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Hans Magnus Enzensberger erklärt, warum Intelligenztests so wenig mit Intelligenz zu tun haben
Ganz am Ende seines spritzigen Büchleins über die Idiotie von Intelligenztests scheint Hans Magnus Enzensberger von der Ahnung beschlichen zu werden, er könne seine schriftstellerische Energie ans falsche Thema verschwendet haben, die Ahnung, das gewählte Thema "Intelligenztests" sei möglicherweise doch keine glückliche Wahl gewesen. Schreibt Enzensberger in seinem "Idiotenführer" - so der Untertitel vom "Irrgarten der Intelligenz" - gegen Ende doch vollkommen richtig: "Spätestens seitdem die Diskurshoheit auf die Gehirnforschung und die Kognitionswissenschaft übergegangen ist, macht die experimentelle Psychologie einen reichlich altbackenen Eindruck." Altbacken - das ist genau der richtige Ausdruck für das Spitzenprodukt der guten alten experimentellen Psychologie: für den Intelligenztest. Intelligenztests haben etwas Altbackenes. Genau deshalb entgeht aber auch die Kritik von Intelligenztests nicht dem Eindruck des Altbackenen.
Die IQ-Tests - daran erinnert Enzensberger selbst - sind wegen ihres sozialen Selektionsanspruchs ja längst aus dem offiziellen Verkehr der Leistungsbewertung gezogen worden. So hat etwa die amerikanische Rechtsprechung ihre Verwendung "stark eingeschränkt", räumt Enzensberger ein. "Unternehmen und Schulen ist es seit 1971 verboten, ihre Entscheidungen mit IQ-Messungen zu begründen, wenn es um Arbeits- und Studienplätze geht."
Falsch vermessen
Intelligenztests haben heute nur noch den Rang einer Marotte. Der von Enzensberger breit zitierte Stephen Jay Gould hat in seinem Buch "Der falsch vermessene Mensch" schon vor Jahren alles dazu gesagt. Als sozialer Mechanismus, der sie einmal waren, haben Intelligenztests längst ausgedient. Und als akademischer Diskursschlager sind sie in den Hoheitsgewässern von Gehirnforschung und Kognitionswissenschaft untergegangen.
Wäre es ebendrum im Jahre 2007 nicht cooler gewesen, Maulwurfsarbeit auf dem Hoheitsgebiet der angesagten Disziplinen Gehirnforschung und Kognitionswissenschaft zu leisten, statt der guten alten experimentellen Psychologie noch mal eins überzubraten? Warum den ganzen Enzensberger-Apparat gegen einen Gegner in Stellung bringen, der schon am Boden liegt? Ist das für die abgetakelten Intelligenztests, die ihre Hochzeit in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten, nicht der Ehre zu viel? Und fürs Aufklärerimage Enzensbergers der Ehre entschieden zu wenig? Was hat den Aufklärer von jeweils heute zu dem Thema von gestern verführt? War's das Wörtchen "Intelligenz", das in "Intelligenztest" steckt? War's das Begehren, mit seinem "Idiotenführer" auch noch den letzten Vollidioten davon zu überzeugen, dass er, Hans Magnus Enzensberger, in Intelligenzfragen immer noch ein Wörtchen mitzureden hat?
Enzensberger sieht sehr klar den Balken in seinem Auge, während er den Splitter im Auge der Intelligenzforscher wahrnimmt. "Aber in unserem Fall", schreibt er im Anschluss an die Parabel des Evangelisten, "ist es leider nicht klar, wie sich ein solcher Fehler vermeiden ließe. Denn nur, wer sich selber für intelligent hält, wird sich für berechtigt halten, über die Intelligenz seiner Mitmenschen zu urteilen. Damit begibt er sich auf eine Metaebene, und das ist bedauerlicherweise nur der Anfang. Denn dasselbe gilt auch für den, der über den Urteiler urteilt: er riskiert einen infiniten Regress. Somit läuft er, wie die, von denen er spricht, Gefahr, dass die rekursive Falle über ihm zuschnappt. Nur ein gewisser Mangel an logischer Stringenz kann somit den vorliegenden Text vor diesem Los bewahren."
Sage also keiner, Enzensberger wisse nicht, was er tut, wenn er es unternimmt, über die Intelligenz von Intelligenzforschern zu richten. Wer schreibt, wird schuldig, mag der Aufklärer denken. Aber ist es unter intelligenten Leuten nicht aus gutem Grunde verboten, über Intelligenz zu urteilen? Wer möchte schon mit ansehen, dass die Falle über ihm zuschnappt? Dass andere Leute Anlass haben, zu denken, jemand halte sich selbst für intelligent? Schnapp! Dann wäre der Intelligente der Dumme. Gehört es, anders gefragt, nicht zum guten Ton der Intelligenten, die Eitelkeit intelligent zu kaschieren? Enzensberger kaschiert sie nicht, sondern lässt sie - mit einem gewissen Mangel an logischer Stringenz - kokett raushängen. Das mag man als unintelligenten Stilbruch tadeln. Oder als Altersweisheit loben. So oder so: Ein Prosit auf den Idiotenführer!
Kurzweilig ist er allemal. Man lernt in diesem "Irrgarten der Intelligenz", wie die Leute aus dem neunzehnten Jahrhundert hießen - Alfred Binet und Theodore Simon -, welche auf die Idee gekommen waren, etwas zu messen, was bis dahin nie beziffert worden war: die Intelligenz. Man erfährt, dass erst deren Nachfolger William Stern, der 1912 das Begriffsmonster des Intelligenzquotienten erfunden hatte, aufs Ganze ging. Millionenfach wurden Intelligenztests dann im Ersten Weltkrieg angewendet, und zwar vom amerikanischen Militär: "Wo lässt sich ein Rekrut am besten einsetzen? Wer ist ein brauchbarer Kandidat für die Offiziersausbildung? 1750000 Wehrpflichtige sollen damals auf diese Weise ausgesiebt worden sein." Durchgesetzt, so Enzensberger weiter, hat sich am Ende ein in Stanford entwickelter Test, der immer wieder revidiert worden ist und bis heute verwendet wird.
Schreiend weltfremd
Schön, hier im Einzelnen nachlesen zu können, warum der Intelligenztest nicht hinhaut, nicht hinhauen kann. Auf den Seiten 32 und 33 hat Enzensberger alles Wichtige dazu niedergelegt. Er erinnert an das schreiend Weltfremde des Testzugriffs auf die Welt. "Gemeinsam ist allen Rätselfragen, die der Test stellt, dass sie in der Regel nur eine einzige richtige Antwort zulassen", heißt es da. "Das ist im Grunde ziemlich seltsam; denn in der wirklichen Welt sind solche Situationen die Ausnahme. Ganz gleich, um was es bei unseren Entscheidungen geht - um eine Bewerbung, einen Wahlkampf, eine Scheidung, einen Mietvertrag -, stets haben wir es mit zahlreichen Variablen zu tun, die noch dazu wechselseitig voneinander abhängen. Sie sind mit einem Wort komplex."
Die Testwelt ist eine Welt des Denksports und der Knobelei. Aber sie ist nicht komplex. Sie hat keinen Resonanzboden. Sie setzt auf Reaktionsschnelle im Planen und Linearen. In ihr werden Zielkonflikte und zeitliche Dimensionen ignoriert. In ihr läuft alles rund. Was nicht passt, wird gar nicht erst abgefragt. Nichts wird hier abgerungen, weder dem Schmerz noch dem Nichts, noch ähnlich starken widerstrebenden Kräften. Nein, die Testwelt ist keine schöne neue Welt. Nicht eine solche, in der man leben, lachen und ein Sofa aufstellen möchte. Die Welt der Intelligenztests lässt die Intelligenz, diese verjüngende, belebende Kraft, alt aussehen. Was für eine olle Knobel-Idiotie.
CHRISTIAN GEYER
Hans Magnus Enzensberger: "Im Irrgarten der Intelligenz". Ein Idiotenführer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 59 S., br., 7,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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