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Diese Sprache ist ein Ozean und die jiddische Literatur eine versunkene Stadt: Gilles Roziers Roman "Im Palast der Erinnerung" beschwört uralte Geheimnisse herauf.
Von Jürg Altwegg
Das erste Wort hat eine Frau. Der junge Mann hat sie gebeten, ihre Erinnerungen heraufzubeschwören. Von einer "für immer versunkenen Welt" soll sie erzählen. An einen Markt, auf dem es nach Kohl riecht, erinnert sie sich. An die Hühner in ihren Käfigen und an die Heringe in ihren Fässern. Aus dem "Tabakdunst im Literatenverein" tauchen Bilder auf: Hier war sie als kleines Kind zwischen "den Stiefeln eines Dichters aus Galizien und eines Romanautors aus dem Warschauer Armenviertel" herumgekrabbelt. Das Leben und die Literatur dieser vergessenen Poeten sind Gegenstand von Gilles Roziers Roman "Im Palast der Erinnerung".
Nicht in Paris, vielleicht in Polen oder sonst irgendwo taucht die alte Frau in ihre Erinnerungen. Sie sind ihr Biotop. Sicher lebt sie nicht auf dem Lande, wo sie "beim Anblick des Himmels in Panik gerät". Er ist ihr einziger Horizont. Eine "Digitaluhr" zählt die Neugeborenen und die Toten, sie ist ein erster Hinweis auf eine nicht allzu ferne Gegenwart. Keiner kann den Sprüngen ihrer Zeiger folgen: "Ich spreche von Schätzwerten. Der letzte Kriegsveteran von Verdun war auf allen Titelseiten, aber niemand hat vom letzten Mitglied des Vereins gesprochen", des Jiddischen Literaten- und Journalistenvereins in Warschau. Hirsch-Dovid Nomberg, Hillel Zeitlin, Israel-Joshua Singer, Itsche Mejer Weissenberg gehörten ihm an. Auch die Dichterin Rochl Korn.
Der junge Mann, an den sie berichtet, lebt in Paris. Wochen vor seinem Abitur sterben kurz nacheinander die Eltern. "Ich war plötzlich allein und wusste nichts über meine Familie." Aus den Papieren, um die er sich nun kümmern muss, erfährt er, dass seine Mutter in Warschau geboren war. Sie hatte nie davon und auch nie ein Wort Polnisch gesprochen. Und dass es eine Großmutter namens Anna Janowska gab. Sprach sie Jiddisch?
Der verwaiste, heimatlose Pariser mit polnischen Vorfahren war auf den Namen Pierre getauft worden. Er absolviert eine französische Eliteschule und arbeitet bei einer Bank, die er schnell wieder verlässt. Nur Anna Janowska interessiert ihn. Er lernt Jiddisch. Bei einem Bouquinisten entdeckt er einen Band mit Zeichnungen von Marc Chagall: "Khaliastra". Es handelt sich um eine Zeitschrift, von der nur zwei Ausgaben erschienen waren, je eine in Polen (1922) und Frankreich (1924). Während "dichter Regen auf das Pariser Pflaster prasselte", liest Pierre im Stehen ein paar Zeilen, "jiddisch, nicht hebräisch". Uri-Zwi Grinbergs Gedicht "Die Welt am Abgrund" wird zur Offenbarung: "Dieser zornige Mann war ich." Pierre ist neben der alten Dame Sulamita der zweite Ich-Erzähler in Gilles Roziers reichem Roman.
Rozier wurde 1963 in der Nähe von Grenoble geboren. Er besuchte eine berühmte Handelsschule und arbeitete danach in Jerusalem. Er will Hebräisch und Jiddisch sprechen, die Sprache seines polnischen Großvaters, der Deutschlehrer war und in Auschwitz starb. "Um sie zu erlernen, ,entlernte' ich Deutsch, obwohl ich die Sprache von Goethe und Goebbels gut beherrschte", schreibt Rozier auf seiner Website. Er arbeitete bei einer Bank, als Vertreter beim Medienkonzern Hachette und im Einkauf eines großen Warenhauses. Lieber wandte er sich wieder dem Studium zu. Heute leitet er die Zeitschrift "Gilgulim" und das "Haus für Jiddische Kultur" in Paris.
Für Pierre wird Sulamita zum Ebenbild der Großmuter. Sie wiederum projiziert ihre verlorene Jugendliebe auf ihn. Aus dem Erinnern und Vermitteln entsteht eine Liebe wie in "Harold und Maude". Auf großartige Weise erzeugt Gilles Rozier intensive Stimmungen. "Diese Sprache ist ein Ozean, ihre Literatur eine versunkene Stadt": Rozier erschließt diese Welt in den Porträts dreier Schriftsteller. Neben Grinberg sind es Melech Rawicz und Peretz Markish. "Mutter, wir kommen aus einem Land ohne Liebe", hatte Pierre im Regen in Grinbergs Gedicht gelesen.
Die drei Poeten lebten - ausschweifend - im Warschau der zwanziger Jahre. "Keine gute Literatur ohne Alkohol. Auch keine schlechte." Die Geschichte trennte sie. Grinberg ging nach Palästina, schrieb fortan Hebräisch und wurde als ultranationalistischer Abgeordneter in die Knesset gewählt. Er ist in Jerusalem begraben. Ravicz verschlug es nach Montreal, er starb 1976. Peretz Markish flüchtete vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Er wurde als Propagandist des Regimes mit dem Leninpreis geehrt und fiel 1952 in der Verbannung dem antisemitischen Delirium Stalins zum Opfer.
"In einem Land ohne Liebe" lautet der Titel des französischen Originals mit vielen Zitaten, die aus dem Jiddischen und Hebräischen übersetzt wurden. "Der Palast der Erinnerung", nach dem die deutsche Übersetzung benannt wurde, ist der Ort, in dem sich Pierre und Sulamita treffen. Er steht in Rom, wo Sulamita ein achtbändiges Lexikon der jiddischen Literatur auf den jeweils neusten Stand bringt: Die Dichter "hören nicht auf zu sterben, nur in eine Richtung lassen sie sich zählen", rückwärts. Nach ihrem Tod sollen in ihrem Palast Wasser und Strom noch während Jahren fließen. Die Haushälterin bekommt eine Rente, solange sie der Welt Salumitas Ableben verschweigt. Für die Zeit danach hat Gilles Rozier das Vermächtnis auf sich genommen. Was er mit seinem Roman leistet, kann nur mit einem Zitat aus dem Buch selbst gesagt werden: "Die Toten erwachen zum Leben."
Gilles Rozier: "Im Palast der Erinnerung". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer; aus dem Jiddischen von Nici Graça und Esther Alexander-Ihme; aus dem Hebräischen von Ruth Melcer. Die andere Bibliothek, Berlin 2012. 440 S., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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