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E. L. Doctorows letztes Buch "In Andrews Kopf" bildet den brillanten Abschluss eines großen Werks
Mit Jack Kerouacs Sal Paradise geht man auf die Straße Amerikas, mit Richard Brautigan zum Forellenfischen in Amerika, mit John Steinbeck und seinem Pudel Charlie auf die Suche nach diesem Land mit seiner komplexen und widersprüchlichen Ideengeschichte zwischen kollektiver Freiheit und vollkommenem Individualismus. "E pluribus unum" sind die Worte, die über dem Weißkopfseeadler auf dem Wappen der Vereinigten Staaten flattern: Aus vielen eines. Mit E. L. Doctorows Andrew besichtigt man einen vielfältigen amerikanischen Geist.
Der Protagonist von "In Andrews Kopf", dem letzten Roman des kürzlich verstorbenen Autors (F.A.Z. vom 23. Juli 2015), sehnt sich nach einem kollektiven Geist, einem "Gemeinschaftsgehirn", das paradoxerweise den zum Individuum Verdammten ermächtigt, aus dem Gefängnis seines Einzelhirns, seines Selbst, auszubrechen. Bei diesem Gedanken feuern seine Synapsen durchaus auf ganz amerikanische Weise. Und das auch, falls Andrew wahnsinnig ist.
"Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler." Die ersten Worte des Romans stammen von Andrew selbst, der zwischen der ersten und der dritten Erzählperson pendelt, wenn er von sich selbst erzählt. Der Adressat scheint ein Analytiker zu sein, es ist die Rede von "Redekur", Andrew nennt sein Gegenüber "Doc". Doch schon nach kurzer Zeit hat der Leser das Gefühl, hier weniger einem Gespräch zu lauschen als einem solipsistischen Dialog im Innern nur eines Geistes, dem Entfalten eines Zustands, der von der Geschichte Amerikas handelt und vom Erzählen literarischer Geschichten. Zugegeben, Andrew ist vielleicht Insasse einer Irrenanstalt, aber Andrew könnte auch ein geborener Erzähler sein, ein Geschichten spinnender und die Geschichte verdrehender Fabulant. So wie sein Autor.
Eine realistische Lesart dieses mit feinster Ökonomie erzählten Romans wäre die folgende: "Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war." Andrew möchte das Baby in die Obhut seiner Exfrau und "Marthas riesigem Mann" geben, aus Angst, es zu verletzen, denn: "Es ist wahr, dass ich aus Versehen mein Baby umgebracht habe, die kleine Tochter, die ich mit Martha hatte: Ich habe ihr im guten Glauben die Medizin gegeben, die ihr, wie ich dachte, unser Kinderarzt verschrieben hatte. Der Apotheker hatte uns die falsche Medizin geschickt." Andrew erzählt, wie anschließend die Ehe zerbrach und Martha deshalb "dauerhaft verkrüppelt" blieb. Er berichtet von seiner Flucht aus New Rochelle, "einem Vorort von New York", nach "einem ganz kleinen staatlichen College ganz weit im Westen", wo er Kognitionswissenschaften lehrt und sich verliebt in seine Studentin Briony, in ihre "schlichte, sauber gewaschene Schönheit", wie die beiden heiraten und Briony bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ums Leben kommt. In dieser Lesart ist der Therapeut ein Staatshelfer, der Andrew dazu bewegen soll, das Sorgerecht für seine Tochter Willa an Martha abzutreten: "Hier steht, Willa soll nichts von mir erfahren. Hier steht, ich muss mich für immer von ihr fernhalten, darf mich ihr nie als Vater zu erkennen geben."
Eine andere Lesart dieses dicht verschachtelten Textes wäre die folgende. Ort und Zeit der Handlung sind Andrews Kopf, eine Hirnbühne, wo Erinnertes und Erfundenes in neuen Rollen gemeinsam aufgeführt werden, entweder bewusst oder ohne das Wissen des Denkenden oder Schreibenden. Immer wieder ist Andrews Dialog mit seinem Analytiker gebrochen durch den Hinweis der Anführungszeichen, was nicht nur auf Andrews Gedankenarbeit aufmerksam macht, sondern auch auf die Textualität dieses Romans, als wäre Andrew der Verfasser seines Lebens. Andrews Kopf würde so zur zeitlosen und ortlosen Sphäre des Erzählens, der Literatur. Den Bericht als eine politisierte Fiktionalisierung von Andrews eigenem privatem Leiden zu lesen wird bekräftigt durch die ständigen Verweise auf Doctorows bisheriges OEuvre - die Familie des Erzählers aus "Ragtime" lebte beispielsweise ebenfalls in New Rochelle - und auf die amerikanische Literatur, auf Hemingway, Emerson und besonders Mark Twain. Ganz gleich aber, wie man liest, Doctorow beschert uns einen höchst unterhaltsamen, komischen, tieftraurigen und subtil weisen Roman, das folgerichtigste Buch im Werk eines Schriftstellers, der immer Geschichtenerzählen und Weltgeschichte sowie Einzelschicksal und Gesamtdestination zu verbinden wusste.
Ein Roman ist immer eine Gesellschaft, immer vielstimmig, auch wenn er nur von einem Individuum geschrieben wird, und er ist eine treffende Chiffre für den amerikanischen Geist, pendelnd zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Vielleicht deshalb die fortdauernde Suche nach dem großen amerikanischen Roman. Doctorow hat eine ganze Serie davon geschrieben. Die letzten Worte seines letzten Romans sprechen für den Geist und die Literatur, als ein poetisches wie poetologisches Vermächtnis, wenn Andrew immer tiefer in seinen Kopf und in die Literatur abtaucht und nachsinnt, wie Mark Twain seinen Kindern vorm Einschlafen Geschichten erzählte. Andrew, kinderlos und verzweifelt, sinnt nach über die Bedeutung von Geschichten und ihren Sieg über das Vergessen und die Vernichtung.
Und vielleicht sinniert in diesen letzten Worten auch der "Doc" E. L. Doctorow, der sich an alle literarischen Kinder, an alle Schreibenden und Lesenden nach ihm richten könnte. Andrew denkt ein letztes Mal an Mark Twains "erfundenes Geblödel, wenn seine Kinder ins Bett gehen. Wie er ihr Beschützer ist, und die Welt ist ein behaglicher und sicherer Ort, wenn sie einschlafen sollen. Wie sie sich, wenn sie erwachsen sind, an seine Geschichten erinnern und lachen vor lauter Liebe zu ihrem Vater. Wie das seine Erlösung ist."
JAN WILM
E. L. Doctorow: "In Andrews Kopf". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 S., geb., 18,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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