Im kapitalistischen Wirtschaftssystem richten Konsumenten, Investoren und Unternehmerinnen ihr Handeln auf die Zukunft aus. Diese birgt Chancen und Risiken, ist aber vor allem eines: ungewiss. Wie gehen die Akteure mit dieser Ungewissheit um? Ökonomen beantworten diese Frage mit verschiedenen Theorien, die auf die Berechenbarkeit des Marktes setzen. Dadurch wird die Nichtvorhersagbarkeit der Zukunft unterschätzt.
Jens Beckert nimmt die temporale Ordnung des modernen Wirtschaftslebens ernst und entwickelt einen neuen Blick auf die Dynamik des Kapitalismus. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die fiktionalen Erwartungen der Akteure - Imaginationen und Narrative darüber, was die Zukunft bringt. Mit den Instrumenten der Soziologie und der Literaturtheorie liefert er eine umfassende Typologie dieser Erwartungen, untersucht ihre Funktionsweisen in Bereichen wie Geld, Innovation und Konsum und zeigt vor allem, wie mächtig sie sind. Fiktionale Erwartungen sind der Treibstoff der Ökonomie, können diese aber auch in tiefe Krisen stürzen, wenn sie als hohle Narrative entlarvt werden. Dann platzt die Blase. Ein fulminantes Buch.
Jens Beckert nimmt die temporale Ordnung des modernen Wirtschaftslebens ernst und entwickelt einen neuen Blick auf die Dynamik des Kapitalismus. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die fiktionalen Erwartungen der Akteure - Imaginationen und Narrative darüber, was die Zukunft bringt. Mit den Instrumenten der Soziologie und der Literaturtheorie liefert er eine umfassende Typologie dieser Erwartungen, untersucht ihre Funktionsweisen in Bereichen wie Geld, Innovation und Konsum und zeigt vor allem, wie mächtig sie sind. Fiktionale Erwartungen sind der Treibstoff der Ökonomie, können diese aber auch in tiefe Krisen stürzen, wenn sie als hohle Narrative entlarvt werden. Dann platzt die Blase. Ein fulminantes Buch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2018Erwartungen müssen eben befeuert werden
Ohne Fiktionen keine harte Wirklichkeit: Jens Beckert entwirft eine Theorie kapitalistischer Dynamik
Keine andere Sozialwissenschaft versucht so hartnäckig, ihre eigene Identität zu leugnen wie die Ökonomie. Begriffe wie Saysches Gesetz, Ricardianische Äquivalenz und Pareto-Optimum erinnern eher an theoretische Physik als an das Studium gesellschaftlicher Zusammenhänge, und die jahrzehntelange Mathematisierung der Disziplin hat dazu geführt, dass ohne das Verständnis von Nutzenfunktionen und die sichere Handhabung von Regressionsanalysen wirtschaftswissenschaftliche Kommunikation kaum möglich ist. Man möchte so gerne eine Naturwissenschaft sein - ein Phänomen, das Philip Mirowski und Richard Rorty als unter Ökonomen (und anderen Wissenschaftlern) verbreiteten "Physikneid" bereits vor Jahren diagnostizierten.
Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, ruft nun in seinem neuen Buch den Kollegen vom anderen Ende des Flurs, aber auch jedem Kleinanleger und Verbraucher, nicht nur ein weiteres Mal in Erinnerung, dass jedwedes wirtschaftliche Verhalten sozial konstituiert ist, sondern mutet den ökonomische Theoretikern und Praktikern noch etwas mehr zu. Wirtschaft, so Beckert, sei im Kern Fiktion, und daher sei ihr auch nur mit einem literaturwissenschaftlichen Zugriff beizukommen.
Im Zentrum der Untersuchung stehen Erwartungen, doch nicht jene vom rationalen Schlag, mit denen die Mehrzahl ökonomischer Modelle hantiert, um zu zeigen, wie nüchterne Akteure auf effizienten Märkten mittels Preisen kommunizieren. An ihre Stelle setzt Beckert vielmehr fiktionale Erwartungen, was gewissermaßen eine begriffliche Dopplung ist: rationale Erwartungen kann es schließlich gar nicht geben, da niemand die Zukunft kennt. Wenn dies aber der Fall ist und jedes auf die Zukunft gerichtete Verhalten mit Unsicherheit leben muss, stellt sich die Frage, warum sich ein dynamisches kapitalistisches System überhaupt seit Jahrhunderten hält und fortlaufend expandiert.
Die Antwort darauf findet Beckert, ausgehend vom veränderten Zeithorizont der westlichen Moderne, in einem erkenntnistheoretischen Winkelzug: Mittels statistischer Verfahren wird Unsicherheit in Wahrscheinlichkeit verwandelt, und diese wiederum befeuert Erwartungen. Dieser Prozess ist zwar auch individualpsychologisch erklärbar, für den Soziologen Beckert aber, wenig überraschend, vor allem sozialer Natur. Regelwerke, Standards und Experten setzen den Rahmen, innerhalb dessen Erwartungen formuliert werden. Zugleich machen dieselben Instrumente und Akteure Vorhersagen glaubwürdig und vermitteln Autorität: ohne Zentralbanken, wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten und Ratingagenturen keine Devisengeschäfte, weder Investitionen noch Innovationen, kein Kreditwesen und im Grunde überhaupt keinen Geldverkehr, der durch reale Güter nicht gedeckt ist. Auch Konsum funktioniert Beckert zufolge über Erwartungsbildung, und die bereits eingebaute Enttäuschung beugt stagnierendem Verbrauch vor. Die temporale Struktur des kapitalistischen Waren- und Geldverkehrs ist demnach nicht nur eine Randnotiz, sie ist sein Wesen. Erst Erwartungen an und Vertrauen in die Zukunft führen zu Veränderung und Wachstum, ihr Entzug zu Krise und Verlust.
Doch wie werden Fiktionen glaubhaft gemacht? Beckerts Antwort: indem sie sich literarischer Mittel bedienen, namentlich Protagonisten, Requisiten und Tropen, vor allem aber indem sie (in mathematische Formen gekleidete) Geschichten erzählen, die Komplexität reduzieren und Verlässlichkeit vermitteln. Im Kern - das übrige literarische Begriffsarsenal tritt rasch in den Hintergrund - sind es also Narrative, um die es Beckert in Anknüpfung an die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey geht. Doch hat die Analogie Grenzen: Akzeptiert der Romanleser von der ersten Zeile an, dass es sich um eine Erfindung handelt, steht diese Option der wirtschaftlichen Fiktion nicht offen. Ihre Ratio ist Ernsthaftigkeit, Spuren ihrer Fiktionalität lassen sie als fragil, gar "verwundbar" erscheinen. Prognosen und Theorien, Beckert zufolge zentrale Formen wirtschaftlicher Erwartungsproduktion, behaupten die Möglichkeit, dass die Zukunft wirklich so aussehen könnte.
Irrtümer und reale Probleme schaden dabei nicht, ganz im Gegenteil. Der bekannte Paradigmenwechsel von keynesianischen zu monetaristischen Modellen, verbunden mit Politikversuchen wie Global- und Geldmengensteuerung, war kein Streit um die Belastbarkeit von Theorien, sondern lediglich um die Überlegenheit einzelner Varianten. Und das Eingeständnis, dass Prognosen oft irren, erhält die Fiktion aufrecht, sie könnten richtig sein. Entscheidend, so Beckert, sei nur, ob relevante Akteure an die Prognosen glaubten, entsprechend handelten und damit die Prophezeiung selbst erfüllten. Mit dem Mooreschen Gesetz, wonach sich die Leistungsfähigkeit integrierter Schaltkreise etwa alle zwei Jahre verdoppelt, hat er das passende Beispiel eines zur Benchmark mutierten Theorems zur Hand.
Narrative sind nicht mit Betrug zu verwechseln; Beckert geht es um fehlendes Verständnis und mangelnde Einsicht. Das Problem ist nicht die Fiktion, sondern der Umstand, dass sich die ökonomischen Akteure mehrheitlich Beobachtungen zweiter Ordnung verweigern, also - in Anlehnung an Hayden Whites Betrachtung dichtender Historiker - zu wenig Meta-Ökonomie betreiben. So beteuere Eugene Fama - dessen Nobelpreis 2013 man wohl wie jenen zuvor an Barack Obama als unerfüllte Hoffnung auf Besserung, mithin als ungedeckten Wechsel auf die Zukunft deuten muss - bis zum heutigen Tag, dass es keine Spekulationsblasen gebe.
Nicht immer geraten Beckerts Beobachtungen so treffsicher. Dies hat zum einen sprachliche Gründe, insbesondere den mitunter allzu starken soziologischen Dialekt: hier "promissorische Geschichten" und "skopische Systeme", dort "Als-ob-Annahmen" und "Glauben-Machen-Spiele", und dazwischen kein Mangel an Substantivierungen und Fachvokabeln. Gerade im ersten Buchdrittel vermag man sich des Eindrucks nicht zu erwehren, manches bereits anderswo gelesen zu haben, nur noch nicht so kompliziert. Zum anderen geraten die empirischen Belege oft kursorisch und anekdotenhaft, wenn der Erwerb von Stradivaris und altem Wein dichtauf gefolgt wird von Verweisen auf Gentechnik und Atomkraft, Moby-Dick und Free Willy.
Bourdieus Kabylen müssen als quasi vorkapitalistische Referenzgruppe etwas zu oft herhalten, während die historisch-empirische Forschung trotz der wiederholten Beteuerung, dass (auch) "die Geschichte zählt", weitgehend unberücksichtigt bleibt. Das gilt für die in den Vereinigten Staaten seit Jahren populäre New History of Capitalism und auch für jüngere deutsche Arbeiten zu Verschuldung, Wachstum oder Zukunftsentwürfen.
Beckerts Buch strebt eher eine theoretische Synthese an, quasi eine allgemeine Theorie kapitalistischer Dynamik. Zu diesem Zweck werden Max Weber und Emile Durkheim neben Georg Simmel und Pierre Bourdieu aufgeboten, stehen Niklas Luhmann und Talcott Parsons Seit' an Seit' mit Michel Foucault und Anthony Giddens, werden John Dewey und Bruno Latour von Hans Joas und Wolfgang Iser flankiert; bloß Habermas hat es nicht in diesen Kader geschafft.
Tatsächlich tritt mit fortschreitender Seitenzahl vor allem Durkheims Religionssoziologie als Leitkonzept hervor. Von Beckert als Theorie der Wertzuschreibung adaptiert, werden Durkheims totemistische Strukturen überzeugend auf kapitalistische Zusammenhänge umgelegt, um deren irrationalen Charakter zu bekräftigen und am Ende für die anhaltende, nun aber "säkulare Verzauberung" der modernen Wirtschaft zu argumentieren. Webers stahlhartes Gehäuse wird damit nicht obsolet, sondern inwendig renoviert. Auf dieser Note endet Beckert und gönnt sich selbst eine, wenngleich vorsichtig formulierte Vorhersage. Seine Darstellung des Kapitalismus als hochanpassungsfähiges System, das alternative Ideen durch Vereinnahmung ausschaltet, klingt schon fast nach einer Ewigkeitsvorstellung.
KIM CHRISTIAN PRIEMEL.
Jens Beckert: "Imaginierte Zukunft". Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
569 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Fiktionen keine harte Wirklichkeit: Jens Beckert entwirft eine Theorie kapitalistischer Dynamik
Keine andere Sozialwissenschaft versucht so hartnäckig, ihre eigene Identität zu leugnen wie die Ökonomie. Begriffe wie Saysches Gesetz, Ricardianische Äquivalenz und Pareto-Optimum erinnern eher an theoretische Physik als an das Studium gesellschaftlicher Zusammenhänge, und die jahrzehntelange Mathematisierung der Disziplin hat dazu geführt, dass ohne das Verständnis von Nutzenfunktionen und die sichere Handhabung von Regressionsanalysen wirtschaftswissenschaftliche Kommunikation kaum möglich ist. Man möchte so gerne eine Naturwissenschaft sein - ein Phänomen, das Philip Mirowski und Richard Rorty als unter Ökonomen (und anderen Wissenschaftlern) verbreiteten "Physikneid" bereits vor Jahren diagnostizierten.
Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, ruft nun in seinem neuen Buch den Kollegen vom anderen Ende des Flurs, aber auch jedem Kleinanleger und Verbraucher, nicht nur ein weiteres Mal in Erinnerung, dass jedwedes wirtschaftliche Verhalten sozial konstituiert ist, sondern mutet den ökonomische Theoretikern und Praktikern noch etwas mehr zu. Wirtschaft, so Beckert, sei im Kern Fiktion, und daher sei ihr auch nur mit einem literaturwissenschaftlichen Zugriff beizukommen.
Im Zentrum der Untersuchung stehen Erwartungen, doch nicht jene vom rationalen Schlag, mit denen die Mehrzahl ökonomischer Modelle hantiert, um zu zeigen, wie nüchterne Akteure auf effizienten Märkten mittels Preisen kommunizieren. An ihre Stelle setzt Beckert vielmehr fiktionale Erwartungen, was gewissermaßen eine begriffliche Dopplung ist: rationale Erwartungen kann es schließlich gar nicht geben, da niemand die Zukunft kennt. Wenn dies aber der Fall ist und jedes auf die Zukunft gerichtete Verhalten mit Unsicherheit leben muss, stellt sich die Frage, warum sich ein dynamisches kapitalistisches System überhaupt seit Jahrhunderten hält und fortlaufend expandiert.
Die Antwort darauf findet Beckert, ausgehend vom veränderten Zeithorizont der westlichen Moderne, in einem erkenntnistheoretischen Winkelzug: Mittels statistischer Verfahren wird Unsicherheit in Wahrscheinlichkeit verwandelt, und diese wiederum befeuert Erwartungen. Dieser Prozess ist zwar auch individualpsychologisch erklärbar, für den Soziologen Beckert aber, wenig überraschend, vor allem sozialer Natur. Regelwerke, Standards und Experten setzen den Rahmen, innerhalb dessen Erwartungen formuliert werden. Zugleich machen dieselben Instrumente und Akteure Vorhersagen glaubwürdig und vermitteln Autorität: ohne Zentralbanken, wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten und Ratingagenturen keine Devisengeschäfte, weder Investitionen noch Innovationen, kein Kreditwesen und im Grunde überhaupt keinen Geldverkehr, der durch reale Güter nicht gedeckt ist. Auch Konsum funktioniert Beckert zufolge über Erwartungsbildung, und die bereits eingebaute Enttäuschung beugt stagnierendem Verbrauch vor. Die temporale Struktur des kapitalistischen Waren- und Geldverkehrs ist demnach nicht nur eine Randnotiz, sie ist sein Wesen. Erst Erwartungen an und Vertrauen in die Zukunft führen zu Veränderung und Wachstum, ihr Entzug zu Krise und Verlust.
Doch wie werden Fiktionen glaubhaft gemacht? Beckerts Antwort: indem sie sich literarischer Mittel bedienen, namentlich Protagonisten, Requisiten und Tropen, vor allem aber indem sie (in mathematische Formen gekleidete) Geschichten erzählen, die Komplexität reduzieren und Verlässlichkeit vermitteln. Im Kern - das übrige literarische Begriffsarsenal tritt rasch in den Hintergrund - sind es also Narrative, um die es Beckert in Anknüpfung an die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey geht. Doch hat die Analogie Grenzen: Akzeptiert der Romanleser von der ersten Zeile an, dass es sich um eine Erfindung handelt, steht diese Option der wirtschaftlichen Fiktion nicht offen. Ihre Ratio ist Ernsthaftigkeit, Spuren ihrer Fiktionalität lassen sie als fragil, gar "verwundbar" erscheinen. Prognosen und Theorien, Beckert zufolge zentrale Formen wirtschaftlicher Erwartungsproduktion, behaupten die Möglichkeit, dass die Zukunft wirklich so aussehen könnte.
Irrtümer und reale Probleme schaden dabei nicht, ganz im Gegenteil. Der bekannte Paradigmenwechsel von keynesianischen zu monetaristischen Modellen, verbunden mit Politikversuchen wie Global- und Geldmengensteuerung, war kein Streit um die Belastbarkeit von Theorien, sondern lediglich um die Überlegenheit einzelner Varianten. Und das Eingeständnis, dass Prognosen oft irren, erhält die Fiktion aufrecht, sie könnten richtig sein. Entscheidend, so Beckert, sei nur, ob relevante Akteure an die Prognosen glaubten, entsprechend handelten und damit die Prophezeiung selbst erfüllten. Mit dem Mooreschen Gesetz, wonach sich die Leistungsfähigkeit integrierter Schaltkreise etwa alle zwei Jahre verdoppelt, hat er das passende Beispiel eines zur Benchmark mutierten Theorems zur Hand.
Narrative sind nicht mit Betrug zu verwechseln; Beckert geht es um fehlendes Verständnis und mangelnde Einsicht. Das Problem ist nicht die Fiktion, sondern der Umstand, dass sich die ökonomischen Akteure mehrheitlich Beobachtungen zweiter Ordnung verweigern, also - in Anlehnung an Hayden Whites Betrachtung dichtender Historiker - zu wenig Meta-Ökonomie betreiben. So beteuere Eugene Fama - dessen Nobelpreis 2013 man wohl wie jenen zuvor an Barack Obama als unerfüllte Hoffnung auf Besserung, mithin als ungedeckten Wechsel auf die Zukunft deuten muss - bis zum heutigen Tag, dass es keine Spekulationsblasen gebe.
Nicht immer geraten Beckerts Beobachtungen so treffsicher. Dies hat zum einen sprachliche Gründe, insbesondere den mitunter allzu starken soziologischen Dialekt: hier "promissorische Geschichten" und "skopische Systeme", dort "Als-ob-Annahmen" und "Glauben-Machen-Spiele", und dazwischen kein Mangel an Substantivierungen und Fachvokabeln. Gerade im ersten Buchdrittel vermag man sich des Eindrucks nicht zu erwehren, manches bereits anderswo gelesen zu haben, nur noch nicht so kompliziert. Zum anderen geraten die empirischen Belege oft kursorisch und anekdotenhaft, wenn der Erwerb von Stradivaris und altem Wein dichtauf gefolgt wird von Verweisen auf Gentechnik und Atomkraft, Moby-Dick und Free Willy.
Bourdieus Kabylen müssen als quasi vorkapitalistische Referenzgruppe etwas zu oft herhalten, während die historisch-empirische Forschung trotz der wiederholten Beteuerung, dass (auch) "die Geschichte zählt", weitgehend unberücksichtigt bleibt. Das gilt für die in den Vereinigten Staaten seit Jahren populäre New History of Capitalism und auch für jüngere deutsche Arbeiten zu Verschuldung, Wachstum oder Zukunftsentwürfen.
Beckerts Buch strebt eher eine theoretische Synthese an, quasi eine allgemeine Theorie kapitalistischer Dynamik. Zu diesem Zweck werden Max Weber und Emile Durkheim neben Georg Simmel und Pierre Bourdieu aufgeboten, stehen Niklas Luhmann und Talcott Parsons Seit' an Seit' mit Michel Foucault und Anthony Giddens, werden John Dewey und Bruno Latour von Hans Joas und Wolfgang Iser flankiert; bloß Habermas hat es nicht in diesen Kader geschafft.
Tatsächlich tritt mit fortschreitender Seitenzahl vor allem Durkheims Religionssoziologie als Leitkonzept hervor. Von Beckert als Theorie der Wertzuschreibung adaptiert, werden Durkheims totemistische Strukturen überzeugend auf kapitalistische Zusammenhänge umgelegt, um deren irrationalen Charakter zu bekräftigen und am Ende für die anhaltende, nun aber "säkulare Verzauberung" der modernen Wirtschaft zu argumentieren. Webers stahlhartes Gehäuse wird damit nicht obsolet, sondern inwendig renoviert. Auf dieser Note endet Beckert und gönnt sich selbst eine, wenngleich vorsichtig formulierte Vorhersage. Seine Darstellung des Kapitalismus als hochanpassungsfähiges System, das alternative Ideen durch Vereinnahmung ausschaltet, klingt schon fast nach einer Ewigkeitsvorstellung.
KIM CHRISTIAN PRIEMEL.
Jens Beckert: "Imaginierte Zukunft". Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
569 S., geb., 42,- [Euro].
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»Einer der kreativsten, weitreichendsten und vielseitigsten neuen Ansätze soziologischer Theoriebildung.« Gert Scobel 3sat 20180618