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Um die Ecke gedacht: Dirk Brockmann will mit unserem Wissen über Komplexität die großen Krisen der Zukunft meistern.
Von Joachim Müller-Jung
Es hätte komplizierter werden können. Komplexer auch. Dirk Brockmann, der neben einigen anderen Pandemie-Experten und den beiden taufrischen Physik-Nobelpreisträgern wohl populärste Komplexitätsforscher im Land, hat einen lebensnahen Aufruf zum "antidisziplinären Denken" vorgelegt. Dabei geht es ihm nicht um Disziplinlosigkeit, sondern um den Mut, die Grenzen der alten Disziplinen zu verlassen und "um die Ecke zu denken". Denn wie alles Lineare in der Welt - das lineare Fernsehen zum Beispiel - gerät auch das Denken in schlichten Kategorien nach dem Muster "A provoziert B" allmählich in Schwierigkeiten. Man könnte sagen, Ursache und Wirkung, das war gestern. Morgen gilt es, Verbindungen zu entschlüsseln und Netzwerke zu verstehen.
Als Dozent und Forscher für komplexe Systeme an der Humboldt-Universität und am Robert Koch-Institut in Berlin lebt Brockmann das antidisziplinäre Denken vor, indem er das, was er physikalisch über Diffusionsprozesse lernt, beispielsweise für die mathematische Beschreibung des Mobilitätsverhaltens von Menschen und die Alltagsepidemiologie einer Pandemie nutzt. Wie das im Detail geschieht, kommt in dem Buch kaum zur Sprache. Es wäre für das Verständnis auch sicher hinderlich. Dennoch spielt die Covid-19-Pandemie eine wichtige Rolle. Wer etwa den epidemiologischen SIR-Modellen zur Ausbreitung nach wie vor nicht traut, die frühe Corona-Maßnahmen wie Lockdown oder Kontaktbeschränkungen wesentlich mitgeprägt haben, der kann immerhin ihre wissenschaftliche Substanz ebenso wie ihre Grenzen leichter nachvollziehen - so er denn offen dafür ist.
Im Kern allerdings geht es Brockmann nicht darum, Corona-Kritiker zu missionieren. Er richtet sich vielmehr an alle, die sich bisher schon bei dem Begriff "Komplexität" abgewendet haben. Deutlich wird das, wenn das spröde Vokabular der Komplexitätswissenschaft - spontane Synchronisation, Kritikalität, Kooperation - von ihm dechiffriert wird, sodass sich den Mustern des komplexen Denkens gut folgen lässt. Hilfreich sind dabei die vielen, häufig aus den Lebenswissenschaften entlehnten Beispiele.
Im letzten Teil des Buches schildert Brockmann, was seine zuvor immer wieder anschaulich erklärten Beispiele für Netzwerkverhalten bei Wanderameisen, Staren, Goldbrassen oder Mikroben für ihn selbst bedeuten: eine Weltsicht, die von dem neodarwinistischen Blickwinkel eines Richard Dawkins radikal abweicht. Kooperation und Solidarität, das ist der "Funke Hoffnung", den Brockmann in der Komplexitätswissenschaft entdeckt. "Das Prinzip Individuum" sei endlich aufzuweichen. Da mögen für den einen oder anderen die Ideen der alten Kybernetiker aufscheinen. In Wirklichkeit spricht aus dieser Idee der Weltentwurf von Lynn Margulis und James Lovelock mit ihrer Gaia-Hypothese.
Für Brockmann geht es ums Ganze. Am Anfang schon spricht er von den "Systemrisiken" für die Menschheit. Auslöser dafür seien die Lücken in den gängigen Weltmodellen, und dies nicht etwa, weil das alte, lineare Denken gegen die menschliche Natur ginge, im Gegenteil, es ist bequem und deshalb vielen gut genug. Tatsächlich seien die großen Menschheitskrisen ohne das vernetzte Denken gar nicht mehr zu lösen. Unser intellektueller Bausatz zum Überleben sei gewissermaßen nur mit der Komplexitätswissenschaft - "der Werkzeugkasten, um Miseren zu erkennen" - vollständig.
Gerade in den Kapiteln, in denen sich Brockmann mit der Komplexität in menschlichen Kollektiven, Entscheidungsfindung und Meinungsbildung beschäftigt, zeigt sich die Stärke des Konzeptes. Menschliche Netzwerke mögen ihre eigenen Gesetze haben, verglichen mit Schwarmtieren, Flechten oder dem Mikrobiom im Darm. Aber bei der Ausbreitung von Radikalität folgen sie eben auch Mechanismen, die in der Natur angelegt sind.
Wieso, fragt Brockmann, haben wohl siebzig Millionen Amerikaner Donald Trump gewählt, obwohl dieser nachweislich vierhundert Tage seiner Amtszeit auf dem Golfplatz verbracht und mehr als 22 000 Mal gelogen hat? Die Ausbreitung des Rechtspopulismus, auch die Bildung von Meinungsblasen, Hetzkampagnen und Echokammern in sozialen Netzwerken, sind für den Autor Ausprägungen einer Komplexität, die zu beherrschen nur durch ein Verständnis eben dieser horizontalen Verbindungen und Knoten in der Gesellschaft gelingen kann.
Brockmann unterbreitet Ansätze, wie die starken Kräfte der sozialen Homophilie ("Gleich und Gleich gesellt sich gerne") und damit die Polarisierung zu bändigen wären: Wir müssten berücksichtigen, dass "wir in unserer Meinungsbildung viel stärker den unmittelbaren Einflüssen der Personen in unserem Umfeld unterliegen und dass individuelle Entscheidungsprozesse oder Überlegungen eine viel geringere Rolle spielen, als wir denken".
Die Komplexitätsforschung liefert demnach nicht nur ein theoretisches Gerüst. Kipppunkte etwa, irreversible Systemwechsel also, die nicht nur beim Klima, sondern auch in den sozialen Netzwerken eine Rolle spielen, kündigen sich durch plötzliche Schwankungen an, die als Frühwarnsystem dienen können. Apropos: Wenig beschäftigt sich Brockmann mit der Frage, wie sich das bessere Verständnis komplexer Systeme auf die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Projektionen durch Modelle auswirkt. Das mag bei manchen Lesern Misstrauen schüren. Wer allerdings das Buch liest, wird verstehen, warum es im ersten Schritt erst einmal darum geht, dem Komplexitätsverständnis zu einer größeren Popularität zu verhelfen. Das leistet Brockmann allemal.
Dirk Brockmann: "Im Wald vor lauter Bäumen".
Unsere komplexe Welt besser verstehen.
dtv Verlag, München 2021.
240 S., Abb., br., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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