Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Da hilft nur Wüten mit Gefühl: Heinrich Mann in einer Familie
"Mit zwanzig konnte ich gar nichts." Heinrich Mann war ehrlich, und auch das informative Nachwort zur Neuauflage seines Erstlingsromans ist es, das die selbstkritische Äußerung zitiert. Man mag ihr nicht gleich widersprechen, denn die Handlung des Romans ist an den Haaren herbeigezogen, das Happy End unglaubwürdig und der Stil so unreif, dass es wehtut. "In einer Familie" entstand 1892 bis 1893. Der damals Einundzwanzigjährige wollte den Altersstil Goethes kopieren. Er hatte die "Wahlverwandtschaften" gelesen, zu seinem Unglück, denn Goethes diskrete Vornehmheit missrät ihm zu gequälter Umständlichkeit, und das Lapidare der tiefen Leidenschaft verwässert er zu endlos psychologisierender Rhetorik.
"Der innere Anlass wird auch gefehlt haben. Nur der Beschluss zu schreiben war da." Auch das stimmt. Der Roman ist groß gewollt, aber schlecht gemacht, geredet statt gestaltet. Er setzt einige damals aktuelle Begriffe in Szene - die "Krankheit des Willens", den "Dilettantismus", den "Kampf der Geschlechter". Er hat sie von Paul Bourget, dem konservativen Analytiker und Gegner der Décadence - ihm ist "In einer Familie" gewidmet. Wie Bourget sucht der junge Heinrich Mann einen Weg aus der haltlosen Nervosität des modernen Gefühlslebens hinein in naive Gesundheit, aus der Willenslähmung in geradeausblickende Entschiedenheit, aus dem Geschlechterkampf in die Keuschheit schöner Seelen und aus der überreizten Reflexion in die Einfalt des Glaubens.
Erich Wellkamp, der Held des Romans, hatte sich mit einer sadomasochistischen Beziehung die Seele verdorben und will sich nun reinigen durch die Heirat mit der lauteren Anna von Grubeck. Man zieht ins Haus ihres Vaters, eines alternden Majors, der in zweiter Ehe mit der jungen, unbefriedigten Dora lebt, einer lüstern-hysterischen Femme fatale. Es kommt, wie es kommen muss, das Verdrängte bricht sich Bahn, Dora und Wellkamp finden einander, schänden die schöne Häuslichkeit, liefern sich ihren Begierden immer willenloser aus. "Es dauert nicht lange, bis sie zu ihrer Stillung zu jenen Mitteln griffen, welche eine fleischliche Liebe bis zum Äußeren erniedrigen."
Wer kann da helfen? Der Major nicht - unfähig dazwischenzugehen, weidet er sich voyeuristisch an der eigenen Schande. Wellkamp ebenso wenig - widerstandslos schaut er zu, wie es ihn in den Strudel zieht. Dora schon gar nicht - sie klammert sich an Wellkamp wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm. Es bleibt Anna. Sie ist der weiße Schwan, der mit Kot beworfen wird und doch stets rein aus den Fluten hervortaucht. Sie ist der Engel, der das Triebtier erlöst. Als sie die Sachlage erkennt, verzeiht sie ohne einen Augenblick der Irritation. Kein Schmutz kann sie berühren. Am Ende bekommen die beiden ein Kind, der Major wird Opa, Dora stirbt an seelischer Mattigkeit, und alles ist gut. Der Erzähler, der das Getriebe der Gefühle bei allen anderen Beteiligten so exakt zu vivisezieren vermag, mutet uns Annas Reinheit unerklärt zu. Ihr gilt seine tiefe Sehnsucht, und deshalb versagt vor ihr sein analytisches Instrumentarium völlig.
Das alles heißt nicht, dass dieser Roman die Lektüre nicht lohnte. Es ist immerhin Heinrich Mann, der hier schreibt, und bei allem Respekt vor seinem großen Bruder wollen wir die Essenz nicht missen, die er der deutschen Literatur beigemischt hat. Neben den erwähnten Schwächen hat "In einer Familie" große Stärken. Die Psychoanalyse ichschwacher Neurastheniker hat etwa bis heute Gültiges. Die subtilen Verunsicherungen, die von einem Blick und seiner gemutmaßten Bedeutung, einer Stirnfalte, einem Herabziehen des Mundwinkels ausgehen können, werden mit Schärfe festgehalten. Die Behendigkeit, mit der Wellkamp, Dora oder der Major die seelischen Standpunkte wechseln, ist so modern wie das Gefängnis des Narzissmus, in dem sie zwischen Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung taumeln. Wenn der Sozialkritiker Heinrich Mann fünfzig Jahre nach seinem Tod ein wenig démodé erscheint, so ist der Dekadenzanalytiker doch eine Entdeckung wert. Die Labilen, Würdelosen und Nervenschwachen, die Süchtigen, die Spieler und die Kopisten, die Kranken, Reichen und vom Übermaß der Genüsse Abgestumpften - sie sind seit damals nicht weniger, sondern eher mehr geworden. Die Gemeinsamkeit der Dekadenz ist es ja, was uns mit der vorigen Jahrhundertwende am tiefsten verbindet.
Heinrich Mann hat einen langen Weg durchmessen. Suchte er in seiner Bourget-Phase das Heilmittel gegen die Müdigkeit der Moderne noch in Reinheit und Religion, so entlarvte er später mit Nietzsche diese Heilmittel als Teil der Krankheit, um noch später die Wurzeln des Problems im Sozialen zu finden. Wellkamp, Dora, der Major: Sie alle sind Müßiggänger mit ererbten Vermögen. Nie sieht man sie arbeiten. Sie kennen keine Ziele als den Kult des Ich. Ihre drohnenhafte Nutz- und Verantwortungslosigkeit ist die Ursache ihres seelischen Siechtums. Sie leben "in einem Goldfischglas", abgeschieden von Hochöfen, Ackerbau, Laborgestank und Proletarierelend.
Auch die "Reinheit" als Ideal verblasst später, zugunsten eines illusionslosen Verhältnisses zum Geschlechtlichen. Das Sexuelle sei eine grauenhaft einfache Angelegenheit, entgegnet Heinrich Mann seinem Bruder Thomas, als dieser sich von der fleischlichen Direktheit angewidert zeigt und Sublimierung verlangt. Heinrich lehnt ab. Gegen jede Idealisierung setzt er den Fatalismus der Leidenschaft. Er gestaltet das Ausleben der Lüste, aber es ist vermischt mit einer Art Trauer über das Ausgeliefertsein an den Trieb. Diesen erkennt er immer mehr als eine soziologische, nicht nur biologische Gegebenheit. Von Erich Wellkamp führt eine Linie zu Professor Unrat und zu Dietrich Heßling (im "Untertan"), deren sadomasochistische Sexualität mit ihrem Willen zur Macht koaliert und schließlich aus dem Geist der Décadence den Faschismus gebiert. Diesen aber wird Heinrich Mann als eine Krankheit erkennen, die nicht mehr durch reine Mädchen geheilt werden kann.
Wer noch nie etwas von Heinrich Mann gelesen hat, sollte vielleicht nicht mit diesem Buch beginnen. Wer aber die späteren Werke kennt, für den bietet der Roman eine Möglichkeit, die Motive des Anfangs kennen zu lernen, die den Lübecker Senatorsohn umtrieben, der keine rechte Ausbildung hatte, gerade erst seinen Vater verloren hatte, ziellos in Italien und der Schweiz herumschweifte und offenkundig seine Aufgabe und Bestimmung noch nicht gefunden hatte. Über das stilistische Ungeschick des jungen Mannes muss man hinwegsehen. Oder sich von ihm rühren lassen. Stilistische Perfektion kann Versteck, ja Verrat sein. Aus falschen Worten aber spricht oft echtes Leid.
HERMANN KURZKE
Heinrich Mann: "In einer Familie". Roman. Mit einem Nachwort von Klaus Schröter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 320 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH