzählkunst - von Anfang gefiel, war die herrlich klare Sprache, die sich gerne auch mal Fäkalausdrücken bedient. Diese derbe, direkte Sprache ist es, was Kings Erzählen trotz übersinnlicher Motive so lebensnah macht.
Einen Eindruck davon vermittelt auch die Kurzgeschichte "Auf der Slide Inn Road", die King schon im Jahr 2020 im amerikanischen Männermagazin "Esquire" veröffentlicht hatte und die es jetzt in den neuen Band geschafft hat. Darin geht es um einen Familientrip, der eine böse Wendung nimmt, als Familie Brown - bestehend aus Mutter, Vater, Kindern und Großvater - zwei Gangstern begegnet, die gerade dabei sind, eine Leiche zu entsorgen. Großvater Brown ist Hardcore-Baseballfan (wie sein Schöpfer), Buick-Fahrer (King-Fans erinnern sich) und flucht ganz ungeniert und oft. Er "schaukelt gerne seine Klöten" und ruft Dinge wie "Holla, die Scheißwaldfee" oder "Scheiß doch der Hund drauf". Jürgen Bürger, der "Auf der Slide Inn Road" übersetzt hat, hat hier (und an vielen anderen Stellen) ganze Arbeit geleistet. King selbst würde diese deutsche Version sicher entzücken.
Die Geschichte, auf die Fans wohl am sehnlichsten gewartet haben, findet sich erst im letzten Drittel des Bandes. Es ist eine neuerliche Begegnung mit Vic Trenton, dem Vater des kleinen Tad. In "Cujo" (1981) waren der Vierjährige und seine Mutter vor dem gleichnamigen tollwütigen Bernhardiner, der Jagd auf Menschen macht, in ein Auto geflüchtet - und der Junge war in der Hitze verdurstet. Im Sequel "Klapperschlangen" erholt sich Vic Trenton jetzt Jahrzehnte später als betagter Mann vom Tod seiner Frau Donna (von der er zwischenzeitlich nach dem tragischen Tod seines Sohnes geschieden war) und trifft in Florida auf der Insel Rattlesnake Key auf eine neue Nachbarin.
Auch sie hat den Verlust nicht nur eines, sondern von gleich von zwei Kindern, Zwillingen, zu beklagen - und ist, obgleich deren Tod Jahrzehnte lang zurückliegt, nie darüber hinweggekommen. So scheint es jedenfalls. Tag für Tag schiebt sie den leeren Kinderwagen mit den quietschenden Reifen und der Kleidung ihrer toten Kinder über die Insel. Die beiden Jungen wurden, ebenfalls vierjährig, von Klapperschlangen, die der Insel und der Geschichte ihren Namen geben, getötet. Nach dem Tod der Kinder jagte man die Tiere so lange, bis kein einziges mehr übrig war. So heißt es jedenfalls. Als seine Nachbarin dann stirbt und Vic Trenton zum Alleinerben macht, nimmt das Grauen seinen Lauf.
Zusammen mit "Danny Coughlins böser Traum" ist diese Geschichte wohl die gelungenste des neuen Bandes, denn hier zeigt King, dass er einer der größten Erzähler unserer Zeit ist - auch und gerade in seiner Kurzprosa. Beide Storys bleiben von der ersten Seite an spannend und verbinden klassischen Horror mit Crime. Sie trösten auch über blassere neue Geschichten wie "Finn" oder "Das rote Display" hinweg.
In "Rattlesnakes" lesen wir nicht nur die Fortsetzung von "Cujo", dessen Motive des Eingesperrtseins und der Angst vor der Bestie der Filmkritiker Wolfram Knorr eine "Klaustrophobie als Seelenpresse" genannt hat. Nein, wir kehren hier auch an einen anderen Ort aus Kings Universum zurück. Denn auf Rattlesnake Key spukt es - so wie auf Duma Key, jener Insel, auf der sich schon der Künstler Edgar Freemantle in Stephen Kings "Wahn" (2008) mit diversen Spukgestalten konfrontiert sah. Das pinkfarbene Haus, Ort des damaligen Schreckens, taucht sogar als Referenz in der neuen Geschichte auf.
Es sind diese kleinen, versteckten Hinweise, bloß Puzzleteile, die die Lektüre des neuen Bandes für eingefleischte King-Fans besonders aufregend machen. Überall scheint es neue Querverbindungen zu geben. Das Entschlüsseln der vielen Referenzen wird zu einem großen Spaß, auch weil viele der Motive, Orte und Personen so eindrücklich sind und in Erinnerung bleiben - nicht nur denen, die sich, wie ich, erst seit einiger Zeit durch Kings Lebenswerk graben. Es war eine meiner besseren Ideen, ausgerechnet King im letzten Sommer aus dem Bibliotheksregal gezogen zu haben.
Ob sich mein Blick auf ihn verändert hat, jetzt, da ich innerhalb kürzester Zeit mehr als vierzig Romane und etliche Storys verschlungen habe? Nun, ich habe gelernt, dass es verschiedene Kings zu verschiedenen Zeiten gab und immer noch gibt. Nicht alles ist Horror, manches ist Krimi, einiges Fantasy oder sogar Science-Fiction. Doch alles spielt immer mitten unter uns. Zweitens: Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Stephen King und seinem düsteren Alter Ego Richard Bachmann, unter dessen Namen King einige sehr erfolgreiche Romane veröffentlicht hat und der früh sterben musste. Ein Typ wie Bachmann lebt einfach kein langes Leben. Und zu guter Letzt: Kein King-Buch ist eine Verschwendung, denn auch wenn einige Werke es niemals mit der Genialität jüngerer Bücher "Fairy Tale" (2022) oder "Später" (2021) aufnehmen können, erleben wir zu jeder Zeit einen Meister seines Könnens, manchmal betrunken, manchmal offensichtlich auf Drogen (King war jahrelang alkohol- und kokainabhängig). Selbst nachdem man sich durch viele Seiten Chaos gewühlt hat (man denke nur an die "Tommyknockers" von 1988), bleibt die Freude riesig, wenn das nächste Paket mit neuem Stoff vor der Tür steht.
Ich möchte mir kaum ausmalen, welche Größe das Loch haben wird, in das ich falle, sobald ich mein Langzeitprojekt abschließe. Um es mit Stephen Kings eigenen Worten zu sagen: "Nicht nur Trauer hinterlässt Spuren, auch Terror tut das. Besonders übernatürlicher."
Stephen King: "Ihr wollt es dunkler". Aus dem Englischen übersetzt von Wulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay, Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersberg und Sven-Eric Wehmeyer. Heyne, 736 Seiten, 28 Euro.
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