June ist 16 und hätte am liebsten ein ganz normales Teenager-Leben – zur Schule gehen, Freunde treffen, Fastfood essen. Aber bei ihren Hippie-Eltern gibt es nur regional angebaute Lebensmittel, selbst gemachtes Deo und auf einer Highschool war June auch noch nie. Damit kann sie leben. Doch Junes Eltern sind auch absolute Impfgegner. Und als sie sich mit den Masern infiziert, steckt sie auch ein neugeborenes Baby an, das die Krankheit nicht überlebt. June sieht keine andere Möglichkeit mehr, als sich rechtlich von ihren Eltern freisprechen zu lassen, um sich endlich impfen lassen zu können. Eine dramatische Entscheidung!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.07.2022Masern sind keine
Gesichtspunkte
Die 16-jährige Juniper muss sich mit ihren
Eltern auseinandersetzen. Die sind
entschiedene Impfgegner
VON SUSAN VAHABZADEH
Wenn jemand eine Allergie hat gegen Bienengift, geht er mit jedem Ausflug in die Natur ein tödliches Risiko ein. Ist das eine andere Gefahr, die ein komplett ungeimpfter Mensch eingeht, wenn er sich in einer Welt bewegt, in der Masern und Röteln und Tetanus auf ihn warten? Marisa Reichardts Jugendroman „Immunity“ geht manchmal so rücksichtsvoll mit unterschiedlichen Ansichten um, dass ihm die Sinnlichkeit abhandenkommt, aber leicht gemacht hat sie es sich nicht. Das Problem ihrer Erzählerin Juniper mit ihrer Familie wird von zwei Seiten beleuchtet, und der Unterschied zwischen einem Risiko, das man für sich selbst eingeht, und dem Schaden, den man möglicherweise anderen zufügt, spielt darin eine zentrale Rolle. Aber Argumente, die auf tönernen Füßen stehen, lässt die Autorin nicht gelten. Zunächst einmal sind Junipers Eltern ziemlich nette Menschen, die vorwiegend das Wohl ihrer Kinder und des Planeten im Sinn haben und darauf nur eine andere Sichtweise haben als die meisten Menschen. In ihrer Welt ist Cola ungesundes Zuckerwasser, Handys sind krebserregend und das Internet ist ein Teufelszeug, das nicht über ihre Schwelle darf. Zur Schule in der kalifornischen Kleinstadt, in die sie mit ihrer Familie gerade gezogen ist, darf Juniper nicht. Ihre Schule ist der Küchentisch, Homeschooling nennt man das in Amerika. Juniper ist sechzehn, und dass sie in der Schule gleichaltrige Jugendliche kennenlernen könnte, wünscht sie sich langsam wirklich. Ansonsten ist sie ein glücklicher Teenager. Es geht bald nicht mehr um Blumenkohl statt Pizza, die netten, wohlmeinenden Eltern sind Impfgegner, und sie waren es schon, als Juniper auf die Welt kam. Sie wird sich dessen erst bewusst, als sie plötzlich schwer krank wird – die Masern, stellt sich heraus, als sie ins Krankenhaus muss. Was, denkt sie nun, während ihre kleinen Geschwister auch krank werden, wenn sie sich als Nächstes Polio holt? Und es kommt noch schlimmer: Auf dem Wochenmarkt, wo sie mit ihrer Mutter Kräuter verkauft, hat sie unwissentlich ein Neugeborenes angesteckt, das an den Masern stirbt.
In den USA hat sich, schreibt Reichardt im Anhang ihres Buches, die Zahl der komplett ungeimpften Kinder zwischen 2001 und 2018 vervierfacht – die Masern galten dort schon mal als ausgerottet, dann kehrten sie zurück. In Deutschland war es ähnlich, 2013 kam es beispielsweise in München zu einer Epidemie, 2020 trat das Masernschutzgesetz in Kraft. Seit den vielen Schulschließungen spielen Masern eine eher untergeordnete Rolle – aber es gibt sie noch, wie auch viele andere Krankheiten, die Ungeimpften gefährlich werden können. In Kalifornien, wo Reichardts Buch spielt, verlangt das Gesetz diverse Impfungen, damit Kinder eine öffentliche Schule besuchen können – Juniper dürfte nicht einmal die High School besuchen, wenn ihre Eltern sie ließen. Reichardt hat sich da ein Thema ausgesucht, das sehr auf der Höhe der Zeit ist, nicht nur der Virenlastigkeit wegen, sondern auch, weil nebenher noch ein bisschen Canceln via Facebook darin vorkommt.
Wie ist das, wenn ein Kind langsam erwachsen wird und seinen Eltern nicht mehr alles glaubt? Juniper hat am Küchentisch gelernt, sie solle alles hinterfragen – damit, dass sie sich nun über Nutzen und Risiken von Impfungen informiert und zu dem Schluss kommt, sich zur Not gegen ihre Eltern zu stellen, haben die nicht gerechnet. Was sie da abwägt, hat auch viel mit Gemeinschaft zu tun – sie fühlt sich für den Tod des Säuglings verantwortlich. Aber Reichardt erzählt auch, wie die Gemeinschaft reagiert: Die ist nicht einfach bloß vorsichtig im Umgang mit Junipers Familie, es beginnt eine richtige Hetzjagd. Juniper hält das nur durch, weil sie einen Freund gefunden hat, Nico, der ihr hilft, eine Anwältin zu finden. Damit nehmen Junipers Nöte eine neue Dimension an: Jetzt hat sie Angst, ihre irrenden Eltern zu verletzen. Geht dann aber nicht anders. Immer noch lieber ein ruiniertes Weihnachtsfest als ein ruiniertes Leben. Masern sind keine Gesichtspunkte. Wie fühlt sich ein Kind von Impfgegnern, wenn es erwachsen wird? Der Jugendroman „Immunity“ – gibt darauf eine deutliche Antwort.
Marisa Reichardt:
Immunity.
Aus dem Englischen
von Rita Gravert.
Moon Notes 2021.
352 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gesichtspunkte
Die 16-jährige Juniper muss sich mit ihren
Eltern auseinandersetzen. Die sind
entschiedene Impfgegner
VON SUSAN VAHABZADEH
Wenn jemand eine Allergie hat gegen Bienengift, geht er mit jedem Ausflug in die Natur ein tödliches Risiko ein. Ist das eine andere Gefahr, die ein komplett ungeimpfter Mensch eingeht, wenn er sich in einer Welt bewegt, in der Masern und Röteln und Tetanus auf ihn warten? Marisa Reichardts Jugendroman „Immunity“ geht manchmal so rücksichtsvoll mit unterschiedlichen Ansichten um, dass ihm die Sinnlichkeit abhandenkommt, aber leicht gemacht hat sie es sich nicht. Das Problem ihrer Erzählerin Juniper mit ihrer Familie wird von zwei Seiten beleuchtet, und der Unterschied zwischen einem Risiko, das man für sich selbst eingeht, und dem Schaden, den man möglicherweise anderen zufügt, spielt darin eine zentrale Rolle. Aber Argumente, die auf tönernen Füßen stehen, lässt die Autorin nicht gelten. Zunächst einmal sind Junipers Eltern ziemlich nette Menschen, die vorwiegend das Wohl ihrer Kinder und des Planeten im Sinn haben und darauf nur eine andere Sichtweise haben als die meisten Menschen. In ihrer Welt ist Cola ungesundes Zuckerwasser, Handys sind krebserregend und das Internet ist ein Teufelszeug, das nicht über ihre Schwelle darf. Zur Schule in der kalifornischen Kleinstadt, in die sie mit ihrer Familie gerade gezogen ist, darf Juniper nicht. Ihre Schule ist der Küchentisch, Homeschooling nennt man das in Amerika. Juniper ist sechzehn, und dass sie in der Schule gleichaltrige Jugendliche kennenlernen könnte, wünscht sie sich langsam wirklich. Ansonsten ist sie ein glücklicher Teenager. Es geht bald nicht mehr um Blumenkohl statt Pizza, die netten, wohlmeinenden Eltern sind Impfgegner, und sie waren es schon, als Juniper auf die Welt kam. Sie wird sich dessen erst bewusst, als sie plötzlich schwer krank wird – die Masern, stellt sich heraus, als sie ins Krankenhaus muss. Was, denkt sie nun, während ihre kleinen Geschwister auch krank werden, wenn sie sich als Nächstes Polio holt? Und es kommt noch schlimmer: Auf dem Wochenmarkt, wo sie mit ihrer Mutter Kräuter verkauft, hat sie unwissentlich ein Neugeborenes angesteckt, das an den Masern stirbt.
In den USA hat sich, schreibt Reichardt im Anhang ihres Buches, die Zahl der komplett ungeimpften Kinder zwischen 2001 und 2018 vervierfacht – die Masern galten dort schon mal als ausgerottet, dann kehrten sie zurück. In Deutschland war es ähnlich, 2013 kam es beispielsweise in München zu einer Epidemie, 2020 trat das Masernschutzgesetz in Kraft. Seit den vielen Schulschließungen spielen Masern eine eher untergeordnete Rolle – aber es gibt sie noch, wie auch viele andere Krankheiten, die Ungeimpften gefährlich werden können. In Kalifornien, wo Reichardts Buch spielt, verlangt das Gesetz diverse Impfungen, damit Kinder eine öffentliche Schule besuchen können – Juniper dürfte nicht einmal die High School besuchen, wenn ihre Eltern sie ließen. Reichardt hat sich da ein Thema ausgesucht, das sehr auf der Höhe der Zeit ist, nicht nur der Virenlastigkeit wegen, sondern auch, weil nebenher noch ein bisschen Canceln via Facebook darin vorkommt.
Wie ist das, wenn ein Kind langsam erwachsen wird und seinen Eltern nicht mehr alles glaubt? Juniper hat am Küchentisch gelernt, sie solle alles hinterfragen – damit, dass sie sich nun über Nutzen und Risiken von Impfungen informiert und zu dem Schluss kommt, sich zur Not gegen ihre Eltern zu stellen, haben die nicht gerechnet. Was sie da abwägt, hat auch viel mit Gemeinschaft zu tun – sie fühlt sich für den Tod des Säuglings verantwortlich. Aber Reichardt erzählt auch, wie die Gemeinschaft reagiert: Die ist nicht einfach bloß vorsichtig im Umgang mit Junipers Familie, es beginnt eine richtige Hetzjagd. Juniper hält das nur durch, weil sie einen Freund gefunden hat, Nico, der ihr hilft, eine Anwältin zu finden. Damit nehmen Junipers Nöte eine neue Dimension an: Jetzt hat sie Angst, ihre irrenden Eltern zu verletzen. Geht dann aber nicht anders. Immer noch lieber ein ruiniertes Weihnachtsfest als ein ruiniertes Leben. Masern sind keine Gesichtspunkte. Wie fühlt sich ein Kind von Impfgegnern, wenn es erwachsen wird? Der Jugendroman „Immunity“ – gibt darauf eine deutliche Antwort.
Marisa Reichardt:
Immunity.
Aus dem Englischen
von Rita Gravert.
Moon Notes 2021.
352 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Susan Vahabzadeh liest interessiert Marisa Reichardts Jugendbuch "Immunity", in dem sie sich dem Thema Impfung und Impfgegnerschaft widmet. Die 16-jährige Juniper, deren Eltern nette, wohlmeinende Menschen und Impfgegner sind, erkrankt eines Tages an Masern und beginnt, die Ansichten ihrer Eltern zu hinterfragen - insbesondere deshalb, weil sie sich für den Tod eines Säuglings verantwortlich fühlt, den sie auf einem Markt angesteckt hat, erklärt Vahabzadeh. Das Thema ist der Rezensentin zufolge hochaktuell, nicht nur, weil es hier um Viren geht, sondern auch, weil das Thema "Canceln" im Internet ebenfalls angeschnitten wird. Das Jugendbuch gibt eine deutliche Antwort auf die Frage, wie sich Kinder von Impfgegner*innen fühlen, schließt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es ist sehr bewegend, die sympathische Juniper auf diesem Weg zu begleiten. Die Lebenswelt, in der sie sich gefangen sieht, ist vielschichtig und realitätsnah geschildert. Mal nur merkwürdig, mal richtig beklemmend. Zum Glück hat Autorin Reichardt Erbarmen mit ihrer Hauptfigur und lässt sie diesen mühsamen Weg nicht alleine gehen. Ein wunderbar einfühlsam geschriebenes Buch, das zur richtigen Zeit viele spannende Fragen aufwirft." WDR 5 Scala Bücher, 30.11.2021