Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Der Anspruch an Politiker, alles transparent zu machen, mag sich selbstverständlich anfühlen. Er ist aber letztlich ein Phänomen des Zeitgeists.
In der frühen Bundesrepublik wollten Journalisten keinen Ärger machen. Sie waren nicht ständig auf der Jagd nach Enthüllungen, sie wollten nicht die Mächtigen anklagen. Den Älteren steckte das Dritte Reich und die Weimarer Republik in den Knochen. In der Weimarer Republik wurden Korruptionsvorwürfe von Kommunisten und Nazis benutzt, um demokratische Parteien und Politiker unmöglich zu machen und mit ihnen ihre Staatsform. Dann kam der Nationalsozialismus. Und als der vorbei war, empfanden ihn viele Deutsche - anders als heute - nicht zuerst als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern vor allem als korrupt. Wer in der frühen Bundesrepublik einen Korruptionsvorwurf erhob, unterstellte also etwas, das die Nazis erst den Demokraten nachgesagt hatten, um es dann selbst zu praktizieren. Über Korruption zu sprechen stand somit unter einem Verdacht. Es klang für die Älteren, als wollte jemand die junge Bundesrepublik ins Wanken zu bringen. Für sie wirkte ein Koffer Schwarzgeld dagegen wie eine Petitesse.
Journalisten waren aber nicht die Einzigen, denen es so ging, die ganze Gesellschaft war weniger auf Transparenz aus, als sie es heute ist. Der Historiker Martin Mainka hat ein Buch geschrieben, das beschreibt, warum die Deutschen sich so verändert haben. Es beginnt mit einem Satz von Franz Josef Strauß, den dieser Anfang der Achtzigerjahre vor dem Flick-Untersuchungsausschuss sagte, nachdem er von einem Grünen-Politiker namens Otto Schily mit der Frage in die Mangel genommen worden war, wie die CSU sich finanziere: "Aber das geht doch niemanden etwas an."
Das war das alte Denken. Doch genau um die Zeit herum, in der Strauß seinen Satz sagte, fing das Denken an, in sein Gegenteil zu kippen. Als Titel für sein Buch hat sich Mainka einen Satz aus einem "Spiegel"-Artikel von 1984 ausgesucht: "In Bonn ist Transparenz angesagt." Das war damals keine Feststellung von etwas Selbstverständlichem, sondern die Beobachtung, dass sich gerade etwas änderte. Es gab ein neues Denken, das aufräumen wollte mit allem Geschacher und Geklüngel. Und schon in den Neunzigerjahren hatten die Bürger wie selbstverständlich den Anspruch an ihre Politiker, dass diese Auskunft geben sollen und Rechenschaft ablegen müssen über alle Nebenabsprachen und Geldzahlungen.
Den Wandel vom einen zum anderen könnte man als notwendige Entwicklung verstehen, als folgerichtigen Reifeprozess der jungen Republik. Für Mainka hatte das Transparenzideal aber äußere Ursachen, bei denen der Zufall eine Rolle spielte. Die Siebzigerjahre waren eine Krisenzeit, in der viele Deutsche das Gefühl beschlich, dass die Parteien nicht gut darin waren, Lösungen zu finden: Ölkrise, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, das Ende des Wirtschaftswunders. Zugleich entstanden in den Siebzigerjahren zwei politische Strömungen: der Neoliberalismus und die Umweltbewegung.
Trotz ihrer Unterschiede hatten diese Bewegungen gemeinsam, dass sie dem Staat misstrauten: die Neoliberalen, weil sie Effizienzverluste durch Bürokratie fürchteten, die Grünen, weil sie dem Staat unterstellten, die Natur zu zerstören und die Bürger zu überwachen. Neoliberale träumten von der ordnenden Hand des Marktes, die sich nur entfalten konnte, wenn alle Teilnehmer über vollständige Informationen verfügten. Grüne träumten von einem demokratischen Ideal, in dem vollumfänglich informierte Bürger weise, vorausschauende Entscheidungen treffen würden. Frühe Vorstandssitzungen der Grünen fanden öffentlich statt, selbst Streitigkeiten innerhalb der Parteiführung sollten also nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Später merkten sie, dass die Entscheidungen dadurch nicht weiser und vorausschauender wurden.
Mit dem Siegeszug beider Bewegungen, des Neoliberalismus auf der wirtschaftlichen Schiene und der Umweltbewegung auf der politischen, wurde also der Anspruch verankert, dass jeder Filz, jede Vetternwirtschaft und jede Undurchsichtigkeit aus dem System herausgebürstet werden sollten. Erst dadurch wurde die Flick-Affäre Anfang der Achtzigerjahre möglich. Der Unternehmer Friedrich Karl Flick hatte Politikern von Union, FDP und SPD viele Millionen Mark gespendet. Es stand der Verdacht im Raum, er habe das getan, um im Gegenzug Steuervergünstigungen zu erhalten. Es gab einen Untersuchungsausschuss, in dem ein immer größeres Netz aus Abhängigkeiten und Geldzahlungen sichtbar wurde. In dieser Flick-Affäre sieht Mainka den großen Wendepunkt hin zu einer Gesellschaft, die Transparenz verlangt und erzwingt.
In der Gegenwart wird Transparenz nicht mehr hinterfragt, sie ist unangefochtener Ausdruck des Zeitgeists, vielleicht hat sie mit der von Wikileaks begonnenen Kultur, wahllos Zehntausende geheime Dokumente im Original zu veröffentlichen, einen ersten Höhepunkt erreicht. Heute steht unter Verdacht, wer dagegenspricht, denn er könnte einer sein, der selbst im Hinterzimmer dealen möchte oder zu denen gehört, die das schon tun. Mainka spricht trotzdem dagegen, aus rein wissenschaftlicher Sicht. Er schreibt: "Der Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit der Transparenz zeigt sich aus Sicht der kritischen Transparenzforschung auch darin, dass paradoxerweise gerade das Bemühen um Transparenz neue und verstärkte Intransparenz erzeugt." Die Wahrheit versteckt sich heute nicht mehr in vertraulichen Ermittlungsakten oder Überweisungsträgern, sondern in einem unsortierten Schwall an frei zugänglichen Informationen. So können Klarheiten auch beseitigt werden.
Am wenigsten betrifft das die Sachkundigen. Sie verstehen die Materie. Alle Laien aber sind fortan nicht mehr abhängig von denen, die im Geheimen schlimme Dinge tun, sondern von denen, die ihnen den Informationswust erklären sollen. Diese Asymmetrie ist nicht gerade das, was Demokratieforscher sich für eine Gesellschaft wünschen. Mainka schreibt: "Die Bevölkerung müsse angesichts der Informationsflut kapitulieren und sei mehr und mehr auf Mittlerorganisationen angewiesen, die sich darauf spezialisieren, die durch Transparenzgesetze anfallenden Informationen auszuwerten, selbst aber nicht transparent sind."
Transparenz versöhnt die Bürger - anders als erhofft - gerade nicht mit dem Staat, im Gegenteil. Mainka schreibt: "Entgegen der allgemein und weit verbreiteten Auffassung, dass Transparenz Vertrauen schafft, muss dieser Zusammenhang aus wissenschaftlicher Perspektive mindestens als ambivalent charakterisiert werden." Transparenz zu fordern hat die gleiche Prämisse wie manche Verschwörungstheorie. Beide unterstellen, dass hinter den Kulissen die unglaublichsten Dinge passieren. Das unstillbare Verlangen nach immer mehr Informationen beruhigt dann nicht, sondern verstärkt nur die Überzeugung, dass Amtsträger eine im Kern korrupte, nur durch vollständige Kontrolle zu bändigende Klientel sind. Bei der Transparenz ist es also nicht so, dass mehr immer mehr hilft.
Mainkas Buch ist deshalb Aufklärung im besten Sinne. Wer die historische Entstehung des Transparenzideals seit der Flick-Affäre versteht, kann in der Gegenwart beurteilen, wo sie übertrieben wird - und kann verstehen, warum das Transparenzideal zwar aus einem Vertrauensverlust in die Parteien entsteht, aber selbst nicht dabei hilft, dieses Vertrauen wiederherzustellen.
Mittlerweile schwindet die Sehnsucht nach Transparenz sogar bei den Grünen. Ihre Gremien gelten schon seit einigen Jahren als besonders verschwiegen, die Offenheit ihrer Gründerjahre hat sich in das Gegenteil verkehrt. Und auch als Minister lernen Grüne auf einmal den Wert vertraulicher Arbeit schätzen. Vizekanzler Robert Habeck klagte vor einiger Zeit, böse Mächte hätten den Entwurf seines Heizungsgesetzes veröffentlicht. Eine der Gründungsgrünen hätte das wohl an Franz Josef Strauß erinnert. Habeck meinte wohl, das gehe niemanden etwas an. JUSTUS BENDER
Martin Mainka: "In Bonn ist Transparenz angesagt". Die Flick-Affäre und die Durchsetzung eines neuen Politikideals, 1975 -1987.
Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2023. 455 S., 39,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH