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Dieser Roman hilft dabei, die Ukraine besser zu verstehen: Mit "Im Schatten der Mohnblüte" erinnert Jurij Wynnytschuk an die Schreckenszeit in der ehemaligen Vielvölkerstadt Lemberg.
Als kürzlich der polnische Dichter Adam Zagajewski in Wangen den Eichendorff-Preis der Gesellschaft für Literatur und Kunst "Der Osten" erhielt, erinnerte er daran, dass nicht nur viele Zuhörer im Saal Vertriebene seien, sondern dass auch er aus seiner Heimat verjagt worden war.
Seine Familie gehörte (wie die seines Landsmannes und Schriftstellerkollegen Zbigniew Herbert) zu jenen Polen, die nach 1944 von der Sowjetunion aus Lemberg vertrieben wurden. Von 1939 bis 1945 wurde in der galizischen Vielvölkerstadt ein unfassbares Blutbad angerichtet, bei dem mehr als eine halbe Million Menschen auf bestialische Weise hingeschlachtet wurden. Die Deutschen haben nicht nur 400 000 jüdische Bürger auf dem Gewissen, sondern auch 100 000 russische Gefangene, die Russen dann den grausigen Rest besorgt und die noch verbliebenen Polen in die Flucht getrieben, manchmal unter tätiger Beihilfe der Ukrainer. Geht man heute durch das wunderbar erhaltene und zum Teil liebevoll restaurierte Lwiw, wie die ukrainische Stadt jetzt heißt, sieht man ihr nicht an, dass buchstäblich an jedem Stein Blut klebt.
Man sollte diesen Hintergrund - vom sowjetischen Holodomor bis zum faschistischen Holocaust - im Kopf behalten, wenn man den ersten ins Deutsche übersetzten Roman des in der Ukraine äußerst populären Autors Jurij Wynnytschuk liest. Er erzählt seine phantastische und traurige (und manchmal sehr komische) Geschichte aus zwei Perspektiven, die sich um den heißen Kern der zwei Weltkriege legen. In den dreißiger Jahren geht es um vier Freunde - einen Ukrainer, einen Juden, einen Polen und einen Deutschen -, die noch nicht wissen können, welche Zukunft die nächsten Sieger der Geschichte sich für sie ausgedacht haben. Sie leben das abenteuerliche Leben von Jungen, die ihre Stadt erkunden und die erste Liebe entdecken, geschildert in einer so warmherzigen und liebevollen Sprache, dass der Leser auf der Stelle Mitglied dieser Bande werden will.
Erzählt wird die Geschichte von dem ukrainischen Jungen Orest Barbaryk dessen Vater "unzählige Kämpfe für die Armee der Ukrainischen Nationalrepublik gekämpft hatte" und schließlich von den Bolschewisten bei Basar erschossen wurde: "Bei Basar waren auch die Väter meiner drei Freunde Joschi, Wolf und Jas umgekommen."
Wie kam das Quartett zusammen? In den Worten des Erzählers Orest Barbaryk klingt das folgendermaßen: "Unsere Mütter, Wolodsja Barbaryk (die Ukrainerin), Golda Milker (die Jüdin), Jadsja Biliewicz (die Polin) und Rita Jäger (die Deutsche), befreundeten sich während des zehnjährigen Gedenktages für die Toten von Basar, als man sich an der symbolischen Grabstätte auf dem Janowska-Friedhof traf. Da alle vier Lembergerinnen waren, wurden sie rasch Freundinnen. Wir feierten nun dreimal Weihnachten und dreimal Ostern, das katholische, das griechisch-katholische und das entsprechende jüdische Fest.
Mit Vergnügen bewirtete man sich gegenseitig, servierte roten Kosaken-Borscht, in dem mit Rindfleisch gefüllte Warenyky und Steinpilze schwammen und an dessen Oberfläche eine gold-gelb geröstete Zwiebel trieb, oder gefüllten Fisch, den Golda mit geriebenem Meerrettich und wundersamen Mustern aus gekochtem Kohl und Rüben verzierte, oder Piroggen mit Sauerkraut, Krautwickel mit Gehacktem und Stampfkartoffeln, manchmal auch bayerische Würstel oder phantasievoll Eingelegtes und außerdem Kuchen, Strudel und süße Brezeln, deren Duft die Wohnungen bis in den letzten Winkel erfüllte und in der Nase kitzelte."
Unter der sanften Herrschaft dieser fürsorglichen Mütter wachsen die Buben in der, verglichen mit Wien und Prag und Budapest, provinziellen Hauptstadt Mitteleuropas auf. Lemberg wird zum Helden dieses Romans: Seine Gerüche - der Herbst etwa riecht streng nach sauren, mit duftendem Dill, Knoblauch und Kren gewürzten Gurken, während des Übergangs zum Winter nach Sauerkraut, und vor Weihnachten liegt der Rauch in der Luft, in dem fast ganz Lwiw Würste, Schinken und Speck räuchert -, die Gerüche, die Küche und die Sprachen und Religionen.
Man fühlt sich wie bei Joseph Roth oder Alexander Granach sofort zu Hause, geht mit den Jungen auf den Markt ("es herrschte ein fortwährendes Kommen und Gehen, die Luft bebte in der Vielzahl unharmonischer Geräusche") oder mit Pani Wolodsja, die ihr Geld mit Grabsprüchen "in allen Sprachen" verdient, ins Café Atlas oder mit Pani Golda, die mit den Toten reden kann, auf den Friedhof, oder wir schütten heimlich dem Lehrer Herrn Katzenellenbogen ein Abführpulver in die Limonade.
Dieser arme Herr Katzenellenbogen sagt dann, während der ersten Sowjetherrschaft im Jahr 1940, zu den Kindern: "Bald kommt eine Zeit, in der man jene beneiden wird, die schon gestorben sind, und erst recht die, die gar nicht geboren wurden." Herr Katzenellenbogen muss die von den Bolschewisten erschossenen Gefangenen - Leichen vergewaltigter und verstümmelter Mädchen und von Schlägen entstellter Theologiestudenten - aus dem Gefängnis von Lemberg tragen und ein Jahr später, nach dem Einmarsch der Deutschen, unter den Augen seiner Mitbürger und der SS vor der Oper die Pflastersteine mit der Zahnbürste schrubben.
Während seine Freunde mit dem Studium beginnen, vertrödelt der Erzähler seine Zeit und wird ein selbsternannter Philosoph, "der die Welt um sich herum mit Adleraugen beobachtete". Schließlich landet er in einer Bibliothek, die in ihren Ausmaßen und ihrer Anordnung an Borges' Idee einer Bibliothek erinnert und von der mehr als hundertjährigen Pani Konopelka geleitet wird, die den gesamten Buchbestand im Kopf hat: "Der Kopf von Pani Konopelka ist sozusagen ein nationales Kulturerbe." In dieser Bibliothek nun, in der es fliegende Bücher gibt, leuchtende und solche, in denen es regnet oder nach Rabennestern riecht, findet Orest ein lange vermisstes Traktat des Lemberger Apothekers Johann Kalkbrenner von 1640, in dem eine Komposition abgedruckt ist, "dank deren ein Mensch sich an sein vorangegangenes Leben erinnern kann. Aber nur unter der Bedingung, dass er diese Melodie auch vor seinem Tod gehört hat."
Diese Melodie, von Josip Milker unter der Okkupation in einem jüdischen Orchester zur Unterhaltung der SS und zur Begleitung der zum Tode Verurteilten gespielt, geht auf ein Arkanisches Totenbuch zurück - und ist die Brücke zur zweiten Ebene des Romans, die in der Jetztzeit spielt. Hier stellt ein gewisser Mirko Jarosch ein Arkanisches Wörterbuch zusammen und ist überhaupt von dieser (imaginären) Kultur fasziniert, die alles hat, was die ukrainische entbehren muss. Kein Wunder, dass sich der Geheimdienst bald an seine Fersen heftet.
Man liest dieses von schnellen Personen- und Zeitenwechseln inspirierte Buch, das manchmal an das "Chasarische Wörterbuch" von Milorad Pavic oder an Ecos "Im Namen der Rose" erinnert, mit Vergnügen und Beklemmung zugleich. Es ist natürlich vor der gegenwärtigen Krise geschrieben worden, weshalb man die Passagen über die Russen mit besonderer Aufmerksamkeit liest. Sie kommen nicht gut weg. Sie kommen sogar ganz besonders schlecht weg. Wenn es keine Zensur in Russland gäbe, sollte man das Buch schnell dort bekanntmachen, damit man wenigstens weiß, was der Gegner, den man befreien will, von einem denkt.
MICHAEL KRÜGER
Jurij Wynnytschuk: "Im Schatten der Mohnblüte". Roman.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil. Haymon Verlag, Innsbruck 2014. 456 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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