»In einer dunkelblauen Stunde« - Das neue Buch von Peter Stamm: Ein Roman über einen Schriftsteller und die Geheimnisse seines Lebens Seit Tagen wartet die Dokumentarfilmerin Andrea mit ihrem Team auf Richard Wechsler in seinem Heimatort in der Schweiz. Bei ersten Aufnahmen in Paris hatte der bekannte Schriftsteller wenig von sich preisgeben wollen und nun droht der ganze Film zu scheitern. In den kleinen Straßen und Gassen des Ortes sucht Andrea entgegen der Absprache nach Spuren von Wechslers Leben. Doch erst als sie wieder seine Bücher liest, entdeckt sie einen Hinweis auf eine Jugendliebe, die noch immer in dem kleinen Ort leben könnte. Eine Jugendliebe, die sein ganzes Leben beeinflusst hat und von der nie jemand wusste.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen erkennt in Peter Stamms neuem Roman das für den Autor typische Spiel mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Die Erzählerin Andrea ist Dokumentarfilmerin, für ihr neues Projekt gewinnt sie zunächst den Schweizer Erfolgsautor Richard Wechsler, der dann aber abspringt. Das Scheitern der Dokumentation ist für Andrea nun Anlass darüber zu fantasieren wie ihr Film hätte aussehen können. Dabei erinnern die Szenen, die Andrea sich ausmalt und für die sie dem Leser auch gleich die passende Musik dazu liefert, eher an Werbung als an Dokumentationen, meint der Kritiker. Spreckelsen gefällt, dass die Selbstsuche der Erzählerin nachvollzogen werden, die bis zum Ende durchgehaltene "Werbefilmästhetik" scheint ihn weniger zu begeistern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2023„Ich habe euch
ja erfunden“
Peter Stamm wird zu seiner eigenen Romanfigur
Sie sitzen sich gegenüber in einem kahlen Raum, der Autor und die Filmemacherin. Neben ihr der Kameramann. Der hat noch eine letzte Frage: „Peter, welche Aspekte hätte es nicht gegeben in deinem Roman, wenn wir nicht dabei gewesen wären?“ Peter Stamm, der Autor, überlegt kurz, und dabei legt sich dieses schelmische Lächeln auf seine Züge, das man von ihm kennt. „Ihr seid ja meine Figuren. Ich habe euch ja erfunden. Von daher seid ihr doch automatisch immer dabei.“ Befremdete Blicke. Stamm lacht in sich hinein. Schnitt und Ende des Films.
Wie findet man hinein in dieses Spiegelkabinett, das der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm um sich, seine Figuren und seinen neuen Roman herum aufgebaut hat? Die Regisseure Arne Kohlweyer und Peter Isenmann haben einen Film gedreht, einen vermeintlichen Dokumentarfilm mit dem Titel „Wechselspiel“, der am 19. Januar auf den Solothurner Filmtagen Premiere feiert. Der ursprüngliche Gedanke war, Peter Stamm bei der Entstehung eines neuen Romans zu begleiten. Doch der Autor war schneller als die Planungen für die Dreharbeiten: Als die begannen, muss der Roman schon so gut wie fertig gewesen sein. Also wurde die Dokumentation zu einer semifiktionalen Romanverfilmung.
„In einer dunkelblauen Stunde“, Stamms achter Roman, erscheint nun pünktlich zum 60. Geburtstag des Autors am 18. Januar 2023 und erzählt die Geschichte des Schriftstellers Richard Wechsler, der von einem Filmteam begleitet wird, während er an einem Roman arbeitet. In Paris, wo Wechsler lebt, wird er beim Spaziergang am Seineufer gefilmt. Man reist in sein Heimatdorf in der Schweiz, spricht mit Jugendfreunden. Doch so recht will dabei nichts herauskommen, denn Wechsler verweigert sich dem albernen Tanz um seine Person zusehends, sodass Andrea, die Filmemacherin und Ich-Erzählerin von „In einer dunkelblauen Stunde“, auf Mutmaßungen und ihre Fantasie angewiesen ist.
Im Roman scheitert der Film, doch die Handlung geht weiter, weil Andrea zu Wechslers Jugendliebe eine Beziehung aufbaut, die über das Professionelle hinausgeht. In einer Phase der Gegenwartsliteratur, in dem das autofiktionale Schreiben sich auf einem Höhepunkt (und damit möglicherweise auch am Beginn einer Krise) befindet, öffnet Peter Stamm sich und sein Werk so überraschend wie überzeugend für die existenziellen Fragen des Fiktionalen: Wer hat im Prozess des Erfindens Macht über wen? Ist die Erfindung zugleich eine Lüge und mithin ein moralisch verwerflicher Akt? Wie unverrückbar und starr sind Urteile über Menschen oder Charaktere, wenn sie sich erst einmal verfestigt haben? Oder, ganz simpel gefragt: Was weiß man tatsächlich über einen Künstler, wenn man glaubt, dessen Werk durchdrungen zu haben?
Peter Stamm zündelt mit einiger Freude am Gerüst des Genres, indem er seinem Alter Ego Wechsler provokative Sätze in den Mund legt: „Dieses ganze autobiographische, autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein? Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte. Nie lügt man so schamlos, als wenn man von sich selbst erzählt.“ Im Bewusstsein der Ich-Erzählerin Andrea verschwimmen die Realitätsebenen zu einem Raum potenzieller Geschichten: So könnte es gewesen sein. Oder auch nicht.
Die große Könnerschaft, die aus „In einer dunkelblauen Stunde“ spricht, besteht in der Ironie, der Bereitschaft zur Selbstentblößung und in der Leichtigkeit, mit der Peter Stamm erzählt. Schon in früheren Romanen hat er mit Spiegel- und Doppelgängermotiven gearbeitet; so virtuos wie in diesem aber noch nicht. Der Effekt ist frappierend: Je mehr Stamm seine Schriftstellerfigur mit Zweifeln und Unklarheiten umstellt, umso deutlicher erscheint er selbst als starker und souveräner Autor. In einem subtil ausgeklügelten Roman tritt der Schriftsteller als Stimme und als Person hinter den Text zurück. Nicht der Künstler, sondern sein Werk führt das Eigenleben.
Wie auch der „Wechselspiel“-Film, der von Stamms Mimik lebt, ist „In einer dunkelblauen Stunde“ streckenweise ausgesprochen lustig, aber so sorgfältig austariert, dass der Ernst dahinter niemals verloren geht. Möglicherweise ist Peter Stamms neuer Roman der bestmögliche Ausgangspunkt für das beginnende Alterswerk eines ob der Lakonie seiner Sätze oftmals unterschätzten Schriftstellers.
Stamm schlägt nun einen anderen Tonfall an; seine Sätze sind schwingender, luftiger, hypotaktischer. Dass Stamm seinen Gegenstand ernst nimmt, steht außer Frage: Man schreibe, so sagt es Wechsler, mit dem ganzen Körper, der sich dabei verbrauche. Die beiden Dokumentarfilmer in „Wechselspiel“ sind Schauspieler, die die Namen ihrer Figuren im Roman tragen, Andrea und Tom. Wechslers bekanntester Roman wiederum gleicht in seinem Inhalt dem von Stamms „An einem Tag wie diesem“. Der Vorsatz zu „In einer dunkelblauen Stunde“ stammt von Fernando Pessoa, ausgerechnet jenem Schriftsteller, der für sich eine Vielzahl von Schreibidentitäten erfand, inklusive jeweils unterschiedlicher Stillagen und exakt ausgearbeiteter Biografien: „I know not, what tomorrow will bring.“ Angeblich Pessoas letzter, am Abend vor seinem Tod zu Papier gebrachter Satz.
Er wisse nicht, wie er nach diesem Roman weiterschreiben könne, sagt Peter Stamm am Ende von „Wechselspiel“: Es gehe darum, in jedem Buch alles zu geben. Richard Wechsler bezeichnet Romane als Zumutungen, deren Bilder in die Köpfe kriechen; als Operationen am Gehirn. Im Fall von „In einer dunkelblauen Stunde“ haben wir es mit einem geglückten Eingriff zu tun.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Peter Stamm:
In einer dunkelblauen
Stunde.
Roman. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2023. 256 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ja erfunden“
Peter Stamm wird zu seiner eigenen Romanfigur
Sie sitzen sich gegenüber in einem kahlen Raum, der Autor und die Filmemacherin. Neben ihr der Kameramann. Der hat noch eine letzte Frage: „Peter, welche Aspekte hätte es nicht gegeben in deinem Roman, wenn wir nicht dabei gewesen wären?“ Peter Stamm, der Autor, überlegt kurz, und dabei legt sich dieses schelmische Lächeln auf seine Züge, das man von ihm kennt. „Ihr seid ja meine Figuren. Ich habe euch ja erfunden. Von daher seid ihr doch automatisch immer dabei.“ Befremdete Blicke. Stamm lacht in sich hinein. Schnitt und Ende des Films.
Wie findet man hinein in dieses Spiegelkabinett, das der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm um sich, seine Figuren und seinen neuen Roman herum aufgebaut hat? Die Regisseure Arne Kohlweyer und Peter Isenmann haben einen Film gedreht, einen vermeintlichen Dokumentarfilm mit dem Titel „Wechselspiel“, der am 19. Januar auf den Solothurner Filmtagen Premiere feiert. Der ursprüngliche Gedanke war, Peter Stamm bei der Entstehung eines neuen Romans zu begleiten. Doch der Autor war schneller als die Planungen für die Dreharbeiten: Als die begannen, muss der Roman schon so gut wie fertig gewesen sein. Also wurde die Dokumentation zu einer semifiktionalen Romanverfilmung.
„In einer dunkelblauen Stunde“, Stamms achter Roman, erscheint nun pünktlich zum 60. Geburtstag des Autors am 18. Januar 2023 und erzählt die Geschichte des Schriftstellers Richard Wechsler, der von einem Filmteam begleitet wird, während er an einem Roman arbeitet. In Paris, wo Wechsler lebt, wird er beim Spaziergang am Seineufer gefilmt. Man reist in sein Heimatdorf in der Schweiz, spricht mit Jugendfreunden. Doch so recht will dabei nichts herauskommen, denn Wechsler verweigert sich dem albernen Tanz um seine Person zusehends, sodass Andrea, die Filmemacherin und Ich-Erzählerin von „In einer dunkelblauen Stunde“, auf Mutmaßungen und ihre Fantasie angewiesen ist.
Im Roman scheitert der Film, doch die Handlung geht weiter, weil Andrea zu Wechslers Jugendliebe eine Beziehung aufbaut, die über das Professionelle hinausgeht. In einer Phase der Gegenwartsliteratur, in dem das autofiktionale Schreiben sich auf einem Höhepunkt (und damit möglicherweise auch am Beginn einer Krise) befindet, öffnet Peter Stamm sich und sein Werk so überraschend wie überzeugend für die existenziellen Fragen des Fiktionalen: Wer hat im Prozess des Erfindens Macht über wen? Ist die Erfindung zugleich eine Lüge und mithin ein moralisch verwerflicher Akt? Wie unverrückbar und starr sind Urteile über Menschen oder Charaktere, wenn sie sich erst einmal verfestigt haben? Oder, ganz simpel gefragt: Was weiß man tatsächlich über einen Künstler, wenn man glaubt, dessen Werk durchdrungen zu haben?
Peter Stamm zündelt mit einiger Freude am Gerüst des Genres, indem er seinem Alter Ego Wechsler provokative Sätze in den Mund legt: „Dieses ganze autobiographische, autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein? Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte. Nie lügt man so schamlos, als wenn man von sich selbst erzählt.“ Im Bewusstsein der Ich-Erzählerin Andrea verschwimmen die Realitätsebenen zu einem Raum potenzieller Geschichten: So könnte es gewesen sein. Oder auch nicht.
Die große Könnerschaft, die aus „In einer dunkelblauen Stunde“ spricht, besteht in der Ironie, der Bereitschaft zur Selbstentblößung und in der Leichtigkeit, mit der Peter Stamm erzählt. Schon in früheren Romanen hat er mit Spiegel- und Doppelgängermotiven gearbeitet; so virtuos wie in diesem aber noch nicht. Der Effekt ist frappierend: Je mehr Stamm seine Schriftstellerfigur mit Zweifeln und Unklarheiten umstellt, umso deutlicher erscheint er selbst als starker und souveräner Autor. In einem subtil ausgeklügelten Roman tritt der Schriftsteller als Stimme und als Person hinter den Text zurück. Nicht der Künstler, sondern sein Werk führt das Eigenleben.
Wie auch der „Wechselspiel“-Film, der von Stamms Mimik lebt, ist „In einer dunkelblauen Stunde“ streckenweise ausgesprochen lustig, aber so sorgfältig austariert, dass der Ernst dahinter niemals verloren geht. Möglicherweise ist Peter Stamms neuer Roman der bestmögliche Ausgangspunkt für das beginnende Alterswerk eines ob der Lakonie seiner Sätze oftmals unterschätzten Schriftstellers.
Stamm schlägt nun einen anderen Tonfall an; seine Sätze sind schwingender, luftiger, hypotaktischer. Dass Stamm seinen Gegenstand ernst nimmt, steht außer Frage: Man schreibe, so sagt es Wechsler, mit dem ganzen Körper, der sich dabei verbrauche. Die beiden Dokumentarfilmer in „Wechselspiel“ sind Schauspieler, die die Namen ihrer Figuren im Roman tragen, Andrea und Tom. Wechslers bekanntester Roman wiederum gleicht in seinem Inhalt dem von Stamms „An einem Tag wie diesem“. Der Vorsatz zu „In einer dunkelblauen Stunde“ stammt von Fernando Pessoa, ausgerechnet jenem Schriftsteller, der für sich eine Vielzahl von Schreibidentitäten erfand, inklusive jeweils unterschiedlicher Stillagen und exakt ausgearbeiteter Biografien: „I know not, what tomorrow will bring.“ Angeblich Pessoas letzter, am Abend vor seinem Tod zu Papier gebrachter Satz.
Er wisse nicht, wie er nach diesem Roman weiterschreiben könne, sagt Peter Stamm am Ende von „Wechselspiel“: Es gehe darum, in jedem Buch alles zu geben. Richard Wechsler bezeichnet Romane als Zumutungen, deren Bilder in die Köpfe kriechen; als Operationen am Gehirn. Im Fall von „In einer dunkelblauen Stunde“ haben wir es mit einem geglückten Eingriff zu tun.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Peter Stamm:
In einer dunkelblauen
Stunde.
Roman. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2023. 256 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2023Eine Romanfigur im Limbus
Die Wirklichkeit? Von vielen Möglichkeiten nur eine: Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" erzählt vom Scheitern eines Films.
Die Pfarrerin Judith verlässt ihren Mann. Sie teilt es ihm mit, als sie nach dem Mittagessen noch in der Küche sitzen und er Kaffee für sie beide macht. Erst versucht er noch, sie umzustimmen, danach, so rekapituliert es eine Freundin der Pfarrerin, "hat er es aufgegeben und ist in den Garten gegangen. Er recht das Laub auf der Wiese zusammen, irgendetwas muss er ja tun. Ein schönes Bild: der abgeerntete Garten im Nebel, das nasse Grün des Grases, das Braun und Gelb des Laubes, die Verwesung, dieser ratlose Mann mit dem langen Rechen. Klaviermusik, Satie oder so, etwas Ruhiges, Nachdenkliches. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."
Andrea, so heißt Judiths Freundin, erzählt diese Auflösung einer jahrzehntelangen Ehe ersichtlich als Film, die Musik liefert sie gleich mit, das über die Bilder gelegte Rilke-Zitat auch. Das ist kein Wunder, nicht nur weil sie als Dokumentarfilmerin arbeitet oder gearbeitet hat, sondern auch weil sie keine Augenzeugin jener Trennung war und sie darum in ihrer Vorstellung modelliert. Das Ergebnis sagt deshalb nichts über das Ehepaar und sehr viel über Andrea aus. Es ist ihre Phantasie, die jene kitschigen, gründlich verbrauchten Bilder, Töne und Worte hervorbringt, ein Konglomerat, das auf eine bestimmte Wirkung zielt, ohne dass sich Andrea dessen bewusst wäre. Stattdessen berichtet sie davon, wie sie die nun wohnsitzlose Judith bei sich aufnimmt - "ich habe Kerzen angezündet, jetzt fehlt nur noch sanfter Jazz, und die Szene wäre perfekt" -, und spätestens hier fragt man sich, ob Andrea mit ihren ästhetischen Vorstellungen beim Werbefernsehen nicht besser aufgehoben wäre als ausgerechnet auf dem Feld des Dokumentarfilms.
Immerhin gelingt es ihr, den Schweizer Erfolgsautor Richard Wechsler für ein solches Projekt zu interessieren - er soll der Protagonist einer Dokumentation sein, die Andrea zusammen mit ihrem Kameramann Tom an Wechslers jetzigem Wohnsitz Paris von ihm erstellen möchte. Der Autor steht dem sichtlich skeptisch gegenüber, macht aber mit und lässt sich filmen, wie er durch die Straßen läuft; einmal kauft er, weil derlei in solchen Filmen wohl dazugehört, für die Kamera einen Bildband bei einem Straßenhändler und legt ihn, als die Aufnahme beendet ist, wieder zurück in den Bücherwagen. Sein Geld lässt er sich von dem Händler wiedergeben.
Wie viel Erkenntnis über den Autor lässt sich auf diesem Weg gewinnen? Andrea, die behauptet, Wechslers Bücher "fast alle" gelesen zu haben, weiß nicht genau, wohin das führen soll. Mit Wechsler verabredet sie sich in dessen Heimatdorf in der Schweiz und reist ihm schon mal voraus, um Gesprächspartner und Schauplätze für weitere Aufnahmen zu finden. Wechsler aber lässt sich nicht blicken. Immerhin findet Andrea Wechslers Jugendliebe, eben Judith, bevor sie den Film endgültig als gescheitert ansieht. Von Wechsler hört sie erst wieder, als sie die Nachricht seines Todes erreicht.
So etwa könnte man die Handlung von Peter Stamms Roman "In einer dunkelblauen Stunde" zusammenfassen - und würde dabei das verfehlen, was das Buch eigentlich ausmacht. Denn dieser Strang ist nur einer von mehreren, derjenige, der als Gerüst für all die Vorstellungen und Seitenwege dienen kann, die teils im offenen Widerspruch zu ihm stehen.
Das ist im Werk Peter Stamms nichts Neues, das Spiel mit den Möglichkeiten einer Handlung betreibt der 1963 geborene Autor seit jeher mit Ausdauer und Virtuosität. Hier öffnet der nicht zustande gekommene Film den Raum für Andreas Phantasien darüber, was Wechsler wohl von sich preisgegeben hätte, wenn er in dem Dorf erschienen wäre. All das geht oft bruchlos, manchmal etwas deutlicher markiert ineinander über, und ist man erst gewohnt, bei diesen Berichten jederzeit die Möglichkeit einer phantastischen Abschweifung Andreas in Betracht zu ziehen, dann wird man diese Bereitschaft auch auf das ausdehnen, was der Romananfang enthält - einen festen Boden der Handlung gibt es nicht, alles schwankt, alles könnte so sein oder auch anders, je nach Andreas Verfassung.
Für diese Schwingung, in die die Welt gerät, findet der Roman ein schönes Bild. Andrea und Tom unterhalten sich über einen Dokumentarfilm "über Leute, die zum ersten Mal von einem Zehnmeterturm springen" oder sich im letzten Moment dagegen entscheiden. Andrea spinnt das weiter aus, sie stellt sich ein junges Paar vor, das in dieser Situation erst richtig zusammenfindet, und malt sich wiederum filmisch dessen weiteres gemeinsames Leben aus. Springen, sich auf das Fallen einlassen oder diesen Schritt eben nicht unternehmen - dieser folgenreichen Weichenstellung, die der Film offenbar eher andeutet als explizit macht, entspricht Andreas Zugang zu Wechsler und seiner Lebensgeschichte, zu Judith, zu ihrem Freund Tom, der plötzlich lieber Thomas genannt werden würde, zu sich selbst.
Dass wir Leser früh und nachhaltig darauf gestoßen werden, in den Berichten die Möglichkeitsform mitzudenken, ist Programm. Es geht um Andrea, wir sehen aus ihren Augen und misstrauen ihrem Blick, und für einen Roman könnte genau darin ein großer Reiz liegen. Auch dass Stamm uns eine Erzählerin entwirft, die bei aller Redefreude Hürden um die eigene Person aufbaut, die viel erzählt, manchmal in Floskeln wie "ich bin kein Kind von Traurigkeit", und manchmal überdeutliche Lücken lässt, tut dem Roman gut. Ihre Suche nach sich selbst wird deutlich abgebildet, und besonders ihre dezenten Versuche, das Spiel mit Schein und Sein, das Wechsler treibt, durch Eingriffe wieder zurechtzurücken, lassen Facetten von ihr deutlich werden, die sie selbst womöglich gar nicht überschaut - den Bildband, den der Autor vor laufender Kamera nur scheinbar kauft, wird Andrea anschließend selbst erwerben.
Andererseits macht Stamm überdeutlich, in welcher Vorstellungswelt seine Erzählerin gefangen ist: "Ist es von Anfang an nur um mich gegangen?", fragt sie, und schließt: "Ich bin Richards Vermächtnis, eine Figur, die er nicht zu Ende geschrieben hat und die jetzt umherirrt im Limbus der ungeborenen Romanfiguren und nicht weiß, wo sie hingehört." Die Figur Wechsler wechselt die Seiten, Andrea ist nun eine andere - beglückwünschen möchte man die Erzählerin zu dem schematischen Rollentausch nicht, den sie entwirft. Aus ihrer Werbefilmästhetik kommt sie bis zum Ende nicht mehr heraus. Und der Leser auch nicht. TILMAN SPRECKELSEN
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Wirklichkeit? Von vielen Möglichkeiten nur eine: Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" erzählt vom Scheitern eines Films.
Die Pfarrerin Judith verlässt ihren Mann. Sie teilt es ihm mit, als sie nach dem Mittagessen noch in der Küche sitzen und er Kaffee für sie beide macht. Erst versucht er noch, sie umzustimmen, danach, so rekapituliert es eine Freundin der Pfarrerin, "hat er es aufgegeben und ist in den Garten gegangen. Er recht das Laub auf der Wiese zusammen, irgendetwas muss er ja tun. Ein schönes Bild: der abgeerntete Garten im Nebel, das nasse Grün des Grases, das Braun und Gelb des Laubes, die Verwesung, dieser ratlose Mann mit dem langen Rechen. Klaviermusik, Satie oder so, etwas Ruhiges, Nachdenkliches. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."
Andrea, so heißt Judiths Freundin, erzählt diese Auflösung einer jahrzehntelangen Ehe ersichtlich als Film, die Musik liefert sie gleich mit, das über die Bilder gelegte Rilke-Zitat auch. Das ist kein Wunder, nicht nur weil sie als Dokumentarfilmerin arbeitet oder gearbeitet hat, sondern auch weil sie keine Augenzeugin jener Trennung war und sie darum in ihrer Vorstellung modelliert. Das Ergebnis sagt deshalb nichts über das Ehepaar und sehr viel über Andrea aus. Es ist ihre Phantasie, die jene kitschigen, gründlich verbrauchten Bilder, Töne und Worte hervorbringt, ein Konglomerat, das auf eine bestimmte Wirkung zielt, ohne dass sich Andrea dessen bewusst wäre. Stattdessen berichtet sie davon, wie sie die nun wohnsitzlose Judith bei sich aufnimmt - "ich habe Kerzen angezündet, jetzt fehlt nur noch sanfter Jazz, und die Szene wäre perfekt" -, und spätestens hier fragt man sich, ob Andrea mit ihren ästhetischen Vorstellungen beim Werbefernsehen nicht besser aufgehoben wäre als ausgerechnet auf dem Feld des Dokumentarfilms.
Immerhin gelingt es ihr, den Schweizer Erfolgsautor Richard Wechsler für ein solches Projekt zu interessieren - er soll der Protagonist einer Dokumentation sein, die Andrea zusammen mit ihrem Kameramann Tom an Wechslers jetzigem Wohnsitz Paris von ihm erstellen möchte. Der Autor steht dem sichtlich skeptisch gegenüber, macht aber mit und lässt sich filmen, wie er durch die Straßen läuft; einmal kauft er, weil derlei in solchen Filmen wohl dazugehört, für die Kamera einen Bildband bei einem Straßenhändler und legt ihn, als die Aufnahme beendet ist, wieder zurück in den Bücherwagen. Sein Geld lässt er sich von dem Händler wiedergeben.
Wie viel Erkenntnis über den Autor lässt sich auf diesem Weg gewinnen? Andrea, die behauptet, Wechslers Bücher "fast alle" gelesen zu haben, weiß nicht genau, wohin das führen soll. Mit Wechsler verabredet sie sich in dessen Heimatdorf in der Schweiz und reist ihm schon mal voraus, um Gesprächspartner und Schauplätze für weitere Aufnahmen zu finden. Wechsler aber lässt sich nicht blicken. Immerhin findet Andrea Wechslers Jugendliebe, eben Judith, bevor sie den Film endgültig als gescheitert ansieht. Von Wechsler hört sie erst wieder, als sie die Nachricht seines Todes erreicht.
So etwa könnte man die Handlung von Peter Stamms Roman "In einer dunkelblauen Stunde" zusammenfassen - und würde dabei das verfehlen, was das Buch eigentlich ausmacht. Denn dieser Strang ist nur einer von mehreren, derjenige, der als Gerüst für all die Vorstellungen und Seitenwege dienen kann, die teils im offenen Widerspruch zu ihm stehen.
Das ist im Werk Peter Stamms nichts Neues, das Spiel mit den Möglichkeiten einer Handlung betreibt der 1963 geborene Autor seit jeher mit Ausdauer und Virtuosität. Hier öffnet der nicht zustande gekommene Film den Raum für Andreas Phantasien darüber, was Wechsler wohl von sich preisgegeben hätte, wenn er in dem Dorf erschienen wäre. All das geht oft bruchlos, manchmal etwas deutlicher markiert ineinander über, und ist man erst gewohnt, bei diesen Berichten jederzeit die Möglichkeit einer phantastischen Abschweifung Andreas in Betracht zu ziehen, dann wird man diese Bereitschaft auch auf das ausdehnen, was der Romananfang enthält - einen festen Boden der Handlung gibt es nicht, alles schwankt, alles könnte so sein oder auch anders, je nach Andreas Verfassung.
Für diese Schwingung, in die die Welt gerät, findet der Roman ein schönes Bild. Andrea und Tom unterhalten sich über einen Dokumentarfilm "über Leute, die zum ersten Mal von einem Zehnmeterturm springen" oder sich im letzten Moment dagegen entscheiden. Andrea spinnt das weiter aus, sie stellt sich ein junges Paar vor, das in dieser Situation erst richtig zusammenfindet, und malt sich wiederum filmisch dessen weiteres gemeinsames Leben aus. Springen, sich auf das Fallen einlassen oder diesen Schritt eben nicht unternehmen - dieser folgenreichen Weichenstellung, die der Film offenbar eher andeutet als explizit macht, entspricht Andreas Zugang zu Wechsler und seiner Lebensgeschichte, zu Judith, zu ihrem Freund Tom, der plötzlich lieber Thomas genannt werden würde, zu sich selbst.
Dass wir Leser früh und nachhaltig darauf gestoßen werden, in den Berichten die Möglichkeitsform mitzudenken, ist Programm. Es geht um Andrea, wir sehen aus ihren Augen und misstrauen ihrem Blick, und für einen Roman könnte genau darin ein großer Reiz liegen. Auch dass Stamm uns eine Erzählerin entwirft, die bei aller Redefreude Hürden um die eigene Person aufbaut, die viel erzählt, manchmal in Floskeln wie "ich bin kein Kind von Traurigkeit", und manchmal überdeutliche Lücken lässt, tut dem Roman gut. Ihre Suche nach sich selbst wird deutlich abgebildet, und besonders ihre dezenten Versuche, das Spiel mit Schein und Sein, das Wechsler treibt, durch Eingriffe wieder zurechtzurücken, lassen Facetten von ihr deutlich werden, die sie selbst womöglich gar nicht überschaut - den Bildband, den der Autor vor laufender Kamera nur scheinbar kauft, wird Andrea anschließend selbst erwerben.
Andererseits macht Stamm überdeutlich, in welcher Vorstellungswelt seine Erzählerin gefangen ist: "Ist es von Anfang an nur um mich gegangen?", fragt sie, und schließt: "Ich bin Richards Vermächtnis, eine Figur, die er nicht zu Ende geschrieben hat und die jetzt umherirrt im Limbus der ungeborenen Romanfiguren und nicht weiß, wo sie hingehört." Die Figur Wechsler wechselt die Seiten, Andrea ist nun eine andere - beglückwünschen möchte man die Erzählerin zu dem schematischen Rollentausch nicht, den sie entwirft. Aus ihrer Werbefilmästhetik kommt sie bis zum Ende nicht mehr heraus. Und der Leser auch nicht. TILMAN SPRECKELSEN
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In einer dunkelblauen Stunde« ist zauberhaft schön und behandelt unpathetisch die wesentlichen existenziellen Fragen. Sylvia Treudl Buchkultur 20230210