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George Steiner ist ein Mann von Welt und umfassender Bildung, was sich in seiner Lebensgeschichte spiegelt: Er wurde 1929 in Paris geboren und lehrt nach Stationen in Genf und Cambridge seit 1994 Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Oxford. Wer nur einige seiner zahlreichen, meist ins Deutsche übersetzten Bücher und Artikel kennt, der weiß, dass ihm kein bedeutender Autor fremd, kein kulturelles Problem zu schwierig ist. Auch die nun auf Deutsch publizierten Rezensionsessays, die zwischen den späten sechziger und frühen neunziger Jahren in der Zeitschrift "The New Yorker" erschienen sind, widmen sich nur den großen Autoren, in diesem Falle des 20. Jahrhunderts, aus England, Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich (George Steiner: "Im Raum der Stille". Lektüren. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2011. 272 S., geb., 22,80 Euro).
In der Mehrzahl sind es Autobiographien wie in den Beiträgen zu Bertrand Russell, Thomas Bernhard, Claude Lévi-Strauss oder Elias Canetti, in einigen Fällen auch Briefeditionen wie bei Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Gershom Scholem. Hinzu kommen Werkausgaben in englischen Übersetzungen wie bei Paul Celan und E.M. Cioran, dessen Aphoristik Steiner mit ungewöhnlicher Schärfe kritisiert.
Die Darlegungen selbst sind zum Teil amüsant, wenn Steiner auf Skurrilitäten der Autoren zu sprechen kommt, zum Teil auch lehrreich, wenn er sie in die abendländische Tradition einreiht und dabei nicht nur Vorbilder mit Namen nennt, was nicht selten geschieht. In einigen Fällen aber wären editorische Anmerkungen oder Ergänzungen - zumindest in den Fußnoten, in denen die Zitate nach deutschen Ausgaben nachgewiesen sind - sinnvoll gewesen. Denn in den Jahrzehnten, die zwischen der ersten Veröffentlichung und dem Wiederabdruck der Beiträge liegen, hat sich der Wissenstand bei einigen Autoren doch erheblich gewandelt.
Dies gilt vor allem für Albert Speer, von dem man inzwischen nur zu gut weiß, wie raffiniert er in den "Erinnerungen" und den "Spandauer Tagebüchern", deren englische Übersetzung Steiner 1976 rezensierte, seine Rolle im Nationalsozialismus beschönigt hat. Anders als Steiner damals meinte, war er keineswegs jener kunstbegeisterte Architekt, der als Rüstungsminister nur Hitlers Befehle ausführte, sondern seit Anfang der vierziger Jahre aktiv am Ausbau der Konzentrationslager in den besetzten Gebieten sowie an der Deportation und Vernichtung der Juden beteiligt. Hier zumindest hätte man ein kurzes Nachwort zur Kritik falscher Ruhmbildung erwarten können.
Zwei Beiträge des Bandes sind Essays im klassischen Sinne, erkunden also mit Neugier und Waghalsigkeit Eigenheiten kultureller Phänomene: Im ersten Beitrag liefert Steiner Erklärungsmöglichkeiten für die Frage, warum Anthony Blunt, der einflussreichste Kunsthistoriker Englands, über Jahrzehnte hinweg für den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet hat. Im letzten Beitrag fragt er nach den Gründen der Leidenschaft für das Schachspiel, das auch in bedeutenden literarischen Werken von Zweig bis Nabokov seinen Ausdruck gefunden hat. In beiden Beiträgen zeigt sich auch Steiners Größe.
DETLEV SCHÖTTKER
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