Dieses Buch möchte ermutigen, indem es theologisch provoziert. Geschrieben wurde es für alle, die Verantwortung für ihre Kirche übernehmen wollen. Es wendet sich also an alle Getauften. In den gegenwärtigen Krisen der Kirche plädiert es für einen hoffnungsvollen Realismus. Die einzelnen Impulse des pointiert argumentierenden Bochumer Systematikers Günter Thomas fügen sich wie Puzzlestücke zu einem Bild: Gottes Lebendigkeit ernst nehmen; sich als Glaubende im Weltabenteuer Gottes entdecken; kühn anerkennen, in einer noch unerlösten Welt zu leben; und vor allem als Kirche mit Verwegenheit Glaube, Liebe und Hoffnung bezeugen. Denn darum geht es Gott bei seinem Weltabenteuer. Nur wenn Christen ihren speziellen Ort im Drama Gottes besetzen, kann sich eine doppelte Befreiung ereignen: die Befreiung von manischer Selbstüberschätzung ihrer öffentlichen Relevanz und die Befreiung von einer lähmenden Erschöpfungsdepression, die sich angesichts düsterer Zukunftsprognosen schleichend verbreitet. [Living in the world adventure of God. Impulses for responsibility for the Church] This book seeks to encourage by provoking theologically. It was written for all who want to take responsibility for their Church. So it addresses all the baptized. In the current crises of the Church, it forcefully advocates a hopeful realism. The individual impulses of the pointedly arguing systematic theologian Günter Thomas (Ruhr-University Bochum) fit together like pieces of a puzzle to form a picture: take God's vitality seriously; discover oneself as believer in God's world adventure; boldly acknowledge to live in an unredeemed world; and above all as a church testify to faith, love and hope with audacity. For that is what God is all about in his world adventure. Only if Christians occupy their unique place in the drama of God can a double liberation take place: the liberation from a manic overestimation of their public relevance and the liberation from a crippling exhaustion depression that is slowly spreading after years of reform and in the face of bleak prospects for the future.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Reinhard Bingener empfiehlt das Buch des Theologen Günter Thomas allen, die an ein gesellschaftlich verankertes Christentum glauben. Thomas' Analyse des "Gegenwartchristentums" findet Bingener scharfsinnig und tiefblickend, weil der Autor auch die theologischen Voraussetzungen von Problemen untersucht, die das Christentum heute hat. Dass die Religion etwa gegen die täglich auf den Streamingdiensten verabreichten Mythen der Gegenwart unterliegt und ihr eigenes Wesen darüber aus dem Blick verlieren, ermittelt der Autor laut Bingener ebenso luzide wie er die unternehmerische Spezialisierung der Kirche anprangert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2021Projekt Weltverbesserung
Eine hellsichtige Analyse des gegenwärtigen Christentums
Das Christentum, besonders der Protestantismus, ist eine Buchreligion. Entsprechend besteht kein Mangel an Büchern zur Lage der Kirche. Der Bochumer Professor Günter Thomas hat nun eine Analyse des Gegenwartschristentums vorgelegt, die aus dieser Masse durch Scharfsinn hervorsticht. Der Vorzug des Werks besteht darin, dass es nicht nur die Probleme der Organisation beschreibt. Thomas legt auch die theologischen Grundentscheidungen frei, die ihrem gegenwärtigen Handeln zugrunde liegen. Das Ergebnis ist eine flott geschriebene Abrechnung mit den bestimmenden Strömungen der neueren Theologie.
Die liberale Theologie im Gefolge Schleiermachers wird dabei ebenso ins Visier genommen wie diejenigen, die nach dem Krieg die dialektische Theologie Karl Barths fortschrieben, von Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann bis hin zum gegenwärtigen EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm. Die Grundthese des Autors besagt, dass die christliche Theologie schon seit der Antike gegen den falschen Gegner antritt, indem sie sich vorrangig mit der Philosophie misst. Nach Günter Thomas ist aber nicht der Logos, sondern der Mythos die eigentliche Herausforderung für das Christentum - und zwar besonders in der Moderne, die eine mythisch-mediale Erzählmaschine sondergleichen bilde. Abends bei Netflix seien die Leute bereit, im Modus des "als ob" Konstrukte zumindest für zwei oder drei Stunden als Realität zu akzeptieren, die nicht weniger ungewöhnlich sind als ein Glaube an die Menschwerdung Gottes.
Die Säkularisierung erscheint bei Thomas damit nicht als allmähliche Zersetzung von Metaphysik in Oberseminaren, sondern als Niederlage der Religion gegen die konkurrierenden Mythen der Gegenwart. Vor allem drei geistige Strömungen sieht Thomas als prägend: Den Vitalismus, also den Kult der Stärke und des Lebens, dessen kulturelle Leitformation der Sport ist. Günter Thomas erkennt im Vitalismus der Moderne die Wiederkehr der nordischen Religionen. Die "Edda" sickert wieder ein - und macht dabei keineswegs vor der Kirchentür halt. Wenn christliche Verlagshäuser auf Slogans wie "Dem Leben trauen" setzen, hält Thomas das für einen Irrtum, dem durch einen Besuch in einer Kinderklinik abzuhelfen sei.
Die zweite Strömung nennt Thomas "Neostoizismus". Es geht um den Versuch, inmitten einer unübersichtlichen Welt zumindest den eigenen Nahbereich unter Kontrolle zu bringen. Vor allem die Familie wird so zum Ort, an dem Liebe gelebt werden kann. Auch wenn die christliche Nächstenliebe dadurch verkürzt wird, verwandeln sich die Kirchen auch dieser Strömung bisweilen an. Die evangelische Kirche ist besonders anfällig für den dritten Idealtyp, die "verzweifelte Hoffnung". Wer sieht, wie eine Sea-Watch-Kapitänin zum Vorbild führender EKD-Geistlicher wurde, weiß sofort, wovon die Rede ist: dem Projekt Weltverbesserung unter der Fahne von "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung". Das Regenbogen-Denken hat zuletzt allerdings eine entscheidende Veränderung erfahren: Der utopische Optimismus der "Habermas-Jahrzehnte" hat sich verflüchtigt. Bei Bewegungen wie "Fridays for Future" geht es stattdessen um die Verhinderung einer Dystopie. Die untergründige Bitterkeit des Moralismus wird dadurch verstärkt. Aus Hoffnung wird verzweifelte Hoffnung.
Thomas beklagt, dass die Kirchen darüber das Eigene zunehmend aus dem Blick verloren hätten. "Wie ein unterirdischer Schwelbrand in Kohlenflözen" habe sich im westlichen Christentum die Auffassung durchgesetzt: "Was auch immer Gott ist, er ist kein lebendiger Akteur." Die Überzeugung, dass Gott in der Geschichte handelt, stehe jedoch im Zentrum des Christentums. Gott interagiert mit der Welt als Bewahrer, Versöhner und Erlöser. Er verharrt also weder in der Transzendenz, noch verliert er sich im Diesseits. Diese Irrlehren sieht Günter in der modernen Theologie jedoch zunehmend vertreten. In der Verkündigung der Kirchen werde systematisch der Unterschied verwischt zwischen Versöhnung, die durch Jesus Christus bereits erfolgt ist, und der noch ausstehenden Erlösung am Ende aller Tage. In der Konsequenz ist nicht mehr klar, was Auferstehung bedeutet. Sie wird verzwergt zu einer "Auferstehung ins Leben" und einem Weiterleben in Gedanken der Angehörigen. Solchen Lehren hält Günter Thomas den Paulus-Vers "Wenn die Toten nicht auferstehen, dann lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" entgegen.
Eine weitere Folge besteht darin, dass ein grenzenloser Moralismus einzieht. Denn sobald man die "radikale Hoffnung" auf Erlösung fallenlässt, die selbst eine todkranke Kindesmutter trösten könnte, droht sich die Kirche schleichend in einen Akteur der "verzweifelten Hoffnung" zu verwandeln. Die Säulenheilige dieser Strömung ist Dorothee Sölle mit ihrem Credo "Christus hat keine anderen Hände als unsere Hände". In diesem Satz spiegelt sich die Hybris, das Leid der Welt mit Moral beseitigen zu wollen. Aber auch eine spirituelle Depression, von Gott nichts mehr zu erhoffen. Dazu passt die Diagnose des Autors, dass die Theologie das Scheitern des Marxismus nicht ausreichend aufgearbeitet hat und der Sozialismus oft weiter als heimliches Leitbild dient. Ergebnis sei eine unausgesprochene Spaltung der Kirche in "radikal-moralische Salonsozialisten" und "Täter" mit schlechten Gewissen und zugleich hohen Einkommen, die den ganzen Laden finanzieren. Das werde nicht mehr lange gutgehen, meint Thomas.
Der Autor rät der Kirche zudem dringend davon ab, den eingeschlagenen Kurs der Spezialisierung weiterzuverfolgen und Glaube, Liebe, Hoffnung wie Unternehmenssparten zu behandeln, die man auch eigenständig an der Börse plazieren könnte. Statt sich weiter in Spezialgemeinden aufzusplitten, plädiert Thomas dafür, Kirchengemeinden konsequent an der "Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung" auszurichten. Eine Gemeinde müsse alle Grunderfahrungen christlicher Existenz ermöglichen. Thomas vertritt damit ein Gemeindebild, das viel stärker den Ideen des amerikanischen Megachurch-Planers Rick Warren gleicht als den Zukunftskonzepten, die in deutschen Kirchenämtern verfolgt werden.
Und statt die Gerichtsvollzieher, Landwirte und Pharmavertreter in den eigenen Reihen "antikapitalistisch oder ökotheologisch anzunörgeln" müsse die Kirche würdigen, dass auch diese Berufsgruppen als "Weltenbauer" zum Fortbestand der Gesellschaft beitragen und damit ebenso ein Werk Gottes tun wie Sozialpädagogen und Entwicklungshelfer. Die konsequente Orientierung der Kirche an den Laien bedeutet für Thomas mitnichten einen Verzicht auf gehaltvolle Theologie - im Gegenteil. Er gibt zu, dass er selbst lange daran geglaubt habe, dass Glaubensinhalte heutzutage erst einmal "übersetzt" werden müssten. Inzwischen hält er das für einen großen Irrtum, denn das Ergebnis solcher "Übersetzungen" sei allzu häufig "Theologie der Krabbelgottesdienste". Thomas ist deshalb auch davon überzeugt, dass es im Religionsunterricht viel stärker darum gehen müsste, das "Weltabenteuer Gottes" als "Denkabenteuer" darzulegen.
Als Hoffnungszeichen wertet Thomas das anhaltend hohe Interesse an Kirchenmusik. Beim Hören der Matthäuspassion seien die Menschen zumindest für eine Weile bereit, ihre Zweifel zu dispensieren, so wie sie sich beim Gospelsingen plötzlich darauf einlassen, "auf Zeit" starke Gewissheiten zu kommunizieren. Solche Erprobungsräume sind für den Systematischen Theologen aus Bochum auch deshalb so wichtig, weil er die Bindung des Christseins an einen vermeintlich festen "Glauben" für verfehlt hält. Denn am Weltabenteuer Gottes nimmt man nicht nur im Modus des "Glaubens" teil, sondern auch als Liebender, Klagender oder Hoffender. Deshalb ist es auch möglich, sich über "Als ob"-Erfahrungen auch an das Christentum allmählich heranzutasten.
Diese Offenheit für Ambivalenzen und der Verzicht auf das Pathos der "Entscheidung" könnten zu dem Schluss führen, dass es sich beim Autor um einen liberalen Theologen handelt. Dieser Eindruck täuscht, denn Günter Thomas setzt dezidiert nicht beim religiösen Bewusstsein an. Auch das Ausmisten des Traditionsbestandes ist nicht sein Projekt. An einer Stelle schreibt Thomas, so wie er hätten vermutlich "die allermeisten Christen der allermeisten Zeiten" gedacht. Handelt es sich also um eine Art "Neoorthodoxie"? Nicht ganz zufällig wird mit diesem Begriff im englischsprachigen Raum auch die Schule Karl Barths bezeichnet. Zwar geht Thomas mit keiner anderen Strömung so ins Gericht wie mit der linksbarthianischen Schule und ihren kirchlichen Protagonisten. Doch wirft man einen Blick in andere Bücher des Bochumer Theologen, in denen er nicht populärwissenschaftlich schreibt, sondern mit Fußnoten und Literaturverzeichnis, führen etliche Spuren zurück in die barthianische Tradition. Günter Thomas frischt dieses Erbe nun sprachlich und gedanklich auf.
Die Frage ist natürlich, ob er dadurch das inhärente Problem dieses Ansatzes loswird. Kant und Habermas mögen bei Netflix zwar nicht explizit vorkommen. Aber Skepsis, Rationalismus und historische Kritik sind dennoch Teil der Gegenwartskultur. Die Herausforderung, das moderne Wahrheitsbewusstsein mit der christlichen Lehre in Übereinstimmung zu bringen, herrscht eben nicht nur im Oberseminar. Diese Einsicht war stets Ausgangspunkt liberaler Theologie. Ihr Bemühen, das Christentum mit dem Logos der Moderne zu versöhnen, hat zwar nicht zum erhofften Erfolg geführt. Aber es ist längst nicht ausgemacht, dass man dem Problem entwischt, indem man sich stattdessen mit den Mythen der Moderne beschäftigt. Es gibt daher keine Garantie, dass die Kirchen ihre Krise mit den Rezepten aus Bochum lösen können. Die Analyse von Günter Thomas gehört aber dennoch auf die Nachttische derer, denen eine Zukunft des Christentums in der Mitte der Gesellschaft wichtig ist.
REINHARD BINGENER
Günter Thomas: "Im Weltabenteuer Gottes leben". Impulse zur Verantwortung für die Kirche.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020. 368 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine hellsichtige Analyse des gegenwärtigen Christentums
Das Christentum, besonders der Protestantismus, ist eine Buchreligion. Entsprechend besteht kein Mangel an Büchern zur Lage der Kirche. Der Bochumer Professor Günter Thomas hat nun eine Analyse des Gegenwartschristentums vorgelegt, die aus dieser Masse durch Scharfsinn hervorsticht. Der Vorzug des Werks besteht darin, dass es nicht nur die Probleme der Organisation beschreibt. Thomas legt auch die theologischen Grundentscheidungen frei, die ihrem gegenwärtigen Handeln zugrunde liegen. Das Ergebnis ist eine flott geschriebene Abrechnung mit den bestimmenden Strömungen der neueren Theologie.
Die liberale Theologie im Gefolge Schleiermachers wird dabei ebenso ins Visier genommen wie diejenigen, die nach dem Krieg die dialektische Theologie Karl Barths fortschrieben, von Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann bis hin zum gegenwärtigen EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm. Die Grundthese des Autors besagt, dass die christliche Theologie schon seit der Antike gegen den falschen Gegner antritt, indem sie sich vorrangig mit der Philosophie misst. Nach Günter Thomas ist aber nicht der Logos, sondern der Mythos die eigentliche Herausforderung für das Christentum - und zwar besonders in der Moderne, die eine mythisch-mediale Erzählmaschine sondergleichen bilde. Abends bei Netflix seien die Leute bereit, im Modus des "als ob" Konstrukte zumindest für zwei oder drei Stunden als Realität zu akzeptieren, die nicht weniger ungewöhnlich sind als ein Glaube an die Menschwerdung Gottes.
Die Säkularisierung erscheint bei Thomas damit nicht als allmähliche Zersetzung von Metaphysik in Oberseminaren, sondern als Niederlage der Religion gegen die konkurrierenden Mythen der Gegenwart. Vor allem drei geistige Strömungen sieht Thomas als prägend: Den Vitalismus, also den Kult der Stärke und des Lebens, dessen kulturelle Leitformation der Sport ist. Günter Thomas erkennt im Vitalismus der Moderne die Wiederkehr der nordischen Religionen. Die "Edda" sickert wieder ein - und macht dabei keineswegs vor der Kirchentür halt. Wenn christliche Verlagshäuser auf Slogans wie "Dem Leben trauen" setzen, hält Thomas das für einen Irrtum, dem durch einen Besuch in einer Kinderklinik abzuhelfen sei.
Die zweite Strömung nennt Thomas "Neostoizismus". Es geht um den Versuch, inmitten einer unübersichtlichen Welt zumindest den eigenen Nahbereich unter Kontrolle zu bringen. Vor allem die Familie wird so zum Ort, an dem Liebe gelebt werden kann. Auch wenn die christliche Nächstenliebe dadurch verkürzt wird, verwandeln sich die Kirchen auch dieser Strömung bisweilen an. Die evangelische Kirche ist besonders anfällig für den dritten Idealtyp, die "verzweifelte Hoffnung". Wer sieht, wie eine Sea-Watch-Kapitänin zum Vorbild führender EKD-Geistlicher wurde, weiß sofort, wovon die Rede ist: dem Projekt Weltverbesserung unter der Fahne von "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung". Das Regenbogen-Denken hat zuletzt allerdings eine entscheidende Veränderung erfahren: Der utopische Optimismus der "Habermas-Jahrzehnte" hat sich verflüchtigt. Bei Bewegungen wie "Fridays for Future" geht es stattdessen um die Verhinderung einer Dystopie. Die untergründige Bitterkeit des Moralismus wird dadurch verstärkt. Aus Hoffnung wird verzweifelte Hoffnung.
Thomas beklagt, dass die Kirchen darüber das Eigene zunehmend aus dem Blick verloren hätten. "Wie ein unterirdischer Schwelbrand in Kohlenflözen" habe sich im westlichen Christentum die Auffassung durchgesetzt: "Was auch immer Gott ist, er ist kein lebendiger Akteur." Die Überzeugung, dass Gott in der Geschichte handelt, stehe jedoch im Zentrum des Christentums. Gott interagiert mit der Welt als Bewahrer, Versöhner und Erlöser. Er verharrt also weder in der Transzendenz, noch verliert er sich im Diesseits. Diese Irrlehren sieht Günter in der modernen Theologie jedoch zunehmend vertreten. In der Verkündigung der Kirchen werde systematisch der Unterschied verwischt zwischen Versöhnung, die durch Jesus Christus bereits erfolgt ist, und der noch ausstehenden Erlösung am Ende aller Tage. In der Konsequenz ist nicht mehr klar, was Auferstehung bedeutet. Sie wird verzwergt zu einer "Auferstehung ins Leben" und einem Weiterleben in Gedanken der Angehörigen. Solchen Lehren hält Günter Thomas den Paulus-Vers "Wenn die Toten nicht auferstehen, dann lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" entgegen.
Eine weitere Folge besteht darin, dass ein grenzenloser Moralismus einzieht. Denn sobald man die "radikale Hoffnung" auf Erlösung fallenlässt, die selbst eine todkranke Kindesmutter trösten könnte, droht sich die Kirche schleichend in einen Akteur der "verzweifelten Hoffnung" zu verwandeln. Die Säulenheilige dieser Strömung ist Dorothee Sölle mit ihrem Credo "Christus hat keine anderen Hände als unsere Hände". In diesem Satz spiegelt sich die Hybris, das Leid der Welt mit Moral beseitigen zu wollen. Aber auch eine spirituelle Depression, von Gott nichts mehr zu erhoffen. Dazu passt die Diagnose des Autors, dass die Theologie das Scheitern des Marxismus nicht ausreichend aufgearbeitet hat und der Sozialismus oft weiter als heimliches Leitbild dient. Ergebnis sei eine unausgesprochene Spaltung der Kirche in "radikal-moralische Salonsozialisten" und "Täter" mit schlechten Gewissen und zugleich hohen Einkommen, die den ganzen Laden finanzieren. Das werde nicht mehr lange gutgehen, meint Thomas.
Der Autor rät der Kirche zudem dringend davon ab, den eingeschlagenen Kurs der Spezialisierung weiterzuverfolgen und Glaube, Liebe, Hoffnung wie Unternehmenssparten zu behandeln, die man auch eigenständig an der Börse plazieren könnte. Statt sich weiter in Spezialgemeinden aufzusplitten, plädiert Thomas dafür, Kirchengemeinden konsequent an der "Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung" auszurichten. Eine Gemeinde müsse alle Grunderfahrungen christlicher Existenz ermöglichen. Thomas vertritt damit ein Gemeindebild, das viel stärker den Ideen des amerikanischen Megachurch-Planers Rick Warren gleicht als den Zukunftskonzepten, die in deutschen Kirchenämtern verfolgt werden.
Und statt die Gerichtsvollzieher, Landwirte und Pharmavertreter in den eigenen Reihen "antikapitalistisch oder ökotheologisch anzunörgeln" müsse die Kirche würdigen, dass auch diese Berufsgruppen als "Weltenbauer" zum Fortbestand der Gesellschaft beitragen und damit ebenso ein Werk Gottes tun wie Sozialpädagogen und Entwicklungshelfer. Die konsequente Orientierung der Kirche an den Laien bedeutet für Thomas mitnichten einen Verzicht auf gehaltvolle Theologie - im Gegenteil. Er gibt zu, dass er selbst lange daran geglaubt habe, dass Glaubensinhalte heutzutage erst einmal "übersetzt" werden müssten. Inzwischen hält er das für einen großen Irrtum, denn das Ergebnis solcher "Übersetzungen" sei allzu häufig "Theologie der Krabbelgottesdienste". Thomas ist deshalb auch davon überzeugt, dass es im Religionsunterricht viel stärker darum gehen müsste, das "Weltabenteuer Gottes" als "Denkabenteuer" darzulegen.
Als Hoffnungszeichen wertet Thomas das anhaltend hohe Interesse an Kirchenmusik. Beim Hören der Matthäuspassion seien die Menschen zumindest für eine Weile bereit, ihre Zweifel zu dispensieren, so wie sie sich beim Gospelsingen plötzlich darauf einlassen, "auf Zeit" starke Gewissheiten zu kommunizieren. Solche Erprobungsräume sind für den Systematischen Theologen aus Bochum auch deshalb so wichtig, weil er die Bindung des Christseins an einen vermeintlich festen "Glauben" für verfehlt hält. Denn am Weltabenteuer Gottes nimmt man nicht nur im Modus des "Glaubens" teil, sondern auch als Liebender, Klagender oder Hoffender. Deshalb ist es auch möglich, sich über "Als ob"-Erfahrungen auch an das Christentum allmählich heranzutasten.
Diese Offenheit für Ambivalenzen und der Verzicht auf das Pathos der "Entscheidung" könnten zu dem Schluss führen, dass es sich beim Autor um einen liberalen Theologen handelt. Dieser Eindruck täuscht, denn Günter Thomas setzt dezidiert nicht beim religiösen Bewusstsein an. Auch das Ausmisten des Traditionsbestandes ist nicht sein Projekt. An einer Stelle schreibt Thomas, so wie er hätten vermutlich "die allermeisten Christen der allermeisten Zeiten" gedacht. Handelt es sich also um eine Art "Neoorthodoxie"? Nicht ganz zufällig wird mit diesem Begriff im englischsprachigen Raum auch die Schule Karl Barths bezeichnet. Zwar geht Thomas mit keiner anderen Strömung so ins Gericht wie mit der linksbarthianischen Schule und ihren kirchlichen Protagonisten. Doch wirft man einen Blick in andere Bücher des Bochumer Theologen, in denen er nicht populärwissenschaftlich schreibt, sondern mit Fußnoten und Literaturverzeichnis, führen etliche Spuren zurück in die barthianische Tradition. Günter Thomas frischt dieses Erbe nun sprachlich und gedanklich auf.
Die Frage ist natürlich, ob er dadurch das inhärente Problem dieses Ansatzes loswird. Kant und Habermas mögen bei Netflix zwar nicht explizit vorkommen. Aber Skepsis, Rationalismus und historische Kritik sind dennoch Teil der Gegenwartskultur. Die Herausforderung, das moderne Wahrheitsbewusstsein mit der christlichen Lehre in Übereinstimmung zu bringen, herrscht eben nicht nur im Oberseminar. Diese Einsicht war stets Ausgangspunkt liberaler Theologie. Ihr Bemühen, das Christentum mit dem Logos der Moderne zu versöhnen, hat zwar nicht zum erhofften Erfolg geführt. Aber es ist längst nicht ausgemacht, dass man dem Problem entwischt, indem man sich stattdessen mit den Mythen der Moderne beschäftigt. Es gibt daher keine Garantie, dass die Kirchen ihre Krise mit den Rezepten aus Bochum lösen können. Die Analyse von Günter Thomas gehört aber dennoch auf die Nachttische derer, denen eine Zukunft des Christentums in der Mitte der Gesellschaft wichtig ist.
REINHARD BINGENER
Günter Thomas: "Im Weltabenteuer Gottes leben". Impulse zur Verantwortung für die Kirche.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020. 368 S., 16,- [Euro].
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