In diesem Kurzroman begleiten wir einen Vater und seine drei Monate alte Tochter durch einen Tag im Frühling. Ein Tag, geprägt vom Anfang des Lebens, von Aufbruch und Licht, aber auch von Dunkelheit und Beschwernis.
"Noch hing etwas Sparsames über allem, die Landschaft war ohne diese tiefe Fülle, die der Sommer brachte, das Grün der Bäume war vorerst nur ein Schimmer, denn so ist der April: Knospen, Keime, Ungewissheit, Zögern. Der April liegt zwischen dem großen Schlaf und dem großen Sprung. Der April ist die Sehnsucht nach etwas Anderem, wobei dieses Andere noch unbekannt ist."
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Karl Ove Knausgårds Jahreszeiten-Zyklus
Sein sechs Bände umfassendes autobiographisches Mammutprojekt schloss der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit der Ankündigung ab, dass er nun nichts mehr schreiben werde. Doch wie es bei Autoren eben so ist: So eine Aussage darf man nicht allzu ernst nehmen. Hierzulande wird die Leserschaft seit Anfang 2017 halbjährlich mit einem Werk aus Knausgårds "Jahreszeitenzyklus" versorgt: Nach "Im Herbst" und "Im Winter" erschien "Im Frühling"; der Sommer steht kurz bevor.
Der Autor selbst nennt die Jahreszeiten-Bücher eine "persönliche Enzyklopädie von Dingen aus meinem näheren Umfeld", die sich, einerseits, entwickelt habe aus seiner Idee, eine Art Tagebuch oder einen Brief an seine damals noch ungeborene dritte Tochter zu schreiben, ihr zu berichten, in welche Familie sie da hineingeboren wurde, und, andererseits, der Anfrage eines amerikanischen Zeitschriftenredakteurs, ob er nicht über ein Jahr hinweg regelmäßig eine Glosse über Alltagsgegenstände schreiben wolle. Aus dem Zeitschriftenprojekt wurde dann nichts, doch Knausgård hatte Gefallen daran gefunden und schrieb weiter Texte über Zahnbürste, Stiefel, Plastiktüte und Kaugummi.
Der Ton, der das Buch durchzieht, ist ein völlig anderer als in der Autobiographie, wo Unsicherheit, Verwirrung, Verzweiflung, Wut, Trauer und Selbsthass, sich in einem ausufernden Satzfluss geradezu Bahn zu brechen scheinen: Er ist gelassen, ruhig - und geradezu irritierend optimistisch. Es finden sich Aussagen wie: "Es gibt keinen Grund, vorsichtig zu sein oder Angst zu haben, das Leben ist so robust", die man von einem Autor, der andernorts einen Supermarktbesuch über dreißig Seiten hinweg als existentielle Krise schildert, nun wirklich nicht erwartet hätte. Der Autor schreibt nicht mehr ums Überleben - sein Überleben -, sondern über das Leben. Er habe sich verändert, sein Leben auch, sagte Knausgård vor einiger Zeit dazu in einem Interview am Rande eines Literaturfestivals, als er darauf angesprochen wurde.
Doch so erfreulich es für das Leben des Autors auch sein mag, eine gelassenere, glücklichere Phase zu erleben, in literarischer Hinsicht führt der affirmative Ansatz nicht besonders weit. In den Jahreszeiten-Bänden "Im Herbst" und "Im Winter" zeigt sich der Autor nicht in Bestform (wobei die Messlatte hier zugegebenermaßen ziemlich hoch liegt): Die Brief-Passagen an das Ungeborene operieren nahe am Kitsch, und die Dingetexte - nun ja.
"Verblüffend am Ohr ist, dass es so mechanisch wirkt", beginnt der kurze Text über das Ohr beispielsweise, und viel weiter reicht die Erkenntnis bis zuletzt nicht, dann wieder wird es unfreiwillig komisch, etwa wenn an einer Stelle die Toilettenschüssel als der "weiße Schwan des Hauses" bezeichnet wird. Sicher, es finden sich hübsche und witzige Miniaturen darunter, doch alles in allem erinnert das Unternehmen doch ziemlich an die Übungen von Schreibschülern bei einem Wochenendseminar, die mal mehr, mal weniger geglückt ausfallen.
Im dritten Band nun, "Im Frühling", hat der Autor erfreulicherweise von Stühlen, Zahnbürsten und Q-Tips abgelassen und sich wieder ganz sich selbst und der Familie gewidmet. Was als Brief an ein ungeborenes Kind begann, ist zu einem ausführlicheren Schreiben an ein drei Monate altes Mädchen geworden, das er manchmal in der Du-Form anspricht, manchmal auch zu vergessen scheint, was dem Lesefluss gar nicht schadet. Knausgård erklärt nämlich auch sich selbst die Welt, und wenngleich dies nicht mehr ganz so hadernd und emotional wie bisher geschieht, wirkt es doch, als sei er damit wieder bei sich selbst angekommen. Szenen aus dem Alltag werden abgelöst von den für ihn typischen, geradezu brillanten Naturschilderungen, daneben finden sich Überlegungen, die allgemeiner klingen. "Immer öfter stelle ich mir vor, dass wir in zwei Wirklichkeiten leben", heißt es da beispielsweise, "einer physischen, materiellen, biologischen, chemischen, das ist die Welt der Dinge und der Körper, die wir vielleicht Wirklichkeit ersten Grades nennen können, und einer abstrakten, immateriellen, sprachlichen und gedanklichen, das ist die Welt der Beziehungen und des Zwischenmenschlichen, die wir die Wirklichkeit zweiten Grades nennen wollen." Dies hätte, heißt es dann, "einfach und überschaubar" sein können, allerdings nur dann, wenn diese Welten nebeneinander existierten, was sie aber nicht täten, denn "die eine existiert in der anderen". Ganz nebenbei hat sich damit auch geklärt, weshalb die Beschreibung von Alltagsgegenständen ihm nicht besonders lange als Thema taugte.
Das Thema Schuld taucht mehrfach auf - und in ganz neuem Gewand: In der Mammutbiographie noch rasende Selbstquälerei, ist es nun akzeptierter Bestandteil seines - und eines jeden - Lebens geworden: "Ich denke immer öfter, dass man keine Wahl hat, dass man die auftauchenden Situationen auf der Basis dessen meistert, wer man ist, und dass der Mensch, der man ist, aus den Situationen entsteht, in denen man im Laufe seines Lebens gewesen ist, und die man gemeistert hat." So heißt es weiter vorne im Buch, an die kleine Ann gerichtet: "Genau deshalb habe ich geschrieben, dass der Selbstbetrug das Menschlichste von allem ist. Der Selbstbetrug ist keine Lüge, er ist eine Überlebensstrategie. Auch du wirst dich selbst betrügen, es geht nur darum, in welchem Maße, und der einzige Rat, den ich dir geben kann, lautet, dass du versuchen musst, nicht zu vergessen, dass andere das Gleiche wie du auf eine völlig andre Art und Weise sehen und erleben können und dass dies ihr gutes Recht ist." Natürlich verteidigt der Autor hier auch rückblickend die Anfeindungen seiner im autobiographischen Zyklus vorkommenden Angehörigen, die darauf bestürzt, beleidigt und gekränkt reagierten.
Vor diesem Hintergrund liest sich der interessanteste Teil des "Frühling"-Buches so irritierend: jene Passagen, in denen der Autor eine neue Depressionsphase seiner bipolaren Frau schildert (Linda heißt sie, wir kennen sie bereits aus früheren Werken). Knausgård, so hören wir, ist erst einmal ordentlich verärgert über ihren erneuten Ausfall, die ihn mit drei Kindern und der Arbeit im Haushalt allein lässt. Zudem stellt Linda die geplante Reise der ganzen Familie zu einem seiner Lese-Auftritte in Frage, die er, so schreibt er, organisiert hat, um seinen Kindern "schöne Erinnerungen" zu verschaffen. Das klingt ein wenig absurd, da eine gesunde oder zumindest gesündere Mutter vermutlich für die Kinder wichtiger wäre. Wir erfahren, dass die Depressive einmal aus dem dunklen Zimmer zu ihm in die Küche kommt und umarmt werden will - und ihr Mann ihr diese Umarmung verweigert, woraufhin sie sich wieder ins Bett verkriecht.
Zwei Tage lang lässt ihr Mann sie dort "schlafen", wie er meint, um weiter heldenhaft im Haushalt herumzuwerkeln - das Setting erinnert auf bestürzend verdrehte Art und Weise an den Ansatz des Buches, leblose Dinge zu beschreiben. Als er sie dann nun endlich doch aufwecken will, nach sage und schreibe zwei vollen Tagen, gelingt ihm dies nicht. Er bemerkt die leere Schlaftablettenpackung neben dem Bett und ruft den Notarzt. Diese Begebenheiten sind bei weitem nicht so eindringlich und brennend erzählt wie jene aus der Autobiographie, in der es um eigentlich weit nebensächlichere Angelegenheiten geht, wenn es etwa für den jungen Mann das Wichtigste auf der Welt zu sein scheint, ein erfolgreicher Musikrezensent zu werden - und Knausgård den Leser durch sein schriftstellerische Können tatsächlich auch davon zu überzeugen imstande ist.
Auch hier ergreift man, lesend, fast automatisch Partei für den überforderten Ehemann. Ist es dem Respekt Knausgårds vor seiner Frau geschuldet, dass kaum von ihr als Person und sehr wenig über ihre Krankheit zu erfahren ist, dass sich der Autor ausgerechnet hier weitgehend ohne Empathie zeigt? Sein Kampf und ihr Kämpfen - es scheint kaum eine Schnittfläche zu geben. Oder befolgt er, der doch so gerne Grenzen überschreitet, ausgerechnet hier stur das Regelwerk für Angehörige psychisch Erkrankter? Wurden diese Teile des Buchs gegengelesen und nur so zur Veröffentlichung freigegeben? Es stellen sich Fragen von Ethik und Ästhetik, die schwer zu beantworten sind.
Linda ist ebenfalls Schriftstellerin - und zwar eine ausgezeichnete, man lese nur ihren im vergangenen Jahr in deutscher Sprache erschienenen Roman "Willkommen in Amerika". Millionen von Knausgård-Lesern kennen sie und haben dank der Schilderung ihres Ehemanns miterleben dürfen, wie sie in den Wehen lag. Jene Linda Boström Knausgård hat wortlos sein Glückskonzept gesprengt; ihre Geschichte erzählt das Leben als das, was es auch ist: eine Tragödie. Ob es zu ihrer Genesung beitragen wird, diese Passagen nun über sich selbst zu lesen, ist allerdings fraglich.
SILKE SCHEUERMANN
Karl Ove Knausgård:
"Im Frühling". Mit Bildern von Anna Bjerger.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2018. 256 S., geb., Abb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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