Sprach- und menschheitsgeschichtlich sind «Freunde» ursprünglich Menschen, die man liebt, weil sie im weitesten Sinne zur Familie gehören. Die Menschheit machte einen Riesenschritt in ihrer Entwicklung, als sie den Ausdruck «Freund» auf frei gewählte Beziehungen übertrug. Die Chemie der Freundschaft, heißt es, sei die Alchemie des Glücks. Geheimnisvoll, unergründlich, unerschöpflich und ein Dauerthema der Philosophie und Kunst, ist die Freundschaft auch ein Lebensthema Iso Camartins. In seinem neuen Buch, das auch einen reizvollen erzählerischen Rahmen besitzt, lotet er es in alle Richtungen aus, beginnend mit der womöglich bangen Frage: «Taugst du zum Freund?» Ob Männerfreundschaft oder Frauenfreundschaft, Gast- oder Gottesfreundschaft, geistreich und gebildet, anschaulich und plastisch werden die Gesichtspunkte der Freundschaft erörtert und in mitunter sehr persönlicher Form abgehandelt. Auch falsche Freunde und Fallen der Freundschaft bleiben nicht ausgespart. Ein großes, anregendes und klug erzähltes Kompendium der Freundschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2012Von Seldwyla nach Samarkand
Freunde sein: Der Schweizer Iso Camartin durchstreift die abendländische Kultur auf der Suche nach Werken, die von Freundschaft erzählen. Seine Funde sind bemerkenswert.
Manch arbeitsloser Aspirant auf üppiges Einkommen und anregende Beschäftigung mag bei der Anzeige aufgehorcht haben: Gesucht wird nach einem Sekretär für den Herrn Großmogul Din Mahmud, dessen Reich mit seiner Hauptstadt Samarkand in den Tiefen Asiens zu finden sein soll. Wer es nicht glaubt, der frage Iso Camartin, der in Zürich Professor für rätoromanische Literatur und Kultur war und seit seiner Emeritierung als Leiter des Deutschschweizer und rätoromanischen Fernsehens sowie als freischaffender Publizist tätig ist. In seiner kreativen Phantasie ist es von Seldwyla nach Samarkand nicht weit. Nur hat er es nicht auf einen Wettstreit mit Gottfried Keller angelegt, obwohl auch er durchaus Talent zum phantasievollen Unernst besitzt wie weiland der Zürcher Stadtschreiber.
Camartin ist ein Gelehrter, belesen in der reichen Kultur des Abendlandes, für die die kleine Schweiz sich auch selbst gern als der rechte Sammelpunkt betrachtet. Ein Schweizer, ein Graubündner, um genau zu sein, ist deshalb wohl auch der anonyme Held von Camartins Buch; eine junge Dame wird später mit diesem Helden vereinbaren, ihn, den ältlichen Junggesellen, Grigione nennen zu dürfen. Mehr erfahren wir nicht über den gelehrten Berichterstatter zum Thema Freundschaft in der Weltgeschichte. Nur drängt es ihn weniger nach Samarkand als zum Dom von Siena mit dessen wundervollem Marmorboden oder nach Mallorca oder zur Villa Careggi bei Florenz. Bei solchen Erkundungen findet er schließlich in Venedig unerwartet sogar eine Freundin, aber bitte wirklich nur Freundin, die ihn zum Bleiben bewegt, weshalb Samarkand in unerreichter Ferne bleibt, ein Ort, von dem die Bulletins der Touristen ohnehin nichts Verlockendes zu berichten haben.
Camartin nimmt uns stattdessen mit an den Canal Grande oder nach Sizilien zum Fürsten Tomasi di Lampedusa, zur Abwechselung aber auch nördlich hinauf zu Hamlet und Henry James, östlich zu Dostojewski, und überall klingt Musik in diesem Buch, zum Ohrenöffnen für Bach, Mozart und vor allem für Brahms' Doppelkonzert als Hymne der Freundschaft. Und sind womöglich auch die Davidsbündlertänze Robert Schumanns ein Monument der Freundschaft in der Musik?
Camartins Buch ist ein Preisgesang auf die abendländische Kultur mit all den Facetten ihres Reichtums, so wie sie sich im Kopf eines weltoffenen Europäers, eines Schweizers, spiegeln, der hier zwar seinen Respekt für die fremde Opulenz eines fernen, märchenhaften Reichtums bezeugt, aber ohne die Sehnsucht nach den Verlockungen von Tausendundeiner Nacht. Eine Scheherezade allerdings gehört eben trotz aller Vorsätze auch zu seinem Personal, nur heißt sie Stella und ist jene venezianische Freundin, die jenseits aller Weisheiten abendländischen Denkens sich selbst als das stärkste Argument zum Thema Freundschaft anzubieten hat mit der Losung: "Wage mit mir die Freundschaft, und dann sehen wir zu, ob wir noch die Liebe brauchen." Grigione ist bereit, sich überzeugen zu lassen: Mit einer Frau, die sich mehr fürs Marmeladekochen als für Musik interessiert, könne ein Schweizer Arbeitsuchender unmöglich befreundet sein - ebenso wenig wie mit einem Mann, dessen Ehrgeiz darin besteht, die Stürmer des AC Milan bei allen Länderspielen seit der Gründung des Vereins mit vollem Namen herzusagen. Die vorsichtige Frage bleibt, ob nicht auch intelligente und musikalische Frauen gute Marmelade kochen können, die sie und der Liebste am Morgen danach auf das Brötchen streichen.
Aber ein Netz dichter Logik hält dieses Buch nicht zusammen, es ist vielmehr ein Bravourgang durch die europäische Kultur - Baukunst, Malerei, Literatur, Musik. Und mehrfach erscheint auch "der große Königsberger", für den man, wie uneitel Kant auch gewesen sein mag, doch lieber um seinen richtigen Namen bitten möchte. Differenzierungen zum Thema Freundschaft sind nötig, so diejenige zwischen Kameraderie und Geselligkeit, also den "Seilschaften" voll feixenden oder grölenden Witzes, die hier als "Feuchtgebiete der Brüderlichkeit" deklariert und somit weit abgerückt werden von jedem Versuch, sie mit Freundschaft zu verwechseln. Camartins Buch ist reich an derartigen Einzelbeobachtungen, denn es ist kein Lehrbuch zur praktischen Handhabung von Freundschaft, sondern eher ein Kompendium oder gar ein Reiseführer durch ein Land, von dem sich aber keine Landkarten anlegen lassen. Und darin liegt wohl der besondere Vorzug dieses Buches: Wir nehmen beim Lesen teil an einem Ausflug in ein zwar bekanntes Territorium, über das jedoch viele unklare Vorstellungen existieren. Bei Camartins kluger Führung eröffnen sich überall neue Ausblicke, ohne je systematische Anleitung zum Handeln werden zu sollen.
Wir besitzen Standardwerke zur Geschichte des Denkens. Zu derjenigen des Fühlens jedoch gibt es noch wenig, und hier eben findet Camartins Buch seinen Ort. Nicht einen Leitfaden erstrebt er, sondern, versehen mit der Fülle solider Sachkenntnis in der ganzen Breite europäischer Kultur, führt er seine Leser durch große und noch weithin unabgesteckte Reviere des Empfindens. Eine Fülle bekannter wie weniger bekannter Namen öffnet den Blick auf Gedanken und Werke unter der Perspektive des selbstgesetzten Themas Freundschaft, dessen Komplexität und Typologie sich erst allmählich enthüllt und - zum Dableiben einlädt. Der Großmogul muss wenigstens ein Jahr warten, bis sich der Herr Sekretär abermals Gedanken über das Amt in Zentralasien machen will. Aber da die schöne Stella in Europa bleibt, wird sich der Herr Großmogul am Ende anderweitig umsehen müssen.
GERHARD SCHULZ
Iso Camartin: "Im Garten der Freundschaft". Eine Spurensuche.
C.H. Beck Verlag, München 2011. 299 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Freunde sein: Der Schweizer Iso Camartin durchstreift die abendländische Kultur auf der Suche nach Werken, die von Freundschaft erzählen. Seine Funde sind bemerkenswert.
Manch arbeitsloser Aspirant auf üppiges Einkommen und anregende Beschäftigung mag bei der Anzeige aufgehorcht haben: Gesucht wird nach einem Sekretär für den Herrn Großmogul Din Mahmud, dessen Reich mit seiner Hauptstadt Samarkand in den Tiefen Asiens zu finden sein soll. Wer es nicht glaubt, der frage Iso Camartin, der in Zürich Professor für rätoromanische Literatur und Kultur war und seit seiner Emeritierung als Leiter des Deutschschweizer und rätoromanischen Fernsehens sowie als freischaffender Publizist tätig ist. In seiner kreativen Phantasie ist es von Seldwyla nach Samarkand nicht weit. Nur hat er es nicht auf einen Wettstreit mit Gottfried Keller angelegt, obwohl auch er durchaus Talent zum phantasievollen Unernst besitzt wie weiland der Zürcher Stadtschreiber.
Camartin ist ein Gelehrter, belesen in der reichen Kultur des Abendlandes, für die die kleine Schweiz sich auch selbst gern als der rechte Sammelpunkt betrachtet. Ein Schweizer, ein Graubündner, um genau zu sein, ist deshalb wohl auch der anonyme Held von Camartins Buch; eine junge Dame wird später mit diesem Helden vereinbaren, ihn, den ältlichen Junggesellen, Grigione nennen zu dürfen. Mehr erfahren wir nicht über den gelehrten Berichterstatter zum Thema Freundschaft in der Weltgeschichte. Nur drängt es ihn weniger nach Samarkand als zum Dom von Siena mit dessen wundervollem Marmorboden oder nach Mallorca oder zur Villa Careggi bei Florenz. Bei solchen Erkundungen findet er schließlich in Venedig unerwartet sogar eine Freundin, aber bitte wirklich nur Freundin, die ihn zum Bleiben bewegt, weshalb Samarkand in unerreichter Ferne bleibt, ein Ort, von dem die Bulletins der Touristen ohnehin nichts Verlockendes zu berichten haben.
Camartin nimmt uns stattdessen mit an den Canal Grande oder nach Sizilien zum Fürsten Tomasi di Lampedusa, zur Abwechselung aber auch nördlich hinauf zu Hamlet und Henry James, östlich zu Dostojewski, und überall klingt Musik in diesem Buch, zum Ohrenöffnen für Bach, Mozart und vor allem für Brahms' Doppelkonzert als Hymne der Freundschaft. Und sind womöglich auch die Davidsbündlertänze Robert Schumanns ein Monument der Freundschaft in der Musik?
Camartins Buch ist ein Preisgesang auf die abendländische Kultur mit all den Facetten ihres Reichtums, so wie sie sich im Kopf eines weltoffenen Europäers, eines Schweizers, spiegeln, der hier zwar seinen Respekt für die fremde Opulenz eines fernen, märchenhaften Reichtums bezeugt, aber ohne die Sehnsucht nach den Verlockungen von Tausendundeiner Nacht. Eine Scheherezade allerdings gehört eben trotz aller Vorsätze auch zu seinem Personal, nur heißt sie Stella und ist jene venezianische Freundin, die jenseits aller Weisheiten abendländischen Denkens sich selbst als das stärkste Argument zum Thema Freundschaft anzubieten hat mit der Losung: "Wage mit mir die Freundschaft, und dann sehen wir zu, ob wir noch die Liebe brauchen." Grigione ist bereit, sich überzeugen zu lassen: Mit einer Frau, die sich mehr fürs Marmeladekochen als für Musik interessiert, könne ein Schweizer Arbeitsuchender unmöglich befreundet sein - ebenso wenig wie mit einem Mann, dessen Ehrgeiz darin besteht, die Stürmer des AC Milan bei allen Länderspielen seit der Gründung des Vereins mit vollem Namen herzusagen. Die vorsichtige Frage bleibt, ob nicht auch intelligente und musikalische Frauen gute Marmelade kochen können, die sie und der Liebste am Morgen danach auf das Brötchen streichen.
Aber ein Netz dichter Logik hält dieses Buch nicht zusammen, es ist vielmehr ein Bravourgang durch die europäische Kultur - Baukunst, Malerei, Literatur, Musik. Und mehrfach erscheint auch "der große Königsberger", für den man, wie uneitel Kant auch gewesen sein mag, doch lieber um seinen richtigen Namen bitten möchte. Differenzierungen zum Thema Freundschaft sind nötig, so diejenige zwischen Kameraderie und Geselligkeit, also den "Seilschaften" voll feixenden oder grölenden Witzes, die hier als "Feuchtgebiete der Brüderlichkeit" deklariert und somit weit abgerückt werden von jedem Versuch, sie mit Freundschaft zu verwechseln. Camartins Buch ist reich an derartigen Einzelbeobachtungen, denn es ist kein Lehrbuch zur praktischen Handhabung von Freundschaft, sondern eher ein Kompendium oder gar ein Reiseführer durch ein Land, von dem sich aber keine Landkarten anlegen lassen. Und darin liegt wohl der besondere Vorzug dieses Buches: Wir nehmen beim Lesen teil an einem Ausflug in ein zwar bekanntes Territorium, über das jedoch viele unklare Vorstellungen existieren. Bei Camartins kluger Führung eröffnen sich überall neue Ausblicke, ohne je systematische Anleitung zum Handeln werden zu sollen.
Wir besitzen Standardwerke zur Geschichte des Denkens. Zu derjenigen des Fühlens jedoch gibt es noch wenig, und hier eben findet Camartins Buch seinen Ort. Nicht einen Leitfaden erstrebt er, sondern, versehen mit der Fülle solider Sachkenntnis in der ganzen Breite europäischer Kultur, führt er seine Leser durch große und noch weithin unabgesteckte Reviere des Empfindens. Eine Fülle bekannter wie weniger bekannter Namen öffnet den Blick auf Gedanken und Werke unter der Perspektive des selbstgesetzten Themas Freundschaft, dessen Komplexität und Typologie sich erst allmählich enthüllt und - zum Dableiben einlädt. Der Großmogul muss wenigstens ein Jahr warten, bis sich der Herr Sekretär abermals Gedanken über das Amt in Zentralasien machen will. Aber da die schöne Stella in Europa bleibt, wird sich der Herr Großmogul am Ende anderweitig umsehen müssen.
GERHARD SCHULZ
Iso Camartin: "Im Garten der Freundschaft". Eine Spurensuche.
C.H. Beck Verlag, München 2011. 299 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Beatrice Eichmann-Leutenegger schätzt Iso Camartins "Im Garten der Freundschaft" als eine "Oase des gelassenen Denkens", in der sie gern verweilt. In eine reizvolle Rahmenerzählung eingebettet, entfaltet der Autor für sie eine anregende Kultur- und Geistesgeschichte der Freundschaft: bedeutende Orte und Gestalten der Freundschaft kommen zur Sprache, aber auch falsche Freunde und Fallen für die Freundschaft. Zudem findet Eichmann-Leutenegger in dem Buch immer wieder gelehrte Exkurse in die Literatur. Für den schnellen Leser scheint ihr das Buch weniger geeignet, sind die Ausführungen doch häufig detailliert und von einiger "Tiefe und Stringenz".
© Perlentaucher Medien GmbH
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