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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ideengeschichtlich ausführlich: Yascha Mounk warnt vor politischen Gefahren des Imports von Identitätsideologie
Yascha Mounk macht sich Sorgen, und zwar um nicht weniger als die Zukunft unserer "freiheitlich-demokratischen Grundordnung." Jenseits des Atlantiks habe sich nämlich eine gefährliche Ideologie zusammengebraut, die in den "nächsten Jahren und Jahrzehnten" auch Deutschland bedrohen werde. Sie tobe zwar eher in den USA, sei auch hierzulande wohl erst am Anfang, aber der Verlag hat für die deutsche Übersetzung des Buches schon mal gleich das "Zeitalter" dieser Idee ausgerufen. Mounks Buch sei der Versuch, der kommenden Auseinandersetzung über diese Ideologie, der er den sperrigen Titel "Identitätssynthese" gegeben hat, die "notwendige intellektuelle Grundlage" zu schaffen.
Das Buch ist mit Sicherheit eine kompetente Darstellung dieser Ideologie, die sonst unter Schlagwörtern wie Wokeness, Cancel-Cultur oder Identitätspolitik läuft. Mounk zufolge ist sie eine Synthese aus sieben fundamentalen Haltungen, darunter eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit, das Bekenntnis zu essenzialistischen Identitätskategorien und insbesondere ein tief sitzender Zweifel gegenüber der Möglichkeit, in unseren Gesellschaften auch zwischen diesen Identitätsgruppen noch zu einer Verständigung zu gelangen. Mounk gelingt es, die Ursprünge dieser Ideologie weit in die intellektuellen Strömungen Frankreichs und der USA der vergangenen Jahrzehnte zurückzuverfolgen. Das ist philologisch lobenswert, aber man fragt sich, was so viel Ideengeschichte dem eigentlichen Anliegen des Buches eigentlich nützt: also nachzuweisen, dass die Identitätssynthese die Werteordnung und die gesellschaftspolitischen Fundamente unserer Gesellschaft bedroht, und etwas gegen diese Bedrohung aufzubieten. Die Schwäche des Buchs ist, dass dem Ideengeschichtler Mounk nach den langen Kapiteln zur Historie der Identitätssynthese der Atem kurz wird. Man erfährt viel, woher diese Ideologie kam, aber nicht genug darüber, warum sie so gefährlich sein soll - und am Ende entschieden zu wenig darüber, was sie aufhalten könnte.
Mounk nennt die Identitätssynthese eine Falle. Denn wenn "wir eine gerechtere Gesellschaft aufbauen wollen, in der Menschen aus allen Teilen der Welt einander verstehen und wertschätzen, müssen wir dieser Ideologie selbstbewusst entgegentreten". Außerdem mache sie es "den Menschen schwerer, Allianzen zu schmieden, die über die eigene Identitätsgruppe hinausgehen - Allianzen, die wir brauchen, um auf Dauer Stabilität, Solidarität und soziale Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten".
Das sind gewichtige Vorhaltungen. Um sie zu plausibilisieren, müsste Mounk wenigstens ein paar Seiten aufwenden für einen Ausflug in die Empirie: Was ist für ihn eine gerechte Gesellschaft? Woran misst er sie? Welche Allianzen sollten denn geschmiedet werden, um diese Gerechtigkeit zu vermehren? Mounk wünscht sich eine Gesellschaft, "in der wir friedlich zusammenleben, uns wirklich ebenbürtig fühlen und einander als wahre Mitbürger erkennen". Ein gutes Lektorat hätte Mounk geraten, solche Kirchentagsrhetorik genauso zu streichen wie die Vielzahl von Sätzen in seinem Buch, die keinerlei Erkenntnisgewinn abwerfen: "Für den Aufbau einer fairen Gesellschaft bedarf es großer Willenskraft und ernsthafter Anstrengung." Tatsächlich? Für eine Verteidigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedarf es dann doch mehr als solche Binsen.
Mounk hat recht mit seiner Feststellung, dass die "reichsten und glücklichsten Länder der Welt fast alles liberale Demokratien sind". Das sei kein Zufall, denn aus "tiefen Gründen fördern liberale Institutionen wichtige Werte wie den Frieden und den Wohlstand". Aber welche Institutionen meint er hier denn? Etwa Parteien mit dem Anspruch, programmatisch tatsächlich noch große Anteile der Wähler zu repräsentieren? Oder demokratische Wahlen und Parlamente, die für stabile politische Verhältnisse sorgen könnten? Oder Verfassungsgerichte und ihre Rechtsprechung? Und wie wären diese Institutionen zu stärken, etwa zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung? Dafür, dass Mounk immerhin als Politikwissenschaftler gilt, ist sein Desinteresse an solchen Fragen bemerkenswert.
Am Ende seines Buches hält Mounk noch ein Plädoyer für den Liberalismus. Da er sich selbst einen "philosophischen Liberalen" nennt, ist das vielleicht naheliegend. Aber auch hier macht sich bemerkbar, dass das Buch ursprünglich auf die amerikanische Debatte um die Identitätspolitik zielte. Ein überzeugendes Plädoyer für den Liberalismus müsste zunächst die doch beachtlichen Unterschiede zwischen der angelsächsischen Diskussion um den Liberalismus und dessen europäischen Ausprägungen darstellen.
Man kann Mounk ja zustimmen, dass eine Gesellschaft zum "Aufbau einer gerechteren Welt" versuchen sollte, ihren "universellen Ansprüchen gerecht zu werden, anstatt diese aufzugeben". Der Liberalismus hat diese Ansprüche allerdings gar nicht aufgegeben. Vielmehr muss er schon aus intellektueller Redlichkeit zugestehen, dass die Seite an ihm, in der es vor allem um die Verwirklichung von Freiheitsrechten geht, auch in der Identitätssynthese liberale Impulse anzuerkennen fordert. Und der Zweifel ihrer Anhänger, in unseren zersplitterten und angeblich so gespaltenen Gesellschaften auch zwischen einzelnen Identitätsgruppen noch zu Verständigung und Allianzen zu gelangen, ist ein Eindruck, dem sich Liberale mit Sicherheit anschließen können. War es nicht eine Erzliberale wie Margaret Thatcher, die überhaupt nur noch Individuen sehen wollte und gar keine Gesellschaft? GERALD WAGNER
Yascha Mounk: "Im Zeitalter der Identität". Der Aufstieg einer gefährlichen Idee.
A. d. Englischen von H. Dierlamm und S. Reinhardus. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 512 S., geb., 28,- Euro.
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