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Warum eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft sinnvoll ist: Wolfgang Merkel sorgt sich um die Demokratie
Gerät die Demokratie als die überlegene politische Ordnungsform der westlichen Gesellschaften ins Zwielicht? Stehen wir gar vor einer "Demokratiedämmerung"? Es ist nicht nur die gefühlte Häufigkeit der aktuellen Krisendiagnosen, die die Demokratie in einem trüben Licht dastehen lässt. Auch die empirischen Befunde der Demokratieforschung bestätigen dieses Bild: Nach den Daten des globalen Projekts "Varieties of Democracy" geht die Beurteilung der Demokratiequalität in den EU-Staaten nach Ansicht der darin befragten Demokratieforscher seit 2003 kontinuierlich nach unten.
Schon deshalb ist dieses Buch über die "Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert" lesenswert. Seine besondere Qualität allerdings liegt in der Selbstbeobachtung des Autors, die der Leser als eine vom Gegenstand des Buches erzwungene Selbstkorrektur erfährt. Wolfgang Merkel legt hier die Summe seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Herausforderungen der Demokratie seit dem Epochenbruch von 1989 vor.
Die fünfzehn Aufsätze, die er versammelt, sind zwar zum Teil schon zwanzig Jahre alt. Doch im Prozess ihrer Überarbeitung, der zu diesem Buch geführt hat, sei sein früherer demokratischer Optimismus und das souveräne Zurückweisen der allgegenwärtigen Krisentheorien selbst in eine Krise geraten, verrät Merkel. Was die Zukunftsfähigkeit der Demokratie betrifft, könne er sich einer wachsenden Skepsis und Ernüchterung heute nicht mehr entziehen. Man spürt bei der Lektüre der Texte darum auch den gewissen Trotz, der in Merkels Verteidigen dieser Staatsform liegt. Aber wie viel Resilienz steckt noch in der Demokratie in ihrer Dauerkrise? Wer kann sie retten?
Zunächst die Anklage: "Kaum bemerkt und diskutiert" würde der "politische Skandal", dass hinter den "normativen Schrumpfstufen" unserer heutigen Demokratien die schleichende Exklusion der an Umfang zunehmenden Unterschichten aus der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sphäre unseres Gemeinwesens stünde. Längst habe sich auch in Deutschland eine politisch degenerierte "Zweidritteldemokratie" der noch partizipationswilligen und darum auch in den Regierungsparteien repräsentierten Mittelschichten etabliert, die mit den institutionellen Defiziten und sozioökonomischen Ungleichheiten gut leben könnten.
Diese "gutsituierten kosmopolitischen Bürger" genügten sich zunehmend selbst in den moralischen Diskursen einer "kulturell und kognitiv von der unteren Hälfte der Gesellschaft stark abgekoppelten Zivilgesellschaft". Die "amerikanische Krankheit der Unterschichtsexklusion" habe längst auch die europäischen Wähler erreicht.
Solche Diagnosen findet man auch oft in der gegenwärtigen Soziologie. Aber Merkel ist Politikwissenschaftler. Wer in jüngster Zeit von der Dominanz der Soziologen im gesellschaftlichen Diskurs vielleicht schon eher genervt war, sollte auch darum zu diesem Buch greifen, weil Merkel hier gegen die ausschließlich soziologische Gesellschaftsbeschreibung die begriffliche Differenz schärft zwischen Politik, Staat und Gesellschaft.
Wären nur die Akteure und Entscheidungsverfahren der Zivilgesellschaft dominant, warnt Merkel, "würde sich eine habermasianische Diskurswelt auftun, in der das Politische verdunstet, Macht und Interessen ihre Rolle" verlören. Die politischen "Konflikte und Leidenschaften würden diskursiv geschreddert". Diese Idee müsse in der antagonistischen Welt der Macht aber kläglich scheitern, wo Ressourcen ungleich verteilt seien und "pluralistische Interessen notwendig im Konflikt" stünden.
Den Grund für die aktuelle Popularität dieser Politikvergessenheit liegt für Merkel auf der Hand: Es ist im Wesentlichen der Staat, der für ihn versagt hat. Sei es der Steuerstaat, der Sozial- oder Bildungsstaat, überall analysiert Merkel ein eklatantes Staatsversagen, das am Ende die Demokratie in ihrem Grundprinzip herausfordere, nämlich der politischen Gleichheit seiner Bürger, für die der Staat zu sorgen habe, etwa in der Bildungspolitik.
Darum fordert Merkel die "Wiederentdeckung des Staates" als zwingendes Gebot. Es sähe ganz so aus, als erlebten wir angesichts der "Megaprobleme" der vergangenen Jahre eine erneute Nachfrage nach einem "starken Staat" in Theorie und Praxis. Geschehe das nicht, hätte die demokratische Idee im neuen Systemwettbewerb mit den Autokratien vor allem fernöstlicher Provenienz wohl keine Chance.
Also mehr Staat, mehr Politik. Das heißt für Merkel: mehr Inklusion und nicht die moralisierende Exklusion politisch unliebsamer Haltungen aus der sich als exklusiv "demokratisch" selbstgerecht stilisierenden Mitte des politischen Spektrums. Mehr Staat heißt aber auch mehr Kontrolle der Wirtschaft. Schließlich gäbe es keine vernünftigen Zweifel, dass sich insbesondere der Finanzsektor zunehmend einer politischen Einhegung entziehe. Was aber keine Entwicklung anonymer Differenzierungszwänge sei, sondern das Ergebnis bewusster Deregulierungspolitik interessengeleiteter Mächte.
Auffallend an den Schlussfolgerungen dieses Buches ist, dass Merkel mit Vehemenz ein Wiedererstarken des demokratischen Staates fordert, der Forderung seines Kollegen Wolfgang Streeck nach einer Renaissance des Nationalstaates dann aber doch eher ambivalent gegenübersteht. Das "kosmopolitische Requiem" auf den Nationalstaat sei angesichts von Migrationskrise, Pandemie und Ukrainekrieg wohl zu früh gesungen worden, räumt Merkel ein. Das Pendel schwinge gegenwärtig wohl eher zurück zu "nationalstaatlichen Erwägungen".
Eine persönliche Festlegung scheute Merkel hier dann aber doch. Der normative Kern seines Faches - ein starker Staat und das Inklusionsgebot des politischen Konflikts - zwingt ihn dazu auch nicht. Aber er zwingt den Leser dieses Buches zur Frage, wie lange wir uns mit so wenig Staat in unserer Demokratie eigentlich noch abfinden wollen. GERALD WAGNER
Wolfgang Merkel: "Im Zwielicht". Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2023. 381 S., geb., 39,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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