»Es gibt keine Fiktion oder Nicht-Fiktion - es gibt nur das Erzählen.« E.L. Doctorow In seinem neuen Roman nimmt uns E.L. Doctorow, einer der ganz Großen der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, mit auf eine Reise in das Bewusstsein eines Mannes, dessen Leben nicht immer geradlinig verlief und dem die Trennschärfe zwischen Fakten und Fiktion abhandengekommen zu sein scheint. Andrew erzählt die Geschichte seines Lebens, eines Lebens voller dramatischer Umstände und Tragödien. Er erzählt von seinen Töchtern; die erste starb durch seine Schuld, die zweite musste er weggeben. Er erzählt von seinen Ehefrauen; von der ersten ist er getrennt, die zweite starb, weil sie am 11. September 2001 joggen ging. Und er erzählt von seinem Traum als Kognitionswissenschaftler: einem Computer, in dem das Bewusstsein sämtlicher Menschen, die je gelebt haben, reproduziert und gespeichert wäre. Und während Andrew erzählt, müssen wir Leser uns fragen, was genau wir denn eigentlich wissen über Wahrheit und Erinnerung, Gehirn und Verstand, über uns und die anderen. Gibt es so etwas wie Schicksal, oder ist am Ende doch alles selbst verschuldet? Andrew jedenfalls ist sich sicher: »Heutzutage kann ich niemandem trauen, am wenigsten mir selbst.« Stilistisch meisterhaft, mit sprachlicher Finesse, aber auch mit viel Humor und psychologischem Gespür lotet E.L. Doctorow die Grenze zwischen Geschichte und Geschichten aus, spiegelt sie an historischen Ereignissen und zeigt uns, welch tiefgehende Wahrheit im Erzählen zu finden ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2016Amerika ist ein Geisteszustand
E. L. Doctorows letztes Buch "In Andrews Kopf" bildet den brillanten Abschluss eines großen Werks
Mit Jack Kerouacs Sal Paradise geht man auf die Straße Amerikas, mit Richard Brautigan zum Forellenfischen in Amerika, mit John Steinbeck und seinem Pudel Charlie auf die Suche nach diesem Land mit seiner komplexen und widersprüchlichen Ideengeschichte zwischen kollektiver Freiheit und vollkommenem Individualismus. "E pluribus unum" sind die Worte, die über dem Weißkopfseeadler auf dem Wappen der Vereinigten Staaten flattern: Aus vielen eines. Mit E. L. Doctorows Andrew besichtigt man einen vielfältigen amerikanischen Geist.
Der Protagonist von "In Andrews Kopf", dem letzten Roman des kürzlich verstorbenen Autors (F.A.Z. vom 23. Juli 2015), sehnt sich nach einem kollektiven Geist, einem "Gemeinschaftsgehirn", das paradoxerweise den zum Individuum Verdammten ermächtigt, aus dem Gefängnis seines Einzelhirns, seines Selbst, auszubrechen. Bei diesem Gedanken feuern seine Synapsen durchaus auf ganz amerikanische Weise. Und das auch, falls Andrew wahnsinnig ist.
"Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler." Die ersten Worte des Romans stammen von Andrew selbst, der zwischen der ersten und der dritten Erzählperson pendelt, wenn er von sich selbst erzählt. Der Adressat scheint ein Analytiker zu sein, es ist die Rede von "Redekur", Andrew nennt sein Gegenüber "Doc". Doch schon nach kurzer Zeit hat der Leser das Gefühl, hier weniger einem Gespräch zu lauschen als einem solipsistischen Dialog im Innern nur eines Geistes, dem Entfalten eines Zustands, der von der Geschichte Amerikas handelt und vom Erzählen literarischer Geschichten. Zugegeben, Andrew ist vielleicht Insasse einer Irrenanstalt, aber Andrew könnte auch ein geborener Erzähler sein, ein Geschichten spinnender und die Geschichte verdrehender Fabulant. So wie sein Autor.
Eine realistische Lesart dieses mit feinster Ökonomie erzählten Romans wäre die folgende: "Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war." Andrew möchte das Baby in die Obhut seiner Exfrau und "Marthas riesigem Mann" geben, aus Angst, es zu verletzen, denn: "Es ist wahr, dass ich aus Versehen mein Baby umgebracht habe, die kleine Tochter, die ich mit Martha hatte: Ich habe ihr im guten Glauben die Medizin gegeben, die ihr, wie ich dachte, unser Kinderarzt verschrieben hatte. Der Apotheker hatte uns die falsche Medizin geschickt." Andrew erzählt, wie anschließend die Ehe zerbrach und Martha deshalb "dauerhaft verkrüppelt" blieb. Er berichtet von seiner Flucht aus New Rochelle, "einem Vorort von New York", nach "einem ganz kleinen staatlichen College ganz weit im Westen", wo er Kognitionswissenschaften lehrt und sich verliebt in seine Studentin Briony, in ihre "schlichte, sauber gewaschene Schönheit", wie die beiden heiraten und Briony bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ums Leben kommt. In dieser Lesart ist der Therapeut ein Staatshelfer, der Andrew dazu bewegen soll, das Sorgerecht für seine Tochter Willa an Martha abzutreten: "Hier steht, Willa soll nichts von mir erfahren. Hier steht, ich muss mich für immer von ihr fernhalten, darf mich ihr nie als Vater zu erkennen geben."
Eine andere Lesart dieses dicht verschachtelten Textes wäre die folgende. Ort und Zeit der Handlung sind Andrews Kopf, eine Hirnbühne, wo Erinnertes und Erfundenes in neuen Rollen gemeinsam aufgeführt werden, entweder bewusst oder ohne das Wissen des Denkenden oder Schreibenden. Immer wieder ist Andrews Dialog mit seinem Analytiker gebrochen durch den Hinweis der Anführungszeichen, was nicht nur auf Andrews Gedankenarbeit aufmerksam macht, sondern auch auf die Textualität dieses Romans, als wäre Andrew der Verfasser seines Lebens. Andrews Kopf würde so zur zeitlosen und ortlosen Sphäre des Erzählens, der Literatur. Den Bericht als eine politisierte Fiktionalisierung von Andrews eigenem privatem Leiden zu lesen wird bekräftigt durch die ständigen Verweise auf Doctorows bisheriges OEuvre - die Familie des Erzählers aus "Ragtime" lebte beispielsweise ebenfalls in New Rochelle - und auf die amerikanische Literatur, auf Hemingway, Emerson und besonders Mark Twain. Ganz gleich aber, wie man liest, Doctorow beschert uns einen höchst unterhaltsamen, komischen, tieftraurigen und subtil weisen Roman, das folgerichtigste Buch im Werk eines Schriftstellers, der immer Geschichtenerzählen und Weltgeschichte sowie Einzelschicksal und Gesamtdestination zu verbinden wusste.
Ein Roman ist immer eine Gesellschaft, immer vielstimmig, auch wenn er nur von einem Individuum geschrieben wird, und er ist eine treffende Chiffre für den amerikanischen Geist, pendelnd zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Vielleicht deshalb die fortdauernde Suche nach dem großen amerikanischen Roman. Doctorow hat eine ganze Serie davon geschrieben. Die letzten Worte seines letzten Romans sprechen für den Geist und die Literatur, als ein poetisches wie poetologisches Vermächtnis, wenn Andrew immer tiefer in seinen Kopf und in die Literatur abtaucht und nachsinnt, wie Mark Twain seinen Kindern vorm Einschlafen Geschichten erzählte. Andrew, kinderlos und verzweifelt, sinnt nach über die Bedeutung von Geschichten und ihren Sieg über das Vergessen und die Vernichtung.
Und vielleicht sinniert in diesen letzten Worten auch der "Doc" E. L. Doctorow, der sich an alle literarischen Kinder, an alle Schreibenden und Lesenden nach ihm richten könnte. Andrew denkt ein letztes Mal an Mark Twains "erfundenes Geblödel, wenn seine Kinder ins Bett gehen. Wie er ihr Beschützer ist, und die Welt ist ein behaglicher und sicherer Ort, wenn sie einschlafen sollen. Wie sie sich, wenn sie erwachsen sind, an seine Geschichten erinnern und lachen vor lauter Liebe zu ihrem Vater. Wie das seine Erlösung ist."
JAN WILM
E. L. Doctorow: "In Andrews Kopf". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
E. L. Doctorows letztes Buch "In Andrews Kopf" bildet den brillanten Abschluss eines großen Werks
Mit Jack Kerouacs Sal Paradise geht man auf die Straße Amerikas, mit Richard Brautigan zum Forellenfischen in Amerika, mit John Steinbeck und seinem Pudel Charlie auf die Suche nach diesem Land mit seiner komplexen und widersprüchlichen Ideengeschichte zwischen kollektiver Freiheit und vollkommenem Individualismus. "E pluribus unum" sind die Worte, die über dem Weißkopfseeadler auf dem Wappen der Vereinigten Staaten flattern: Aus vielen eines. Mit E. L. Doctorows Andrew besichtigt man einen vielfältigen amerikanischen Geist.
Der Protagonist von "In Andrews Kopf", dem letzten Roman des kürzlich verstorbenen Autors (F.A.Z. vom 23. Juli 2015), sehnt sich nach einem kollektiven Geist, einem "Gemeinschaftsgehirn", das paradoxerweise den zum Individuum Verdammten ermächtigt, aus dem Gefängnis seines Einzelhirns, seines Selbst, auszubrechen. Bei diesem Gedanken feuern seine Synapsen durchaus auf ganz amerikanische Weise. Und das auch, falls Andrew wahnsinnig ist.
"Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler." Die ersten Worte des Romans stammen von Andrew selbst, der zwischen der ersten und der dritten Erzählperson pendelt, wenn er von sich selbst erzählt. Der Adressat scheint ein Analytiker zu sein, es ist die Rede von "Redekur", Andrew nennt sein Gegenüber "Doc". Doch schon nach kurzer Zeit hat der Leser das Gefühl, hier weniger einem Gespräch zu lauschen als einem solipsistischen Dialog im Innern nur eines Geistes, dem Entfalten eines Zustands, der von der Geschichte Amerikas handelt und vom Erzählen literarischer Geschichten. Zugegeben, Andrew ist vielleicht Insasse einer Irrenanstalt, aber Andrew könnte auch ein geborener Erzähler sein, ein Geschichten spinnender und die Geschichte verdrehender Fabulant. So wie sein Autor.
Eine realistische Lesart dieses mit feinster Ökonomie erzählten Romans wäre die folgende: "Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war." Andrew möchte das Baby in die Obhut seiner Exfrau und "Marthas riesigem Mann" geben, aus Angst, es zu verletzen, denn: "Es ist wahr, dass ich aus Versehen mein Baby umgebracht habe, die kleine Tochter, die ich mit Martha hatte: Ich habe ihr im guten Glauben die Medizin gegeben, die ihr, wie ich dachte, unser Kinderarzt verschrieben hatte. Der Apotheker hatte uns die falsche Medizin geschickt." Andrew erzählt, wie anschließend die Ehe zerbrach und Martha deshalb "dauerhaft verkrüppelt" blieb. Er berichtet von seiner Flucht aus New Rochelle, "einem Vorort von New York", nach "einem ganz kleinen staatlichen College ganz weit im Westen", wo er Kognitionswissenschaften lehrt und sich verliebt in seine Studentin Briony, in ihre "schlichte, sauber gewaschene Schönheit", wie die beiden heiraten und Briony bei den Anschlägen vom 11. September 2001 ums Leben kommt. In dieser Lesart ist der Therapeut ein Staatshelfer, der Andrew dazu bewegen soll, das Sorgerecht für seine Tochter Willa an Martha abzutreten: "Hier steht, Willa soll nichts von mir erfahren. Hier steht, ich muss mich für immer von ihr fernhalten, darf mich ihr nie als Vater zu erkennen geben."
Eine andere Lesart dieses dicht verschachtelten Textes wäre die folgende. Ort und Zeit der Handlung sind Andrews Kopf, eine Hirnbühne, wo Erinnertes und Erfundenes in neuen Rollen gemeinsam aufgeführt werden, entweder bewusst oder ohne das Wissen des Denkenden oder Schreibenden. Immer wieder ist Andrews Dialog mit seinem Analytiker gebrochen durch den Hinweis der Anführungszeichen, was nicht nur auf Andrews Gedankenarbeit aufmerksam macht, sondern auch auf die Textualität dieses Romans, als wäre Andrew der Verfasser seines Lebens. Andrews Kopf würde so zur zeitlosen und ortlosen Sphäre des Erzählens, der Literatur. Den Bericht als eine politisierte Fiktionalisierung von Andrews eigenem privatem Leiden zu lesen wird bekräftigt durch die ständigen Verweise auf Doctorows bisheriges OEuvre - die Familie des Erzählers aus "Ragtime" lebte beispielsweise ebenfalls in New Rochelle - und auf die amerikanische Literatur, auf Hemingway, Emerson und besonders Mark Twain. Ganz gleich aber, wie man liest, Doctorow beschert uns einen höchst unterhaltsamen, komischen, tieftraurigen und subtil weisen Roman, das folgerichtigste Buch im Werk eines Schriftstellers, der immer Geschichtenerzählen und Weltgeschichte sowie Einzelschicksal und Gesamtdestination zu verbinden wusste.
Ein Roman ist immer eine Gesellschaft, immer vielstimmig, auch wenn er nur von einem Individuum geschrieben wird, und er ist eine treffende Chiffre für den amerikanischen Geist, pendelnd zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Vielleicht deshalb die fortdauernde Suche nach dem großen amerikanischen Roman. Doctorow hat eine ganze Serie davon geschrieben. Die letzten Worte seines letzten Romans sprechen für den Geist und die Literatur, als ein poetisches wie poetologisches Vermächtnis, wenn Andrew immer tiefer in seinen Kopf und in die Literatur abtaucht und nachsinnt, wie Mark Twain seinen Kindern vorm Einschlafen Geschichten erzählte. Andrew, kinderlos und verzweifelt, sinnt nach über die Bedeutung von Geschichten und ihren Sieg über das Vergessen und die Vernichtung.
Und vielleicht sinniert in diesen letzten Worten auch der "Doc" E. L. Doctorow, der sich an alle literarischen Kinder, an alle Schreibenden und Lesenden nach ihm richten könnte. Andrew denkt ein letztes Mal an Mark Twains "erfundenes Geblödel, wenn seine Kinder ins Bett gehen. Wie er ihr Beschützer ist, und die Welt ist ein behaglicher und sicherer Ort, wenn sie einschlafen sollen. Wie sie sich, wenn sie erwachsen sind, an seine Geschichten erinnern und lachen vor lauter Liebe zu ihrem Vater. Wie das seine Erlösung ist."
JAN WILM
E. L. Doctorow: "In Andrews Kopf". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 S., geb., 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2015Das Ende des Erzählens
In seinem letzten Roman, der satirischen Spiegelfechterei „In Andrews Kopf“,
zeigt sich der große amerikanische Erzähler E. L. Doctorow als Moralist und Täuscher zugleich
VON FRITZ GÖTTLER
Ein Täuscher, sagt Marthas riesiger Ehemann über Andrew, und er sagt es ihm auf den Kopf zu: „Ach, hier kommt der Täuscher.“ The pretender – die bessere Übersetzung wäre der Vortäuscher. Martha ist Andrews Ex-Frau, eines Tages ist er zu den beiden gefahren, nach New Rochelle, in den Vorort von New York, und hat Martha das Kind in den Arm gedrückt, das er mit seiner zweiten Frau Briony hatte. Briony ist vor Kurzem gestorben, im September 2001: „Ich schaff das nicht allein“, sagt er. Martha war verdutzt, aber bereitwillig, ihr namenloser Mann, der immer nur der riesige Ehemann genannt wird, wollte nichts davon wissen.
Andrew ist ein Kog-Wi, ein Kognitionswissenschaftler. Kein besonders bedeutender, er lehrte an diversen Colleges und Schulen der USA. Bis ihn am Ende sein ehemaliger Studienzimmergenosse an der Uni Yale zu sich holt und mit einem Topjob versorgt.
Es ist höchst gefährliches Terrain, auf das E. L. Doctorow sich in seinem zwölften und letzten Roman begibt. Das Buch ist Anfang 2014 in Amerika erschienen und kommt auf Deutsch in der kommenden Woche heraus. Am 12. Juli dieses Jahres starb Doctorow im Alter von 84 Jahren. Es geht hier um das Gehirn – „Andrew’s Brain“ heißt es im Original –, das als zentrale Instanz der Moderne die Seele abgelöst hat – ohne dass die Kog-Wis und Neurobiologen schon sagen könnten, was genau das Gehirn ist, wie es beschaffen ist und wie es funktioniert. „In Andrews Kopf“ ist ein Buch, das von den Gefahren der Selbstreflexion handelt: „Ich habe auch einen Blechspiegel über dem Spülbecken“, sagt Andrew, „und in den schaue ich hinein, damit außer mir noch jemand da ist. Das habe ich angefangen, weil Wittgenstein das auch gemacht hat. Er, der die Täuschungen des denkenden Hirns so gut verstand. Aber es ist gefährlich, sich selbst anzustarren. Man geht durch endlose Spiegel der Selbstentfremdung. Das ist auch so eine Tücke des Gehirns, dass man sich selbst nicht kennen darf.“
Gefährlich ist auch das Erzählen. Andrew erzählt von seinem Leben. Er steckt offenbar in einem Verhör, aber es ist nicht ganz eindeutig, ob in einem Gefängnis, einer Klinik, bei der CIA. Andrew erzählt von sich in größter Distanz. „Ich weiß nicht, warum Andrew das dachte“, sagt er zum Beispiel mal, und leichtfertig wechselt er immer wieder von der ersten in die dritte Person und zurück. „Das Buch“, sagte Doctorow in einem Interview, „macht nicht unbedingt einen Unterschied zwischen dem, was real und dem, was nicht real ist.“ Vielleicht also nimmt Andrew sich auch selbst ins Verhör, dann wäre sein Gegenüber imaginär, das er gern anspricht und das hin und wieder Erklärungen gibt, beruhigt, nachfragt. Andrew nennt dieses Gegenüber Doc.
„Du hast immer nur Scheiße gebaut“, sagt Marthas riesiger Ehemann. Er bezieht sich dabei auf Andrews Talent, eine Spur des Verderbens hinter sich herzuziehen – Zerstörung des Materiellen und des Lebendigen. Die Kreide bricht ihm ab, als er seinen Namen auf die Tafel schreibt, zu Beginn eines Kurses, und auf einer Party wirft er Gläser um. Als Kind ist er, auf dem Rodel die Einfahrt vor dem Elternhaus runtergondelnd, vor einen Wagen geschlittert, der an einen Laternenpfosten krachte, und in New York hat den kleinen Hund, den der Junge von den Eltern geschenkt bekam, ein Bussard geschnappt und in den Lüften zerfleischt. Andrew, der auf den Kopf gestellte Hiob. Viel Schlimmes trifft die Menschen um ihn her, lässt auch ihn verzweifeln. Bitteres Leid. Auch Briony, einst Schülerin bei ihm, dann seine Frau, unternehmungslustig und sportlich aktiv, stirbt eines gewaltsamen Todes, am selben Tag wie ihr einstiger College-Freund und am selben Ort, dem World Trade Center.
Der Roman ist ein cooles Spekulationsobjekt, wie man es aus den Sechzigern kennt, aus den Romanen und Stücken von Max Frisch vor allem, und wie es heute, da der Begriff der Identität obsolet geworden ist und die Menschen langsam abgelöst werden von künstlichen Intelligenzen, GPS-Systemen und Maschinen, eigentlich nicht mehr zu erwarten war. Die neue Verantwortungslosigkeit aber macht die Leichtigkeit, die Eleganz des Romans aus – „In Andrews Kopf“ ist ein heiteres Buch, das die Kritiker in den USA ein wenig ratlos machte. Weil so offenkundig auch der Autor sich als pretender präsentiert.
Zugleich ist Doctorows Vermächtnis ein politisches Buch. Über die Geschichte von Andrews brain wirft die des overbrainihren Schatten – so nennt Doctorow das Internet. Mit ihm endet die Menschheit, wie wir sie kennen. Die letzte Phase dieser Endzeit wird zur Farce im letzten Teil von Andrews Erzählung, der im Weißen Haus spielt. Der Präsident – er ist der Zimmergenosse aus Yale – macht Andrew zu seinem neurologischen Berater. Aus Andrew wird „Android“, er sitzt im Büro des Präsidenten, sagt nichts, liest eine Zeitschrift, als wäre er beim Zahnarzt, keinem wird seine Anwesenheit erläutert. Die zwei Chefberater sind extrem irritiert, die Weltstrategen Chaingang und Rumbum (alias Cheney und Rumsfeld). „Der Witz war meine Anonymität. Ich war so etwas wie sein Schattenbild. Als wäre ich immer noch sein Zimmergenosse.“ Dann kommen die Zeitungen darauf. „MYSTERY MAN IM WEISSEN HAUS: Dann sind wir schon zu zweit, sagte der Präsident.“ Doctorow mag George W. Bush nicht, keine Frage, er ist der große politische Täuscher in diesem Roman. In seiner Präsidentschaft beginnt die Transformation der amerikanischen Gesellschaft, die Entwicklung der künstlichen Intelligenzen, der falschen Gefühle, der imaginären Kriege.
In einem komischen Finale macht Andrew das Weiße Haus zum Zirkus und sich selber zum heiligen Narren, zum feurigen Propheten. „Schwört der Claustrumphobie ab! Denkt an den Thalamus! Eine Seele habt ihr so oder so nicht . . . Wir müssen uns vor unseren Gehirnen in Acht nehmen. Sie treffen unsere Entscheidungen, bevor wir sie treffen. Sie führen uns an stille Wasser. Sie verleugnen den freien Willen.“ Die Moral dieser Figur und ihrer Geschichte ist durchaus nicht so banal wie es klingt – als Moralist sieht sich Doctorow in der Tradition von Montaigne und Mark Twain. Ihre Moral ist beweglich und ironisch, selbstironisch, dem Menschen gegenüber offener als der Gesellschaft. Die Overbrain-Zukunft jedenfalls, erklärt Andrew, bedeutet „das Ende der mythischen Menschenwelt, wie wir sie seit der Bronzezeit kennen. Das Ende unserer Herrschaft. Das Ende der Bibel und aller Geschichten, die wir uns bis jetzt erzählt haben.“
Das Ende der Welt ist auch das Ende des Erzählens, für den Erzähler E.L. Doctorow ein Desaster, vergleichbar einem großen Asteroiden, der mit der Erde kollidiert. „Andrew’s Brain“ sieht er auch gar nicht mehr als Roman. Man könnte das Buch eher als Installation betrachten.
E. L. Doctorow: In Andrews Kopf. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 16,99 Euro. Erscheint am 17. August.
Wer ein Buch schreibt,
will nicht zu genau wissen,
was er da eigentlich tut.
Erst schreibt man
das Buch, dann findet
sich schon eine
Rechtfertigung dafür.“
E.L. Doctorow (1931-2015)
Für Doctorow ist das politische Washington eine Arena der Täuschungen: Unser Bild zeigt eine mit Legosteinen nachgebaute Präsidentenvereidigung.
Foto: action press
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem letzten Roman, der satirischen Spiegelfechterei „In Andrews Kopf“,
zeigt sich der große amerikanische Erzähler E. L. Doctorow als Moralist und Täuscher zugleich
VON FRITZ GÖTTLER
Ein Täuscher, sagt Marthas riesiger Ehemann über Andrew, und er sagt es ihm auf den Kopf zu: „Ach, hier kommt der Täuscher.“ The pretender – die bessere Übersetzung wäre der Vortäuscher. Martha ist Andrews Ex-Frau, eines Tages ist er zu den beiden gefahren, nach New Rochelle, in den Vorort von New York, und hat Martha das Kind in den Arm gedrückt, das er mit seiner zweiten Frau Briony hatte. Briony ist vor Kurzem gestorben, im September 2001: „Ich schaff das nicht allein“, sagt er. Martha war verdutzt, aber bereitwillig, ihr namenloser Mann, der immer nur der riesige Ehemann genannt wird, wollte nichts davon wissen.
Andrew ist ein Kog-Wi, ein Kognitionswissenschaftler. Kein besonders bedeutender, er lehrte an diversen Colleges und Schulen der USA. Bis ihn am Ende sein ehemaliger Studienzimmergenosse an der Uni Yale zu sich holt und mit einem Topjob versorgt.
Es ist höchst gefährliches Terrain, auf das E. L. Doctorow sich in seinem zwölften und letzten Roman begibt. Das Buch ist Anfang 2014 in Amerika erschienen und kommt auf Deutsch in der kommenden Woche heraus. Am 12. Juli dieses Jahres starb Doctorow im Alter von 84 Jahren. Es geht hier um das Gehirn – „Andrew’s Brain“ heißt es im Original –, das als zentrale Instanz der Moderne die Seele abgelöst hat – ohne dass die Kog-Wis und Neurobiologen schon sagen könnten, was genau das Gehirn ist, wie es beschaffen ist und wie es funktioniert. „In Andrews Kopf“ ist ein Buch, das von den Gefahren der Selbstreflexion handelt: „Ich habe auch einen Blechspiegel über dem Spülbecken“, sagt Andrew, „und in den schaue ich hinein, damit außer mir noch jemand da ist. Das habe ich angefangen, weil Wittgenstein das auch gemacht hat. Er, der die Täuschungen des denkenden Hirns so gut verstand. Aber es ist gefährlich, sich selbst anzustarren. Man geht durch endlose Spiegel der Selbstentfremdung. Das ist auch so eine Tücke des Gehirns, dass man sich selbst nicht kennen darf.“
Gefährlich ist auch das Erzählen. Andrew erzählt von seinem Leben. Er steckt offenbar in einem Verhör, aber es ist nicht ganz eindeutig, ob in einem Gefängnis, einer Klinik, bei der CIA. Andrew erzählt von sich in größter Distanz. „Ich weiß nicht, warum Andrew das dachte“, sagt er zum Beispiel mal, und leichtfertig wechselt er immer wieder von der ersten in die dritte Person und zurück. „Das Buch“, sagte Doctorow in einem Interview, „macht nicht unbedingt einen Unterschied zwischen dem, was real und dem, was nicht real ist.“ Vielleicht also nimmt Andrew sich auch selbst ins Verhör, dann wäre sein Gegenüber imaginär, das er gern anspricht und das hin und wieder Erklärungen gibt, beruhigt, nachfragt. Andrew nennt dieses Gegenüber Doc.
„Du hast immer nur Scheiße gebaut“, sagt Marthas riesiger Ehemann. Er bezieht sich dabei auf Andrews Talent, eine Spur des Verderbens hinter sich herzuziehen – Zerstörung des Materiellen und des Lebendigen. Die Kreide bricht ihm ab, als er seinen Namen auf die Tafel schreibt, zu Beginn eines Kurses, und auf einer Party wirft er Gläser um. Als Kind ist er, auf dem Rodel die Einfahrt vor dem Elternhaus runtergondelnd, vor einen Wagen geschlittert, der an einen Laternenpfosten krachte, und in New York hat den kleinen Hund, den der Junge von den Eltern geschenkt bekam, ein Bussard geschnappt und in den Lüften zerfleischt. Andrew, der auf den Kopf gestellte Hiob. Viel Schlimmes trifft die Menschen um ihn her, lässt auch ihn verzweifeln. Bitteres Leid. Auch Briony, einst Schülerin bei ihm, dann seine Frau, unternehmungslustig und sportlich aktiv, stirbt eines gewaltsamen Todes, am selben Tag wie ihr einstiger College-Freund und am selben Ort, dem World Trade Center.
Der Roman ist ein cooles Spekulationsobjekt, wie man es aus den Sechzigern kennt, aus den Romanen und Stücken von Max Frisch vor allem, und wie es heute, da der Begriff der Identität obsolet geworden ist und die Menschen langsam abgelöst werden von künstlichen Intelligenzen, GPS-Systemen und Maschinen, eigentlich nicht mehr zu erwarten war. Die neue Verantwortungslosigkeit aber macht die Leichtigkeit, die Eleganz des Romans aus – „In Andrews Kopf“ ist ein heiteres Buch, das die Kritiker in den USA ein wenig ratlos machte. Weil so offenkundig auch der Autor sich als pretender präsentiert.
Zugleich ist Doctorows Vermächtnis ein politisches Buch. Über die Geschichte von Andrews brain wirft die des overbrainihren Schatten – so nennt Doctorow das Internet. Mit ihm endet die Menschheit, wie wir sie kennen. Die letzte Phase dieser Endzeit wird zur Farce im letzten Teil von Andrews Erzählung, der im Weißen Haus spielt. Der Präsident – er ist der Zimmergenosse aus Yale – macht Andrew zu seinem neurologischen Berater. Aus Andrew wird „Android“, er sitzt im Büro des Präsidenten, sagt nichts, liest eine Zeitschrift, als wäre er beim Zahnarzt, keinem wird seine Anwesenheit erläutert. Die zwei Chefberater sind extrem irritiert, die Weltstrategen Chaingang und Rumbum (alias Cheney und Rumsfeld). „Der Witz war meine Anonymität. Ich war so etwas wie sein Schattenbild. Als wäre ich immer noch sein Zimmergenosse.“ Dann kommen die Zeitungen darauf. „MYSTERY MAN IM WEISSEN HAUS: Dann sind wir schon zu zweit, sagte der Präsident.“ Doctorow mag George W. Bush nicht, keine Frage, er ist der große politische Täuscher in diesem Roman. In seiner Präsidentschaft beginnt die Transformation der amerikanischen Gesellschaft, die Entwicklung der künstlichen Intelligenzen, der falschen Gefühle, der imaginären Kriege.
In einem komischen Finale macht Andrew das Weiße Haus zum Zirkus und sich selber zum heiligen Narren, zum feurigen Propheten. „Schwört der Claustrumphobie ab! Denkt an den Thalamus! Eine Seele habt ihr so oder so nicht . . . Wir müssen uns vor unseren Gehirnen in Acht nehmen. Sie treffen unsere Entscheidungen, bevor wir sie treffen. Sie führen uns an stille Wasser. Sie verleugnen den freien Willen.“ Die Moral dieser Figur und ihrer Geschichte ist durchaus nicht so banal wie es klingt – als Moralist sieht sich Doctorow in der Tradition von Montaigne und Mark Twain. Ihre Moral ist beweglich und ironisch, selbstironisch, dem Menschen gegenüber offener als der Gesellschaft. Die Overbrain-Zukunft jedenfalls, erklärt Andrew, bedeutet „das Ende der mythischen Menschenwelt, wie wir sie seit der Bronzezeit kennen. Das Ende unserer Herrschaft. Das Ende der Bibel und aller Geschichten, die wir uns bis jetzt erzählt haben.“
Das Ende der Welt ist auch das Ende des Erzählens, für den Erzähler E.L. Doctorow ein Desaster, vergleichbar einem großen Asteroiden, der mit der Erde kollidiert. „Andrew’s Brain“ sieht er auch gar nicht mehr als Roman. Man könnte das Buch eher als Installation betrachten.
E. L. Doctorow: In Andrews Kopf. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 16,99 Euro. Erscheint am 17. August.
Wer ein Buch schreibt,
will nicht zu genau wissen,
was er da eigentlich tut.
Erst schreibt man
das Buch, dann findet
sich schon eine
Rechtfertigung dafür.“
E.L. Doctorow (1931-2015)
Für Doctorow ist das politische Washington eine Arena der Täuschungen: Unser Bild zeigt eine mit Legosteinen nachgebaute Präsidentenvereidigung.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Suche nach dem großen amerikanischen Roman scheint Rezensent Jan Wilm mit E. L. Doctorows letztem Buch einen Schritt vorangekommen zu sein. Wie der Autor in seiner Geschichte Einzel- und Gesamtschicksal verquickt, findet er komisch und tieftraurig zugleich, in jedem Fall aber subtil weise und unterhaltsam. Gleich, welche Lesart die Leserin favorisiert, die realistische, in der es um 9/11, Therapie und Sorgerecht geht, oder die symbolische, in der Ort und Zeit der Handlung im Kopf des Protagonisten Platz haben, meint Wilm, es geht um die Literatur, ums Erzählen als Politikum.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine schönere Liebeserklärung an die Möglichkeiten der Literatur kann ich mir kaum vorstellen.« Frank Dietschreit rbbKultur 20150831