Die deutsche Bildungspolitik glänzt durch Kurzatmigkeit und Reformeifer. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass die Kultusministerien umfangreiche Richtlinien und Erlässe verabschieden und deren prompte Umsetzung einklagen. Gleichbehandlung ist das Zauberwort, die Folgen ihrer Verwirklichung bleiben unreflektiert. Mittlerweile wird das Abitur als Instrument der sozialen Chancenverteilung betrachtet. Damit gerät die Schule unter enormen Erwartungsdruck. Geistlose Interpretationen von Statistiken und internationalen Vergleichen sind ein Indiz für die Orientierungslosigkeit hiesiger Bildungspolitik. An den Hochschulen schreitet die Bürokratisierung im Zuge des Bologna-Prozesses voran, hat sich die spezialisierte Forschung von der Lehre weitgehend abgekoppelt. Kommissionen werden berufen, die evaluieren und akkreditieren, und die Höhe der eingeworbenen Drittmittel entscheidet über akademische »Exzellenz«. Allmählich beginnt man, die Erhebungen der Pisa-Studie und die Folgen des Bologna-Prozesses zu hinterfragen. Jürgen Kaube beobachtet und kommentiert seit nunmehr 15 Jahren die Entwicklungen der deutschen Bildungspolitik. In einer Situation, in der die Ideale nicht mehr zu den Gegebenheiten passen, unternimmt er es, eine Antwort auf die Frage zu finden: Welche Bildung wollen wir?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2015JÜRGEN KAUBE, für das Feuilleton zuständiger Herausgeber dieser Zeitung, analysiert die Folgen der Dauerreformen, die unserem Bildungssystem seit Jahrzehnten zugemutet werden. Die Reformzwecke haben klangvolle Namen: "Bildung und Aufstieg für alle", "Wettbewerbsfähigkeit des Standortes" oder "Forschungsexzellenz". Die Reformwirklichkeit besteht in Ruckreden, Bürokratisierung, ständigen Richtungsänderungen und zermürbtem Lehrpersonal, dem dauernd neuer Konformismus abverlangt wird. Es fehlen realistische Einschätzungen, was Schule und Hochschule überhaupt leisten können und worin der Sinn von Bildung besteht. Die Beiträge des Bandes befassen sich unter anderem mit der Wirklichkeit des schulischen Unterrichts, der Universität als Reformorganisation und der Lage der Geisteswissenschaften in ihnen. (Jürgen Kaube: "Im Reformhaus". Zur Krise des Bildungssystems. Verlag Zu Klampen, Springe 2015. 174 S., geb., 18,- [Euro].)
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Harry Nutt hat sich vom FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube durch die Bildungsmisere und ihre Reformagenda führen lassen. Nutt hat seine Freude an den Ausführungen des Autors, da dieser, wie er schreibt, genau beobachtet und süffisant-bitter zu formulieren weiß. Auch wenn Kaube dem Rezensenten kaum Raum für Hoffnung auf einen Abschluss der Reformbemühungen lässt und traurig erkennt, wie sehr Unterrichtsstoff und Inhalte hinter der Schulsituation und dem Ziel einer Berufskarriere ins Hintertreffen geraten, findet Nutt das Buch allemal lesens- und bedenkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2015Dummerweise dürfen wir
nicht dumm bleiben
Jürgen Kaube seziert Bildungsgerede
Wenn eines Tages unter märkischem Sand riesige Vorkommen von Gold oder Erdöl gefunden und im Ruhrgebiet bisher übersehene Diamantenlagerstätten entdeckt würden, könnte man sich manche Mühe sparen. Die mit der Bildung zum Beispiel, auf die wir so viel geben, weil Deutschland ein rohstoffarmes Land ist und nur „unsere Köpfe“ hat. Dass man in Köpfe investieren müsse, weil sonst Nachteile auf dem Weltmarkt und Wohlstandsverluste drohen, gehört zu den in Bildungsreden bedenkenlos gebrauchten Argumenten. Soll man also all die Anstrengungen, etwas zu können und zu kennen, als eine Art Strafe betrachten, die den vom Schicksal wenig Begünstigten auferlegt ist?
„Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes“, schreibt Jürgen Kaube, der seit kurzem FAZ-Herausgeber ist und in diesem Jahr den Ludwig-Börne-Preis erhält. Trist wird die „gängige Bildungsrede“ für Kaube vor allem, weil „sie sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit“. Gewiss, da gebe es Zusammenhänge, das sei nicht zu leugnen. Aber hätte einer, der studiert und nicht aufsteigt, Zeit und Mühe vergeudet? „Das Elend der Bildungsdebatte liegt in der Unfähigkeit, die Schule als Schule und die Universität als Universität wertzuschätzen: ihre Anforderungen, ihren Eigensinn, ihre guten Traditionen.“
Wer das Elend der Bildungsdebatten näher betrachten will, ohne darüber den Verstand zu verlieren und seinerseits Bildungsreformer zu werden, der kommt an dieser Sammlung von Essays nicht vorbei. Sie behandeln „Bildungsziele und Bildungsregeln“, „Bologna und die Folgen“ und die „Lage der Geisteswissenschaften“. Die Absurditäten gegenwärtiger Reformpolitik werden benannt, ohne die Humboldt-Fahne zu schwenken. Es geht gegen eine Bildungssoziologie, die ihre Daten mit der Wirklichkeit verwechselt; gegen einen Reformeifer, der aberwitzig viele Mittel und noch mehr Zeit verbraucht und den Bildungsanstalten die Ruhe raubt, ohne die sie nicht vernünftig arbeiten können.
Der Leser lernt den Organisationssoziologen Charles Perrow kennen, der Ende der Fünfzigerjahre ein Krankenhaus in Michigan untersuchte. Es hatte sich eine PR-Abteilung zugelegt. Da medizinische Leistungen von Laien kaum zu beurteilen sind, versuchte man, diese, auf deren Urteil man ja angewiesen war, mit anderweitig gewonnenem Prestige zu beeindrucken: mit Fernsehgeräten, einem kleinen Museum, besserem Frühstück. Universitäten stehen vor ähnlichen Problemen. Die Qualität der Forschung vermag die Öffentlichkeit kaum zu beurteilen. Da man in Deutschland nicht auf das Renommee unter den Studenten und Absolventen setzt, bleiben für die „Erhöhung der Außenkommunikation“ zwecks Prestigegewinn Rangtabellen, Drittmittellisten, Siege in Exzellenz-Wettbewerben. Kaube spricht vom „Perrow-Effekt“: Kriterien, die allein der Außendarstellung dienen, werden akzeptiert, obwohl sie intern nur Kosten verursachen.
Das vergnüglichste Stück des Bandes skizziert, wie der Streit sich aus den Wissenschaften zurückzog, seit an die Stelle wissenschaftlicher Schulen, die um Wahrheit und Positionen rangen, „Paradigmen“ traten, die in friedlicher Indifferenz nebeneinander existieren. „Schulen wollen recht haben, Paradigmen wollen ihre Ruhe haben.“ In den Geistes- und Sozialwissenschaften hat das Paradigmenwesen sich als Strategie der Konfliktvermeidung bewährt. Es signalisiert zugleich, wie gering der Konsens in einem Fach ist. Da es keine gemeinsame Spielwiese mehr gibt, findet jeder unbehelligt sein Segment.
Das ist alles verständlich formuliert und erhellend. Dass man inzwischen eigene Programme benötigt oder doch für nötig hält, damit an den Unis noch geisteswissenschaftliche Monografien geschrieben werden können, kann man als wissenschaftspolitische Bankrotterklärung verstehen. Dennoch wünscht man sich am Ende des Bandes eine Betrachtung aus größerer Distanz. Unzufriedenheit gehört seit wenigstens 300 Jahren zu den Existenzbedingungen moderner Bildungsanstalten. Ja, die Vorstellung von Bildung selber lebt von der mal pietistisch, mal sozialreformerisch motivierten „Hoffnung besserer Zeiten“. Gehört es nicht zum Eigensinn von Schulen und Universitäten, sich als „Durchgangsstation zu etwas Besserem“ zu verstehen?
Was dem einen „gute Traditionen“, taugt dem anderen zur Erklärung angesichts enttäuschter Bildungsversprechen. Auch daher rührt der nie erlahmende Reformeifer, von dessen Bewirtschaftung viele inzwischen so gut leben, dass mit einem Reformende nicht zu rechnen ist. Das zu sagen, entschuldigt Idiotien keineswegs. Aber sie scheinen doch systemnotwendig zu sein: Hunderte Reformversuche müssen unternommen werden, um einzusehen, dass man keine bräuchte.
JENS BISKY
Jürgen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems. Zu Klampen Verlag, Springe 2015. 174 Seiten, 18 Euro.
Die „Paradigmen“ haben an den
Unis die „Schulen“ ersetzt
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nicht dumm bleiben
Jürgen Kaube seziert Bildungsgerede
Wenn eines Tages unter märkischem Sand riesige Vorkommen von Gold oder Erdöl gefunden und im Ruhrgebiet bisher übersehene Diamantenlagerstätten entdeckt würden, könnte man sich manche Mühe sparen. Die mit der Bildung zum Beispiel, auf die wir so viel geben, weil Deutschland ein rohstoffarmes Land ist und nur „unsere Köpfe“ hat. Dass man in Köpfe investieren müsse, weil sonst Nachteile auf dem Weltmarkt und Wohlstandsverluste drohen, gehört zu den in Bildungsreden bedenkenlos gebrauchten Argumenten. Soll man also all die Anstrengungen, etwas zu können und zu kennen, als eine Art Strafe betrachten, die den vom Schicksal wenig Begünstigten auferlegt ist?
„Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes“, schreibt Jürgen Kaube, der seit kurzem FAZ-Herausgeber ist und in diesem Jahr den Ludwig-Börne-Preis erhält. Trist wird die „gängige Bildungsrede“ für Kaube vor allem, weil „sie sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit“. Gewiss, da gebe es Zusammenhänge, das sei nicht zu leugnen. Aber hätte einer, der studiert und nicht aufsteigt, Zeit und Mühe vergeudet? „Das Elend der Bildungsdebatte liegt in der Unfähigkeit, die Schule als Schule und die Universität als Universität wertzuschätzen: ihre Anforderungen, ihren Eigensinn, ihre guten Traditionen.“
Wer das Elend der Bildungsdebatten näher betrachten will, ohne darüber den Verstand zu verlieren und seinerseits Bildungsreformer zu werden, der kommt an dieser Sammlung von Essays nicht vorbei. Sie behandeln „Bildungsziele und Bildungsregeln“, „Bologna und die Folgen“ und die „Lage der Geisteswissenschaften“. Die Absurditäten gegenwärtiger Reformpolitik werden benannt, ohne die Humboldt-Fahne zu schwenken. Es geht gegen eine Bildungssoziologie, die ihre Daten mit der Wirklichkeit verwechselt; gegen einen Reformeifer, der aberwitzig viele Mittel und noch mehr Zeit verbraucht und den Bildungsanstalten die Ruhe raubt, ohne die sie nicht vernünftig arbeiten können.
Der Leser lernt den Organisationssoziologen Charles Perrow kennen, der Ende der Fünfzigerjahre ein Krankenhaus in Michigan untersuchte. Es hatte sich eine PR-Abteilung zugelegt. Da medizinische Leistungen von Laien kaum zu beurteilen sind, versuchte man, diese, auf deren Urteil man ja angewiesen war, mit anderweitig gewonnenem Prestige zu beeindrucken: mit Fernsehgeräten, einem kleinen Museum, besserem Frühstück. Universitäten stehen vor ähnlichen Problemen. Die Qualität der Forschung vermag die Öffentlichkeit kaum zu beurteilen. Da man in Deutschland nicht auf das Renommee unter den Studenten und Absolventen setzt, bleiben für die „Erhöhung der Außenkommunikation“ zwecks Prestigegewinn Rangtabellen, Drittmittellisten, Siege in Exzellenz-Wettbewerben. Kaube spricht vom „Perrow-Effekt“: Kriterien, die allein der Außendarstellung dienen, werden akzeptiert, obwohl sie intern nur Kosten verursachen.
Das vergnüglichste Stück des Bandes skizziert, wie der Streit sich aus den Wissenschaften zurückzog, seit an die Stelle wissenschaftlicher Schulen, die um Wahrheit und Positionen rangen, „Paradigmen“ traten, die in friedlicher Indifferenz nebeneinander existieren. „Schulen wollen recht haben, Paradigmen wollen ihre Ruhe haben.“ In den Geistes- und Sozialwissenschaften hat das Paradigmenwesen sich als Strategie der Konfliktvermeidung bewährt. Es signalisiert zugleich, wie gering der Konsens in einem Fach ist. Da es keine gemeinsame Spielwiese mehr gibt, findet jeder unbehelligt sein Segment.
Das ist alles verständlich formuliert und erhellend. Dass man inzwischen eigene Programme benötigt oder doch für nötig hält, damit an den Unis noch geisteswissenschaftliche Monografien geschrieben werden können, kann man als wissenschaftspolitische Bankrotterklärung verstehen. Dennoch wünscht man sich am Ende des Bandes eine Betrachtung aus größerer Distanz. Unzufriedenheit gehört seit wenigstens 300 Jahren zu den Existenzbedingungen moderner Bildungsanstalten. Ja, die Vorstellung von Bildung selber lebt von der mal pietistisch, mal sozialreformerisch motivierten „Hoffnung besserer Zeiten“. Gehört es nicht zum Eigensinn von Schulen und Universitäten, sich als „Durchgangsstation zu etwas Besserem“ zu verstehen?
Was dem einen „gute Traditionen“, taugt dem anderen zur Erklärung angesichts enttäuschter Bildungsversprechen. Auch daher rührt der nie erlahmende Reformeifer, von dessen Bewirtschaftung viele inzwischen so gut leben, dass mit einem Reformende nicht zu rechnen ist. Das zu sagen, entschuldigt Idiotien keineswegs. Aber sie scheinen doch systemnotwendig zu sein: Hunderte Reformversuche müssen unternommen werden, um einzusehen, dass man keine bräuchte.
JENS BISKY
Jürgen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems. Zu Klampen Verlag, Springe 2015. 174 Seiten, 18 Euro.
Die „Paradigmen“ haben an den
Unis die „Schulen“ ersetzt
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Zu Jürgen Kaubes Erfahrung kommt ein sehr lesenswerter, unterhaltender Stil. Er findet deutliche Worte. (.) Die Krise des Bildungssystems wird wohl noch lang und kurvig werden. Ein kleiner Trost wäre es immerhin, wenn ihn weiterhin Essays wie diese säumten.' Teresa Pancritus in: Münchner Merkus, 17. März 2015