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Verstörung als Formprinzip: Thomas Stangls zweiter Roman
"Wie in einem Taumel stürzen wir in die Erinnerungen und Vorstellungen der beiden Frauen hinein und drohen in ihnen verloren zu gehen": Was der Verlag in enthusiastischem Ton zum neuen Roman des österreichischen Schriftstellers Thomas Stangl annonciert, ist auf gespenstische Weise wahr. Der Text ergießt eine Bilder- und Sprachflut - und wir gehen beinahe darin unter. Ob dieser Umstand allerdings für das Buch spricht, bleibt erst noch zu klären. Ein vertrackter Fall ist dieser Zweitling des 1966 in Wien geborenen Schriftstellers auf jeden Fall, der vor zwei Jahren für "Der einzige Ort" mit dem Aspekte-Preis ausgezeichnet wurde. Wie schwierig der Zugang zum hermetischen Sprachgebilde ist, davon zeugen auch die positiven Kritiken, die bislang diese Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung würdigten - denn selbst das Lob wird oft weniger am Text als an der Person und der elitären Haltung des Autors entwickelt.
Stangl macht es dem Leser nicht leicht. Man wird den Eindruck nicht los, hier wolle einer nicht erzählen, sondern sich in der Sprache verbarrikadieren, keinen Ausschnitt des Lebens zeigen, sondern sich gegen dieses Leben mit einer undurchdringlichen Sprachhülle panzern. Der erste Texteindruck ist ein visueller, und er ist durchaus symptomatisch. Der Roman drängt atemlos voran, meist über viele Seiten ohne Abschnitte, ohne Kapitel, ohne optisch wahrnehmbare Gedankenzäsuren - ein einziges gigantisches Textgeschiebe, das sich seinen Weg bahnt. Dieses Muster wiederholt sich auf der Mikroebene: Wenig ordnende Strukturen sind auszumachen, ebenso wenig Hierarchien des Erzählten oder eine Fokussierung auf Handlungszentren. Stattdessen wird man mit einer manisch detaillierten Beschreibung von Kulissen, Figuren und Aktionen konfrontiert. Jede Beobachtung erscheint gleich wichtig, mit dem Effekt, dass sich alles gegenseitig neutralisiert.
Trotzdem gibt es eine Art Handlung. Emilia Degen, eine Universitätsdozentin, und ihre Tochter, die eben vor dem Abschluss ihres juristischen Studiums steht, leben zusammen in einer Wohnung im Wiener Stadtteil Leopoldstadt. Beide sind Verlorene. Die Tochter, die unter multipler Sklerose leidet, lebt durch die existentielle Erfahrung der latenten Todesbedrohung in einer Zwischenwelt. Die Mutter ist der Tochter fremd, ihre Sätze erreichen sie nicht, ihre Gefühle berühren sie ebenso wenig. "Jede Annäherung (so unvermittelt sie erscheinen mag) hat etwas von einem Wiedererkennen und zugleich von einem immerfort Verlieren." Auf diese paradoxe Formel bringt der Text das Verhältnis der beiden Frauen. Die Mutter, eine Frau über fünfzig, erscheint der Tochter eingeschlossen in ihr Denken und in ihre Texte, die sie für Zeitschriften schreibt, die niemand liest. Die Tochter aber, lebenssüchtig und wirklichkeitsgierig, fühlt sich im Mutterleben eingekerkert wie in einem Verlies, aus dem es kein Entkommen gibt. Ohne Vertrauen und ohne Trost erschafft sie in ihrem Denken ständig eine Gegenwelt, in dem sie sich selber ein "Gegenvertrauen" und einen "Gegentrost" gibt.
Um dieses inhaltliche Zentrum dreht sich die Erzählmaschine ohne Anfang und ohne Ende. Die Irritation über die formale Entwicklungslosigkeit überwiegt schließlich doch, da sie in keiner Funktion zum Geschehen des Romans steht. Stangl erreicht mit seiner Erzählstrategie weniger ein mit Sinn aufgeladenes Oszillieren zwischen der Realität und dem Abgründigen, eine Erweiterung des Konkreten in das Imaginäre als eine Zersplitterung in Einzelteile, welche die Erzähllandschaft seltsam verstellen.
PIA REINACHER
Thomas Stangl: "Ihre Musik". Roman. Droschl Literaturverlag, Graz 2006. 192 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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