Am Beispiel einer weitverzweigten Unternehmerfamilie geht das Buch der Bildungsgeschichte des Bürgertums im deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 nach.
Kindheit und Erziehung in der Familie, Schulerfahrungen und das Leben in Schülerpensionen und Mädchenpensionaten, Jugendfreundschaften, Militärdienst und Kriegserfahrungen, Liebe und Ehe, Auslandsaufenthalte und der Umgang mit dem neuen Zeitalter der Technik, des Tempos und der Metropolen werden auf der Grundlage privater Briefe und aus dem Blickwinkel verschiedener Generationen und Familienmitglieder betrachtet. Das Buch entwickelt im Zuge einer Bildungsgeschichte in Fallbeispielen neue Interpretationen einer Epoche, die nach wie vor einer der Brennpunkte deutscher Geschichtsschreibung ist.
Kindheit und Erziehung in der Familie, Schulerfahrungen und das Leben in Schülerpensionen und Mädchenpensionaten, Jugendfreundschaften, Militärdienst und Kriegserfahrungen, Liebe und Ehe, Auslandsaufenthalte und der Umgang mit dem neuen Zeitalter der Technik, des Tempos und der Metropolen werden auf der Grundlage privater Briefe und aus dem Blickwinkel verschiedener Generationen und Familienmitglieder betrachtet. Das Buch entwickelt im Zuge einer Bildungsgeschichte in Fallbeispielen neue Interpretationen einer Epoche, die nach wie vor einer der Brennpunkte deutscher Geschichtsschreibung ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2019Untertanengeist sucht man hier vergeblich
Zeugnisse einer selbstbewussten Schicht: Carola Groppe bietet tiefe Einblicke in die Bürgerwelt des Kaiserreichs
Tolerante Weltmänner und Offenheit für jugendliche Erotik, wachsende berufliche Freiräume für Frauen und mit Babyschnullern befasste Väter: die Historikerin und Bildungsforscherin Carola Groppe zeichnet in ihrer Studie ein Porträt des Kaiserreichs, das vielen landläufigen Vorstellungen widerspricht, Neues zutage fördert - und so manche international vergleichende Forschung bestätigt.
Als Grundlage für diese "Bildungsgeschichte des Bürgertums" dienen Briefe der weitverzweigten rheinländischen Unternehmerfamilie Colsman. Carola Groppe lässt die Bürgerinnen und Bürger ausführlich zu Wort kommen, und zuweilen scheint sich die Studie in den langen Briefzitaten und Details zu verlieren. Doch die Lektüre lohnt sich: Das Buch bietet in seiner ganzen Fülle einen tiefen Einblick in die Bürgerwelt des Kaiserreichs.
Die Autorin stößt mit ihrer Untersuchung über Bildung und Sozialisation der Unternehmer und ihrer Kinder ins Herz der Forschungsdebatten um das Kaiserreich: Lässt sich dieses mit dem Begriff "Obrigkeitsstaat" angemessen fassen, und war es grundsätzlich geprägt von einem extremen Untertanengeist und Militarismus? Gewiss bietet eine einzelne Familie kein komplettes Bild der Gesellschaft, das betont die Autorin. Doch wie die sorgfältige Einbettung der Fallstudie in den zeithistorischen Kontext verdeutlicht, ist diese Familie in vielerlei Hinsicht typisch für das Wirtschaftsbürgertum. Das stellte zwar nur einen kleinen Prozentsatz im Kaiserreich, war jedoch wirkmächtig und einflussreich.
Es sind gerade die vielstimmigen Selbstzeugnisse der Bürger, die in mannigfaltigen Schattierungen offenbaren, wie wenig plausibel manche Vorstellungen über das Kaiserreich sind, die nach wie vor den öffentlichen Diskurs und oft genug die Forschung prägen. Die Briefe zeigen eine Welt, in der keine hochgradig autoritäre Denkungsart herrschte, kein Untertanengeist, der selbst noch bestimmend für die Bundesrepublik gewesen sei, kein im Militarismus ersticktes Bürgerleben.
In den Briefen findet sich auch keine "Krise der Moderne". Diese Bürgerinnen und Bürger leben in einer fortschrittsoptimistischen Welt. Die Mitgestaltung von Politik ist für die Männer eine Selbstverständlichkeit. Bei den Kommunalwahlen mit dem preußischen Dreiklassenwahlrecht berichtete Wilhelm Colsman-Bredt 1881 seiner Frau Adele, dass die Arbeiter angekündigt hätten, nicht wie von dem Unternehmer Conze gefordert den konservativen Mitkandidaten in den Stadtrat zu wählen, sondern nur ihn, Colsman-Bredt, als einzigen Unternehmer - und ansonsten nur Arbeiter zu unterstützen. Befriedigt schrieb Colsman der Gattin nach den erfolgreichen Wahlen von seinem "Spaß" an der Sache: "Bin ich doch jetzt nicht von Conzen & Co Gnaden! sondern durch die Mehrzahl der Bürger besonders ausgezeichnet!"
Die Bürger, wie sie sich in den Briefen präsentieren, sind nationalistisch - zunächst "preußisch", zunehmend dann "deutsch". Doch nationaler Chauvinismus hätte sich kaum mit ihrem Leben vereinbaren lassen. Sie kommunizierten in verschiedenen Sprachen, gingen jährlich auf Geschäftsreisen über mehrere Wochen nach Paris, Mailand oder London und besuchten dort Gottesdienste, Konzerte und Theater ("in Schillers ,Braut von Messina' vermisste ich die Shakespear'sche Klarheit"). Das Militär galt als Bürgerpflicht, nahm aber wenig Raum ein. Die Männer beschreiben den Dienst als eine andere Sphäre, in der sie "Soldat spielen" und von der sie sich letztlich zurück in die eigentliche Welt des Unternehmens sehnen.
Diese Wirtschaftsleute waren entscheidende Akteure der Ersten Globalisierung. Als sich der Weltkrieg abzeichnete, waren sie entsetzt und besorgt; in den Kriegsjubel stimmten sie nicht ein.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt die Autorin den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Ehe verstanden die Frauen und Männer ganz bürgerlich als Liebesgemeinschaft, und trotz der rechtlichen Ungleichstellung von Frauen gestaltete sich die Kommunikation in den Briefen weithin hierarchiefrei. Da die Teenager oft auf auswärtige höhere Schulen gegeben wurden, bieten die Briefe auch einen Einblick in das Verhältnis zwischen den Generationen. Der Ton ist zumeist freundlich, Eltern mahnen (in den französisch verfassten Briefen müsse der Sohn sorgfältiger sein, "wie man z.B. den Infinitiv mit dem Partizip verwechseln kann, ist mir völlig unverständlich"); doch gegenüber den Kindern wird eher argumentiert als befohlen. Und im späten Kaiserreich bringen die Eltern dem wachsenden Freiheitsverlangen der Jungen und Mädchen meist Verständnis entgegen.
Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die Pensionate und Alumnate, über die es bisher kaum Forschung gibt. Bei den Einrichtungen für Mädchen fallen die vielen Schülerinnen aus England auf, und es fragt sich, ob das Bild der im internationalen Vergleich besonderen Rückständigkeit der deutschen Mädchenschulen richtig sein kann - bei aller Diskriminierung der Frauen im Bildungsbereich weltweit. Carola Groppe jedenfalls plädiert dafür, die progressive Reformpädagogik nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern die pädagogischen Innovationen um 1900 für die gesamte Gesellschaft zu untersuchen. Gerade die Sozialisation der Mädchen liberalisierte sich im Verlauf des Kaiserreichs.
Der Adel spielte in dieser Welt keine nennenswerte Rolle, Bismarck wurde verehrt, den "lieben Kaiser" hatte man ganz gern. Carola Groppe zeichnet anhand der Egodokumente eine ausgesprochen selbstbewusste Schicht, in der sich der Reichtum in den Villen und einem umfassenden Mäzenatentum zeigte, die Bürgerlichkeit sich ansonsten in einer zurückhaltenden Lebensführung präsentierte, in der die Firma dominierte und sich gemäßigter Protestantismus, Politik, Wohlfahrt und Kunst die Waage hielten. Die Bürger lebten nicht als autoritätsfixierte Untertanen in einem Obrigkeitsstaat, sondern als freie Bürger in einer Zivilgesellschaft im Aufbruch.
Als das Kaiserreich mit aller Pracht im Elend des Krieges unterging, ist die nationale Kränkung mit Händen zu greifen. Doch das Leben geht weiter: "Ich meine, man sollte an der Lösung der Frage tatkräftig mitarbeiten, wie kommen wir aus dem Sumpf, in dem wir stecken, wieder raus", schreibt ein Colsman 1919. "Neues und Gutes ist zu schaffen, trotz der zunächst dunkelen Zukunft!" Carola Groppe zeigt in ihrer wichtigen Studie nicht zuletzt, wie unverzichtbar und aufregend es ist, für die alten Forschungsprobleme immer wieder die Quellen neu zu befragen und - wo möglich - neue Quellen aufzuspüren.
HEDWIG RICHTER
Carola Groppe: "Im deutschen Kaiserreich." Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871-1918.
Böhlau Verlag, Köln, Wien, Weimar 2018. 528 S., geb., 65,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeugnisse einer selbstbewussten Schicht: Carola Groppe bietet tiefe Einblicke in die Bürgerwelt des Kaiserreichs
Tolerante Weltmänner und Offenheit für jugendliche Erotik, wachsende berufliche Freiräume für Frauen und mit Babyschnullern befasste Väter: die Historikerin und Bildungsforscherin Carola Groppe zeichnet in ihrer Studie ein Porträt des Kaiserreichs, das vielen landläufigen Vorstellungen widerspricht, Neues zutage fördert - und so manche international vergleichende Forschung bestätigt.
Als Grundlage für diese "Bildungsgeschichte des Bürgertums" dienen Briefe der weitverzweigten rheinländischen Unternehmerfamilie Colsman. Carola Groppe lässt die Bürgerinnen und Bürger ausführlich zu Wort kommen, und zuweilen scheint sich die Studie in den langen Briefzitaten und Details zu verlieren. Doch die Lektüre lohnt sich: Das Buch bietet in seiner ganzen Fülle einen tiefen Einblick in die Bürgerwelt des Kaiserreichs.
Die Autorin stößt mit ihrer Untersuchung über Bildung und Sozialisation der Unternehmer und ihrer Kinder ins Herz der Forschungsdebatten um das Kaiserreich: Lässt sich dieses mit dem Begriff "Obrigkeitsstaat" angemessen fassen, und war es grundsätzlich geprägt von einem extremen Untertanengeist und Militarismus? Gewiss bietet eine einzelne Familie kein komplettes Bild der Gesellschaft, das betont die Autorin. Doch wie die sorgfältige Einbettung der Fallstudie in den zeithistorischen Kontext verdeutlicht, ist diese Familie in vielerlei Hinsicht typisch für das Wirtschaftsbürgertum. Das stellte zwar nur einen kleinen Prozentsatz im Kaiserreich, war jedoch wirkmächtig und einflussreich.
Es sind gerade die vielstimmigen Selbstzeugnisse der Bürger, die in mannigfaltigen Schattierungen offenbaren, wie wenig plausibel manche Vorstellungen über das Kaiserreich sind, die nach wie vor den öffentlichen Diskurs und oft genug die Forschung prägen. Die Briefe zeigen eine Welt, in der keine hochgradig autoritäre Denkungsart herrschte, kein Untertanengeist, der selbst noch bestimmend für die Bundesrepublik gewesen sei, kein im Militarismus ersticktes Bürgerleben.
In den Briefen findet sich auch keine "Krise der Moderne". Diese Bürgerinnen und Bürger leben in einer fortschrittsoptimistischen Welt. Die Mitgestaltung von Politik ist für die Männer eine Selbstverständlichkeit. Bei den Kommunalwahlen mit dem preußischen Dreiklassenwahlrecht berichtete Wilhelm Colsman-Bredt 1881 seiner Frau Adele, dass die Arbeiter angekündigt hätten, nicht wie von dem Unternehmer Conze gefordert den konservativen Mitkandidaten in den Stadtrat zu wählen, sondern nur ihn, Colsman-Bredt, als einzigen Unternehmer - und ansonsten nur Arbeiter zu unterstützen. Befriedigt schrieb Colsman der Gattin nach den erfolgreichen Wahlen von seinem "Spaß" an der Sache: "Bin ich doch jetzt nicht von Conzen & Co Gnaden! sondern durch die Mehrzahl der Bürger besonders ausgezeichnet!"
Die Bürger, wie sie sich in den Briefen präsentieren, sind nationalistisch - zunächst "preußisch", zunehmend dann "deutsch". Doch nationaler Chauvinismus hätte sich kaum mit ihrem Leben vereinbaren lassen. Sie kommunizierten in verschiedenen Sprachen, gingen jährlich auf Geschäftsreisen über mehrere Wochen nach Paris, Mailand oder London und besuchten dort Gottesdienste, Konzerte und Theater ("in Schillers ,Braut von Messina' vermisste ich die Shakespear'sche Klarheit"). Das Militär galt als Bürgerpflicht, nahm aber wenig Raum ein. Die Männer beschreiben den Dienst als eine andere Sphäre, in der sie "Soldat spielen" und von der sie sich letztlich zurück in die eigentliche Welt des Unternehmens sehnen.
Diese Wirtschaftsleute waren entscheidende Akteure der Ersten Globalisierung. Als sich der Weltkrieg abzeichnete, waren sie entsetzt und besorgt; in den Kriegsjubel stimmten sie nicht ein.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt die Autorin den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Ehe verstanden die Frauen und Männer ganz bürgerlich als Liebesgemeinschaft, und trotz der rechtlichen Ungleichstellung von Frauen gestaltete sich die Kommunikation in den Briefen weithin hierarchiefrei. Da die Teenager oft auf auswärtige höhere Schulen gegeben wurden, bieten die Briefe auch einen Einblick in das Verhältnis zwischen den Generationen. Der Ton ist zumeist freundlich, Eltern mahnen (in den französisch verfassten Briefen müsse der Sohn sorgfältiger sein, "wie man z.B. den Infinitiv mit dem Partizip verwechseln kann, ist mir völlig unverständlich"); doch gegenüber den Kindern wird eher argumentiert als befohlen. Und im späten Kaiserreich bringen die Eltern dem wachsenden Freiheitsverlangen der Jungen und Mädchen meist Verständnis entgegen.
Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die Pensionate und Alumnate, über die es bisher kaum Forschung gibt. Bei den Einrichtungen für Mädchen fallen die vielen Schülerinnen aus England auf, und es fragt sich, ob das Bild der im internationalen Vergleich besonderen Rückständigkeit der deutschen Mädchenschulen richtig sein kann - bei aller Diskriminierung der Frauen im Bildungsbereich weltweit. Carola Groppe jedenfalls plädiert dafür, die progressive Reformpädagogik nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern die pädagogischen Innovationen um 1900 für die gesamte Gesellschaft zu untersuchen. Gerade die Sozialisation der Mädchen liberalisierte sich im Verlauf des Kaiserreichs.
Der Adel spielte in dieser Welt keine nennenswerte Rolle, Bismarck wurde verehrt, den "lieben Kaiser" hatte man ganz gern. Carola Groppe zeichnet anhand der Egodokumente eine ausgesprochen selbstbewusste Schicht, in der sich der Reichtum in den Villen und einem umfassenden Mäzenatentum zeigte, die Bürgerlichkeit sich ansonsten in einer zurückhaltenden Lebensführung präsentierte, in der die Firma dominierte und sich gemäßigter Protestantismus, Politik, Wohlfahrt und Kunst die Waage hielten. Die Bürger lebten nicht als autoritätsfixierte Untertanen in einem Obrigkeitsstaat, sondern als freie Bürger in einer Zivilgesellschaft im Aufbruch.
Als das Kaiserreich mit aller Pracht im Elend des Krieges unterging, ist die nationale Kränkung mit Händen zu greifen. Doch das Leben geht weiter: "Ich meine, man sollte an der Lösung der Frage tatkräftig mitarbeiten, wie kommen wir aus dem Sumpf, in dem wir stecken, wieder raus", schreibt ein Colsman 1919. "Neues und Gutes ist zu schaffen, trotz der zunächst dunkelen Zukunft!" Carola Groppe zeigt in ihrer wichtigen Studie nicht zuletzt, wie unverzichtbar und aufregend es ist, für die alten Forschungsprobleme immer wieder die Quellen neu zu befragen und - wo möglich - neue Quellen aufzuspüren.
HEDWIG RICHTER
Carola Groppe: "Im deutschen Kaiserreich." Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871-1918.
Böhlau Verlag, Köln, Wien, Weimar 2018. 528 S., geb., 65,- [Euro].
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