Mit „Im Schnee“ liefert der Autor Tommie Goerz im Piper Verlag einen schmalen Prosaband, der gleich zu Jahresbeginn einen kleinen, leisen und in vielerlei Hinsicht entschleunigten Lesegenuss bereitet. Auf gerade einmal 134 Seiten gelingt Goerz ein Werk, das durch seine Schlichtheit und Authentizität
besticht und den Leser in eine vermeintliche Idylle entführt – eine Welt abseits des Trubels und…mehrMit „Im Schnee“ liefert der Autor Tommie Goerz im Piper Verlag einen schmalen Prosaband, der gleich zu Jahresbeginn einen kleinen, leisen und in vielerlei Hinsicht entschleunigten Lesegenuss bereitet. Auf gerade einmal 134 Seiten gelingt Goerz ein Werk, das durch seine Schlichtheit und Authentizität besticht und den Leser in eine vermeintliche Idylle entführt – eine Welt abseits des Trubels und der Hektik unserer Zeit. Doch wie trügerisch dieser Eindruck ist, darüber sinniert nicht nur der Protagonist Max am Ende des Romans, sondern diese Frage drängt sich dem Leser während der Lektüre immer wieder auf.
Die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf, dessen Name und genaue Verortung bewusst unbestimmt bleiben. Diese Anonymität verleiht dem Setting eine universelle Gültigkeit, sodass es als Symbol für viele ähnliche Orte stehen kann, die im Laufe der Zeit immer weiter in Vergessenheit geraten. Max, der Protagonist, ist ein in die Jahre gekommener Mann, der allein lebt und seine Tage meist verträumt und verschlafen verbringt. Als sein langjähriger Freund Schorsch unerwartet stirbt, wird Max aus seiner Routine gerissen. Die beiden Männer verband eine tiefe Freundschaft, geprägt von ihrer zurückgezogenen, eigenbrödlerischen Art. Schorschs Tod löst bei Max eine Flut von Erinnerungen an gemeinsame Zeiten und Erlebnisse aus, die sich mit einer gewissen Wehmut und Melancholie in sein Bewusstsein drängen.
Doch nicht nur Max, auch die anderen Dorfbewohner verbinden Erinnerungen mit Schorsch. Sein Tod wird zum Anlass, bei einer gemeinsamen Totenwache Anekdoten auszutauschen und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Dabei wird die enge Verbindung zwischen der Geschichte des Dorfes und den Biografien der Bewohner offenbar. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sich die Gegenwart von dieser Vergangenheit unterscheidet. Die alten Zeiten, die von den Anwesenden oft mit Wehmut betrachtet werden, waren nicht immer glücklich. Die Erlebnisse, die während der Totenwache erzählt werden, zeugen sowohl von Zusammenhalt und Gemeinschaft als auch von harten Lebensbedingungen und Grausamkeiten.
Als moderner Leser wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob man in dieser Zeit hätte leben wollen. Die Antwort ist oft ein klares Nein, trotz des romantischen Bildes, das manchmal mit ländlichen Gemeinschaften verbunden wird. Die Dorfbewohner selbst scheinen unterschwellig zu spüren, dass ihre Vergangenheit ebenso von Schmerz und Entbehrung geprägt war wie von gemeinschaftlichem Zusammenhalt. Dennoch bleibt ihnen nichts anderes, als der verlorenen Zeit nachzutrauern und sich allmählich mit ihrem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Schorschs Tod wird so zu einem Symbol für den unaufhaltsamen Verfall der alten Lebensweise und den nahenden Abschied der übriggebliebenen Generation.
Max ist dabei ein vielschichtiger Charakter, dessen Tiefe erst nach und nach offenbar wird. Als einfacher Mann, der sich mit Geschick im Umgang mit Motoren durchs Leben geschlagen hat, scheint er auf den ersten Blick unspektakulär. Doch seine Genügsamkeit und seine natürliche Art zu leben – ohne Fernseher oder Radio, mit selbstgesammeltem Tee und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber Besitz und Habgier – machen ihn zu einem faszinierenden Protagonisten. Diese Bescheidenheit teilt er mit den anderen Dorfbewohnern, die sich in ihrer Einfachheit deutlich von der modernen Welt unterscheiden.
Besonders raffiniert sind die wenigen Szenen, in denen die Dorfgemeinschaft durch außenstehende Figuren ergänzt wird. Ein Beispiel ist der Fotograf, der als Wanderer in die Gegend kommt. Seine Weltanschauung und Gewohnheiten unterscheiden sich stark von denen der Dorfbewohner, doch er nimmt die Welt von Max und den anderen als idyllisch wahr. Max selbst kann sich dieser Auffassung nicht anschließen – warum das so ist, erschließt sich dem Leser aus den Geschichten und Erinnerungen, die während der Totenwache geteilt werden.
Goerz gelingt es, mit wenigen, nicht einmal sonderlich brisanten Anekdoten eine sterbende Epoche zu zeichnen, die in der modernen Welt kaum noch Platz hat. Seine ruhige, entschleunigte Erzählweise und der wunderbar langsame Schreibstil laden den Leser dazu ein, in die Welt der Dorfbewohner einzutauchen. Beinahe wirkt es, als wäre man selbst Teil der Totenwache, wo mit leiser und respektvoller Stimme gesprochen wird. Die winterliche Atmosphäre des Romans – unterstrichen durch den Schnee und die Abgeschiedenheit des Dorfes – verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und einen melancholischen Charme, ohne jemals kitschig zu werden.
In seiner Gesamtheit ist „Im Schnee“ vielleicht einer der bemerkenswertesten Dorfromane der letzten Zeit. Mit ordentlicher handwerklicher Präzision und ohne viel Aufhebens erzählt Goerz von einfachen Menschen, einfachen Gemeinschaften und einfachen Themen. Gerade diese Schlichtheit macht den Roman so eindringlich und wahrhaftig.